p.machinery (2024)
Reihe: AndroSF 195
Paperback, 260 Seiten, 18,90 EUR
ISBN 978-3957653956
Genre: Kosmischer Horror / historischer Horror
Klappentext
Schon seit Urzeiten bedrohen die Alten Götter und andere mächtige Wesen aus anderen Dimensionen die Erde und ihre Bewohner. Sie wollen diese Welt zerschlagen, die Kontinente bersten lassen, das Leben verbrennen …
Habt ihr euch jemals gefragt, was passieren würde, wenn die Alten Götter aus H. P. Lovecrafts Universum auf mutige Menschen der Antike, des Mittelalters oder gar der Steinzeit treffen würden? Ägypter, Germanen, Inkas, Kelten, Römer, Wikinger?
Vierzehn Autorinnen und Autoren betreten historische Universen vom Anbeginn der Menschheit bis zur Neuzeit, und schildern diesen Kampf gegen grausame Gegner aus Raum und Zeit.
Rezension
Nach Biomechanomicon und Necrosteam ist mit Chrononomicon die dritte Cthulhu-Anthologie von Herausgeber Detlef Klewer erschienen, die sich dieses Mal dem kosmischen Grauen der ferneren Vergangenheit widmet und die Spuren der Großen Alten von der Steinzeit bis in die frühe Neuzeit verfolgt. Vierzehn Geschichten erzählen von erschreckenden Ereignissen auf unterschiedlichen Kontinenten und führen unter anderem zu den Maya, den Azteken, ins alte Ägypten, in den nahen Osten, nach Japan, zu einer Kolonie in der Neuen Welt, auf hohe See zu den Wikingern und ins christliche Europa, wo Mönche dunklen Kulten nachgehen. Chrononomicon begeistert mit viel Abwechslung, jede Story bietet ein neues Setting, das oftmals herrlich schaurig und beklemmend umgesetzt wurde. Die Autor*innen erzählen von bekannten Schrecken aus dem Mythos und orientieren sich stilistisch an Lovecraft. Entsprechend beginnen die Geschichten oft mit unheimlichen Begebenheiten, für die es harmlose Erklärungen geben könnte, doch mit jeder Seitenzahl steigert sich das Unwohlsein und die Anwesenheit der Großen Alten wird zur verstörenden Gewissheit.
Wer die beiden anderen Cthulhu-Anthologien gelesen hat, wird einige bekannte Namen entdecken. Hinzu kommen mehrere neue Autor*innen, die den Mythos mit ihren Schreckensvisionen erweitern. Manchmal können die menschlichen Protagonist*innen den Großen Alten und deren Kreaturen etwas entgegensetzen, oft scheitern sie jedoch auch im Kampf gegen den kosmischen Horror. So bleiben die Geschichten spannend, denn man weiß nie, ob die Menschen etwas ausrichten können oder nicht, ob sie den Kampf gegen die Großen Alten aufnehmen, ob sie die Flucht ergreifen und gar deren bösen Einflüsterungen erliegen und dem Wahnsinn verfallen.
Die Geschichten sind chronologisch angeordnet und beziehen sich überwiegend auf reale alte Kulturen und Orte. Auch wenn manches fremdartig und erfunden klingt, lohnt es sich, im Internet zu recherchieren und spannende historische Details zu entdecken. Viele der Beiträge basieren auf realen Ereignissen, realen Orten oder historischen Überlieferungen. Für die, die den Mythos kennen, sei gesagt: Nyarlathotep und Azathoth begegnen uns in mehreren Geschichten, ebenso wie unterschiedliche Meereswesen/Fischmenschen. Daneben begegnet man auch weniger prominenten und neuen kosmischen Entitäten, die ebenso grauenerregend sind. Auch so manche Anspielung auf den Mythos lässt sich entdecken - Vorkenntnisse sind jedoch nicht nötig, um die Geschichten zu genießen. Auch wer Lovecraft und den Cthulhu-Mythos nicht kennt, wird das Grauen spüren und nach der Lektüre vermutlich mehr davon lesen wollen.
