Zara Zerbe (07.08.2024)

Interview mit Zara Zerbe

zara zerbe 20241Literatopia: Hallo, Zara! Kürzlich wurde Dein Debütroman „Phytopia Plus“ mit dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet. Wie hast Du erfahren, dass Dein Buch nominiert ist bzw. gewonnen hat? Und hättest Du gedacht, dass Dein Debüt so gut ankommt?

Zara Zerbe: Der Phantastikpreis hat ja netterweise eine Longlist- und Shortlist-Vorauswahl-Runde, das heißt, ich war nicht völlig unvorbereitet. Als die Stadt Wetzlar dann tatsächlich angerufen hat, um mir die Entscheidung der Jury mitzuteilen, war ich im Urlaub in Schweden und wollte gerade los zu einer Wanderung. Das ist auf jeden Fall verbucht als „mein schönstes Ferienerlebnis“! Ich finde es gar nicht so einfach einzuschätzen, welche Resonanz ein Text bzw. ein Roman so bekommen wird, deswegen freut es mich umso mehr – vor allem, weil z.B. Walter Moers und Cornelia Funke diesen Preis auch schon bekommen haben.

Literatopia: Was erwartet die Leser*innen im Hamburg der 2040er? Wie hat die eskalierende Klimakrise die Stadt verändert?

Zara Zerbe: Im zukünftigen Hamburg erwartet uns einiges, was sich bei der klimatischen Lage schon heute abzeichnet: Überschwemmungen und brütende Hitze. Und dazu eine absolut nicht inklusive Wohnungsbaupolitik: Wer es sich leisten kann, lebt in Gated Communities mit eigener Infrastruktur (eigene Biosupermärkte etc.) auf dem nördlichen Elbufer. Für alle anderen bleiben nur baufällige und durch die Hochwasser gefährdete Wohnungen in den Quartieren südlich der Elbe. Durch Ernteausfälle gibt es Lieferengpässe in den Supermärkten, die sich hier deutlich stärker bemerkbar machen als im Norden. Aber: Die S-Bahn zur Drosera AG, wo die meisten Bewohner*innen aus Hamburgs Süden arbeiten, ist immer pünktlich.

Literatopia: In „Phytopia Plus“ soll es möglich sein, menschliches Bewusstsein in pflanzlicher DNA zu speichern. Wie funktioniert das? Und warum tun Menschen das? Pflanzen sind doch ebenfalls vergänglich?

Zara Zerbe: Das funktioniert (ungefähr) so, dass das Bewusstsein – also Gedanken, Erleben und Erinnerungen – in digitale Daten umgewandelt und diese dann an die DNA-Doppelstränge von Pflanzen angedockt werden. In der Realität sind wir von der Möglichkeit, das menschlichen Bewusstsein zu digitalisieren, noch ziemlich weit entfernt, aber zu künstlicher und pflanzlicher DNA als Speichermedium für digitale Daten gibt es durchaus spannende Forschung. Allerdings sind die Verfahren noch recht umständlich und daher recht teuer, aber wer weiß, vielleicht setzt sich das tatsächlich eines Tages durch? 

Ich habe mir beim Schreiben die Möglichkeit, sich auf einer Pflanze zu speichern, so ähnlich wie den Ansatz „Wenn die Erde zerstört wird, ziehen wir halt auf den Mars um“ gedacht. Klar könnte man so etwas anstreben, aber wäre es nicht naheliegender, den Planeten NICHT zu zerstören, auf dem wir jetzt schon leben? Das Pflanzenspeicherprogramm „Phytopia Plus“ wird im Roman als eine Mischung aus Nachlassverwaltung, Unsterblichkeits- und Überlebensversprechen vermarktet für den Fall, dass die Menschheit die Klimakrise zumindest in einem humanoiden Organismus nicht überleben kann. Da wollte ich gerne die Frage stellen, die z.B. bei dem Christian-Lindnerismus „Wir werden für die Klimakrise irgendwann eine technische Lösung finden“ nicht mitgedacht wird: Wer kann sich denn Unsterblichkeit, oder ein Überleben unter den Bedingungen, wie wir sie jetzt schon vorfinden, überhaupt leisten?

Bei den Pflanzen bin ich übrigens gelandet, weil sie natürlich vergänglich sind. Haben wir nicht alle die eine oder andere Zimmerpflanze auf dem Gewissen? Gleichzeitig finden sie mitunter spektakuläre Wege, unter den widrigsten Umständen zu wachsen, solange Licht und Wasser irgendwie verfügbar sind. Das finde ich schon beeindruckend.