Für alle, die mehr darüber wissen wollen, was sie in den Geschichten konkret erwartet, wird nun auf die einzelnen Beiträge näher eingegangen:
Manuel Otto Bendrin eröffnet die Anthologie mit "Meister, der nicht ist" und erzählt vom Kampf gegen grauenerregende Kreaturen, die das steinzeitliche Talianki überfallen (einer Siedlung der Cucuteni-Tripolje-Kultur in der heutigen Ukraine). Während sich Krieger Kahuul den Monstermassen im Kampf stellt, beschwört Priesterin Nabraziti einen Alten Gott, um ihn und seine Kreaturen zu vernichten. Das Grauen in dieser Geschichte zieht schnell wie ein Gewitter auf und lässt einen Regen aus Wahnsinn und Blut über Talianki niedergehen. Schade, dass sich der Autor keine Zeit genommen hat, um Einblicke in den Alltag der steinzeitlichen Kultur zu gewähren, sondern nach einer sehr kurzen Einführung schnell mit dem Gemetzel beginnt.
Wie zu erwarten (und erhofft), entführt uns Roxane Bicker wieder einmal ins alte Ägypten. "Tor zur Ewigkeit" ist eines der dunklen Highlights dieser Anthologie und erzählt von den Medjay, Elitekriegern, die den Pharao unterstützen und für Ordnung sorgen. Medjay Nesra bekommt es mit Grabräubern zu tun, nicht ahnend, welches Grauen in einem der Gräber lauert. Roxane Bicker gelingt es auf wenigen Seiten spannende Einblicke in die altägyptische Kultur und das Leben der Medjay zu geben und überzeugt mit einprägsamen Figuren, über die man gerne noch mehr gelesen hätte. Auch eignet sich das Setting im alten Ägypten perfekt für das Grauen des Mythos.
Mit "Engel" von David Grade geht es in den Nahen Osten, wo der Protagonist mit seiner Familie unter Hunger leidet. Eine schreckliche Dürre hat längst alles dahingerafft. Wahnsinnig vor Hunger zieht der Protagonist los, um einen Eremiten zu finden und wird Teil einer Gemeinschaft, die über die Wüste wacht, in die Gott jene hinabstürzt, die dem Flüstern der Großen Alten zu lange zugehört haben. Der Protagonist vergisst seinen Namen und wird zu einem Werkzeug Gottes. Eine sehr atmosphärische, verstörende Geschichte, bei der sich am Ende ein Kreis schließt und über die man lange nachdenken kann.
"Das Gold von Kaschtammu" von Leif Inselmann erzählt von Fischmenschen. Babylon vermutet, dass die Meerländer einen Krieg vorbereiten und schickt Napsi-Addu aus, der herausfinden soll, woher das Gold stammt, mit dem die Meerländer Soldaten bezahlen. Getarnt als Händler reist er mit einer Delegation nach Kaschtammu, wo die Menschen einem unheimlichen Kult nachgehen und wo Napsi-Addu Zeuge der grauenerregenden Vereinigung von Menschen und Fischwesen wird. Die Geschichte überzeugt mit ihrer düsteren, modrigen Atmosphäre und der langsamen Enthüllung des Grauens.
Jelena Moesus widmet sich in "Rex Rerum Omnium" dem römischen Kaiser Nero und erzählt eine andere Version der brennenden Stadt. Der Dichter Lucanus ist mit dem Kaiser befreundet und berichtet ihm von Gerüchten über Menschenopfer. Nero nimmt ihn zunächst nicht ernst, doch Lucanus ist überzeugt, dass in Rom etwas nicht stimmt und geht den Gerüchten nach - und wird Zeuge der Beschwörung des Dämonensultans Azathoth, der Chaos über Rom bringt. Das Grauen geht in der Auflösung leider verloren, dafür gibt es eine gelungene Wendung und einen Seitenhieb gegen die römische Dekadenz.
Bereits in Necrosteam hatte sich Regine D. Ritter eher kurz gefasst, so auch hier in ihrer Geschichte "Metamorphosen". Auch hier geht es um einen Dichter - und um eine mysteriöse Frau, die Männer in Kröten verwandelt. Dieses Mal überzeugt die Autorin in der Kürze leider nicht, es mangelt an Atmosphäre und Finsternis.
Sandra Volterra bringt in "Das Ende ist erst der Anfang" das legendäre Necronomicon ins Spiel und lässt die Protagonistin eine wahrlich grauenerregende Geschichte aus dem Reich der Maya lesen. Diese wird aus zwei Perspektiven erzählt: der eines Herrschers, eines kosmischen Wesens, das in einer Pyramide lebt und nachts als dunkler Schatten durch die Stadt streift und Opfer fordert - und der eines Kindes, das sich aus Unwissenheit mit der unermässlich alten, finsteren Kreatur anfreundet. Als das Kind begreift, was der Herrscher ist und was er seinem Volk antut, beschließt es, ihn zu vernichten. Eine komplexe und beklemmende Horrorgeschichte, deren Grauen nach ihrem Ende weiterexistiert.
"Aus Furcht und Finsternis geboren" ist das Wesen, das die Besatzung eines kleinen Wikingerschiffs in den Wahnsinn stürzt. Aslaug spürt zuerst den unheilvollen Schatten, der in der Tiefe lauert, und als das Wetter plötzlich in einen schrecklichen Sturm umschlägt, ahnt sie, welch finstere Kreatur sich aus dem Meer erheben wird. Auch ein mysteriöser Fremder weiß um den Schatten und Aslaug erkennt, dass sie diesen Mann besser niemals an Bord gelassen hätten. Anna Eichenbach steigert das Grauen mit jeder Seite und inszeniert die unheilvolle Fahrt des Wikingerschiffes mit viel Atmosphäre.
In einer Cthulhu-Anthologie darf Ivan Ertlov nicht fehlen. In "Unter der Moldau" muss sich der gealterte böhmischer Ritter Vladan einer finsteren Kreatur, die unter der Moldau haust, stellen. Diese hat ein junges Paar ermordet und die Leichen grausam entstellt zurückgelassen. Vladan sträubt sich, in seinem Alter auf Monsterjagd zu gehen, doch sein König erlaubt ihm, seine Mitstreiter frei zu wählen. Vladan überzeugt die mysteriöse Evadne, ihm zu helfen, eine unermesslich alte Frau, die noch immer jung aussieht und die weiß, welcher Schrecken auf sie wartet. In dieser Geschichte sind die Figuren dem Grauen nicht ganz so schutzlos ausgeliegert wie in manch anderer Geschichte und gehen entschieden gegen die bösartige Kreatur vor. Die Action mindert allerdings das Grauen.
Lisa-Katharina Hensel überzieht in "Götterwind" Japan mit Finsternis. Krieger Tsuyoshi blickt auf das Meer hinaus und erwartet die Ankunft der Mongolen, die in seine Heimat einfallen wollen. Ihn erwartet eine grausame, blutige Schlacht, die für sein Volk den Untergang bedeuten könnte. Um seine Familie zu retten, geht Tsuyoshi einen Pakt mit einem kosmischen Wesen ein, den er bald bereut. Eine chaotische, blutige Geschichte, die die historische Mongoleninvasion mit dem Mythos verknüpft und dabei leider nur wenig vom historischen Japan zeigt.
In "Condenação - Verdammnis" erzählt Christ Schlicht von unheimlichen Vorgängen in der Ordensburg der Christusritter in Tomar im historischen Portugal. Ein Mönch soll diesen nachgehen und erlebt Verstörendes auf der Burg, der nachgesagt wird, dass dort noch immer die Templer geheimen Kulten nachgehen. Was sich in der Burg verbirgt, ist weitaus schlimmer als das Treiben der Templer. Die Autorin erzählt aus der Perspektive des alten Mönchs, der aus seiner Vergangenheit erzählt und quasi eine Beichte ablegt, denn er hat seinen Teil zum Erwachen des Grauens beigetragen.
Florian Krenn widmet sich in "Das Tempelfest" dem Gründungsmythos des Aztekenreichs, wobei die Azteken sich hier mit einer finsteren, kosmischen Macht verbünden - einem dunklen Gott, der in einem Berg lebt. Dieser flüstert dem kriegerischen Volk seinen Wahnsinn ein und treibt es zu ungeheuerlichen Taten. Eine wahrhaft schaurige, morbide Geschichte, die auf einer ebenso morbiden Überlieferung basiert.