Literatopia: Im Roman finden sich immer wieder kleine Abschnitte mit Pflanzendialogen – worüber unterhalten sich die Pflanzen? Und was halten sie von den Menschen?

Zara Zerbe: Die Pflanzen haben hier so eine ähnliche Funktion wie der Chor im antiken Theater, der die Handlung beobachtet, reflektiert und manchmal auch eine moralische Instanz darstellt. Ich fand es ganz spannend (und wirklich spaßig zu schreiben!), dadurch auch eine pflanzliche Perspektive erzählen zu können. Die Menschen finden Sie ganz okay, denke ich – die bringen ja mitunter wichtige Nährstoffe für Photosynthese mit –, aber weil die Pflanzen einfach mit dem arbeiten, was für sie verfügbar ist, sind die Menschen keineswegs der Mittelpunkt ihrer Existenz.

phytopia plusLiteratopia: Stell uns Deine Protagonistin Aylin kurz vor: Was ist sie für ein Mensch? Wie (über-)lebt sie inmitten der Klimakrise? Und was wünscht sie sich für die Zukunft?

Zara Zerbe: Aylin hat eigentlich ziemlich viel Potenzial: Sie ist klug, wissbegierig (vor allem, was botanische Themen betrifft) und pragmatisch. Sie ist ein bisschen eigenbrötlerisch und von Menschen schnell genervt, aber kann sich dafür sehr für Pflanzen begeistern. Eigentlich hätte sie gern studiert, aber aus Mangel an finanziellen Ressourcen hält sie sich seit dem Abi immer mit einem oder mehreren Jobs oder Tauschgeschäften – Pflanzenstecklinge gegen frisches Gemüse aus den Biosupermärkten in den Gated Communities – über Wasser. Man könnte sagen: Sie wurstelt sich so durch, auch in der Klimakrise. Ihr aktueller Job als Aushilfsgärtnerin in den Gewächshäusern der Drosera AG kommt ihrer Leidenschaft für Pflanzen immerhin sehr entgegen. Ihre größte Priorität ist allerdings ihr Großvater, zu dem sie eine enge Verbindung hat und um den sie sich als Einzige in der Familie kümmert. Sie würde sich für die Zukunft wünschen, dass sie ihn auf einer der Speicherpflanzen bei ihrem Arbeitgeber verewigen kann, schließlich gibt es sogar Rabatte für Mitarbeiter*innen und Angehörige. Trotzdem benötigt sie dafür eine Menge Geld, und wie man im Roman liest, führt ihre lösungsorientierte Art sie nicht immer auf völlständig legale Wege.

Literatopia: „Phytopia Plus“ widmet sich insbesondere sozialen Unterschieden. Wie schützen sich die Reichen vor den Auswirkungen der Klimakrise?

Zara Zerbe: Mit Geld! Beziehungsweise dem, was man damit bezahlen kann: Gut isolierte, hochwassergeschützte Wohnungen in abgeschotteten Vierteln, wärmeabweisende Kleidung – fast ein bisschen wie Prepper.

Literatopia: Während Menschen für hunderttausende Euro in Pflanzen weiterexistieren wollen, erhält Aylin gerade einmal Mindestlohn und kann frisches Obst und Gemüse nur illegal beschaffen. Sehen wir in „Phytopia Plus“ die Fortschreibung aktueller Entwicklungen?

Zara Zerbe: Ich kann natürlich nicht in die Zukunft schauen, aber wenn ich mir allein schon diese unsäglichen Debatten über das Bürgergeld anschaue, wo dann vor allem aus CDU und FDP mit dem völlig realitätsfernen Bild von „100.000 Bürgergeldempfängern, die einfach nur auf der faulen Haut liegen und den Staat ausnehmen“ argumentiert wird, bin ich nicht so zuversichtlich, dass sich in den kommenden Jahrzehnten etwas in der Sozialpolitik verbessern wird. Gleichzeitig gab es ja kürzlich diese Story um den unheilbar erkrankten Tech-Unternehmer, der nach seinem Tod als KI weiterleben wird. Das Start-up, dessen erster Kunde er war, wirbt damit, dass durch das Verfahren alles für die Nachwelt erhalten bleibt, was eine Person ausmacht. Der Kostenpunkt liegt bei mehreren 1000 Dollar plus eine jährliche Gebühr von 500 Dollar. Also: Unsterblichkeit ist möglich, du musst nur reich genug sein. Allgemein habe ich den Eindruck, dass bei technischen Lösungen, ob für die Klimakrise oder andere Herausforderungen, viel zu selten soziale Fragen mitgedacht werden.