Wie der Titel "Briefe aus Roanoke" vermuten lässt, berichtet M. W. Ludwig in Form von Briefen von schrecklichen Sirenen, die in der Neuen Welt Siedler verführen und in den Wahnsinn stürzen. Der Protagonist trägt passenderweise den Namen Lovecraft und ist ein junger Mann, der von seinem Vater auf eine unheilvolle Mission in die Neue Welt geschickt wurde, um aus ihm einen "richtigen Mann" zu machen. Doch Lovecraft hält an seiner Liebe zu Will fest und schreibt diesem Briefe, deren Inhalt immer verstörender wird. Eine schaurige Geschichte, die den Mythos perfekt ergänzt.
Auch in "Der verschwundene Kavalier" erzählt ein Mönch. Dieser ist im 17. Jahrhundert als Lehrer für junge Adlige tätig und hat eine besondere, väterliche Beziehung zur Erbprinzessin von Braunschweig-Lüneburg, Sophie Dorothea von Celle, die eine politische Heirat ins Unglück stürzt. Mit ihrer ersten und einzigen Liebe hatte sie eine Affäre, doch nun ist der Mann verschwunden und der Mönch soll ihn auf ihrem Schloss finden. Dort findet er eine höchst beklemmende Stimmung vor, einen Kurfürsten, der unter dem Bann seiner Mätresse steht und keine Spur von Sophie oder ihrem Geliebten. Und tief unter dem Schloss verbirgt sich etwas Dunkles, abgrundtief Böses. Paul Sanker hat mit dem Schloss und seinen vielen dunklen Ecken ein spannendes, düsteres Setting, doch die Figuren bleiben leider blass.
Wie bereits in den Vorgängeranthologien gibt es zu jeder Story eine farbig gedruckte Illustration von Herausgeber Detlef Klewer, der dieses Mal leider nichts Literarisches beigesteuert hat. Die Illustrationen passen jeweils sehr gut zu den jeweiligen Beiträgen und stimmen auf das folgende Grauen ein. Schade, dass auch Chrononomicon nur als Taschenbuch erhältlich ist. Trotzdem ist es ein schönes Sammlerstück für alle, die phantastische Kurzgeschichten lieben. Die Vitae der Autor*innen finden sich wieder am Ende der Anthologie, alphabetisch sortiert.
Fazit
Chrononomicon erzählt in vierzehn finsteren Geschichten vom Grauen kosmischer Entitäten, die von der Steinzeit bis in die frühe Neuzeit verstörende Spuren in der Geschichte der Menschheit hinterlassen. Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen werden in die dunklen Machenschaften der Großen Alten und ihrer abscheulichen Kreaturen verstrickt, werden in den Wahnsinn und zu schrecklichen Taten getrieben. Die Mehrheit der Geschichten überzeugt mit sich langsam entfaltendem, verstörendem Grauen, während es nur wenigen Beiträgen an Atmosphäre mangelt. Detlef Klewer hat wieder einmal eine sehr gute Auswahl getroffen und bereichert den Mythos mit einer weiteren gelungenen Horror-Anthologie.
Pro & Contra
+ kosmischer Horror von der Steinzeit bis in die frühe Neuzeit
+ durch unterschiedlichste Settings sehr abwechslungsreich
+ Inspiration aus realen Ereignissen, Kulturen, Orten oder Überlieferungen
+ sehr unterschiedliche Protagonist*innen
+ "Tor zur Ewigkeit", "Das Ende ist erst der Anfang" und "Briefe aus Roanoke"
+ nicht alle Protagonist*innen überleben die Begegnung mit den Großen Alten
+ überwiegend gute und sehr gute Geschichte
+ zu jeder Geschichte gibt es eine düstere Illustration - in Farbe!
- einzelnen Geschichten mangelt es an Atmosphäre
- manchmal blasse Figuren
Wertung:
Geschichten: 4/5
Auswahl: 4/5
Gestaltung: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5
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