Literatopia: Würdest Du sagen, die Klimakrise ist vor allem auch eine soziale Krise? Könnten wir die schlimmsten Folgen abmildern/verhindern, wenn wir die soziale Spaltung überwinden würden?

Zara Zerbe: Ja, auf jeden Fall eine soziale Krise – sie betrifft ja jetzt schon weltweit hauptsächlich die ärmeren Teile dieses Planeten und wird durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen zu noch viel mehr Armut führen. Das ist ziemlich ungünstig, weil das Geschäftsmodell von Kapitalismus ja ebenfalls ist, dass die Reichen durch die Ausbeutung von weniger privilegierten Menschen immer reicher und alle anderen immer ärmer werden. Die schlimmsten Folgen der Klimakrise könnte man wohl am ehesten noch mit der Abschaffung des Kapitalismus in seiner jetzigen Form abmildern.

Literatopia: Was fasziniert Dich persönlich an Science Fiction, insbesondere Near Future SF?

Zara Zerbe: Ehrlich gesagt wusste ich, bis ich meinen Roman fertig geschrieben hatte, gar nicht, dass es das Genre „Near Future Science Fiction“ gibt (obwohl ich durchaus ein paar Bücher gelesen habe, die man da wohl einordnen könnte). Ich mag an Science Fiction sehr, dass es ja eigentlich Gegenwartsliteratur ist, weil da eigentlich immer gesellschaftliche Themen bearbeitet werden – nur halt in viel spannenderen Settings. Das hat beim Schreiben mehr künstlerische Bedürfnisse abgedeckt, als ich erwartet hätte: Man kann sich gesellschaftliche Entwicklungen und philosophische Themen anschauen UND sich coole Gimmicks ausdenken. Damit hätte ich viel früher anfangen sollen!

zara zerbe 20242Literatopia: Auch Deine Novelle „Das Orakel von Bad Meisenfeld“ wurde ausgezeichnet und zwar mit dem Kunstförderpreis des Landes Schleswig-Holstein und ist inzwischen in der 3. Auflage erschienen. Als Beschreibung findet man auf der Verlagsseite keinen klassischen Klappentext, sondern Stichworte wie „Tarotkarten und die sogenannte Zukunft“, „Taugenichtsfiguren, die keine Männer Anfang/Mitte 20 sind, sondern Frauen, die sich dem Verwertungskreislauf entziehen“ und „Diese sehr unangenehme Phase um die Männer-Fußball-WM 2006 herum“. Wie passt das zusammen?

Zara Zerbe: Ich neige dazu, sehr viele Themen in Erzählungen hereinzustopfen. Allerdings geht es in Bad Meisenfeld darum, wie wir als Individuum zwangsläufig immer in alle möglichen (globalen) Zusammenhänge verstrickt sind und auch Phänomene, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, sich dennoch auf Umwegen beeinflussen. Ich würde auf jeden Fall behaupten: Wenn man die Novelle gelesen hat, ergibt der Klappentext auf jeden Fall einen Sinn. In erster Linie fand allerdings meine Lektorin diese Liste, die ich einmal für einen Werkstattbericht über den Text geschrieben habe (für diesen Tagungsband: https://www.verbrecherverlag.de/shop/literatur-und-oekologische-praxis/), so lustig, dass das der Klappentext geworden ist.

Literatopia: Du bist Mitherausgeberin des Literaturmagazins „Der Schnipsel“. Wie bist Du dazu gekommen? Und wie viel Arbeit steckt im Sichten der eingesendeten Geschichten?

Zara Zerbe: Ich hab damals im Studium von der Existenz von Literaturzeitschriften erfahren und direkt meine neu gefundenen Schreibfreunde dazu angestiftet habe, dass wir gemeinsam eine gründen. Das war erstaunlich schnell gemacht – ein paar Texte von Freund*innen eingesammelt, ausgedruckt, mit der Nähmaschine zusammengenäht, fertig. Ich hätte gar nicht gedacht, dass wir mittlerweile über 100 Einsendungen pro Ausgabe kriegen, was in der Tat relativ viel Lesearbeit ist. Aber es ist jedes Mal interessant und bereichernd!

Literatopia: Gemeinsam mit Hatice Acikgöz, Dara Brexendorf und Maline Kotetzki hast Du den Podcast „Literarisch, Solidarisch“ gestartet – dem Titel nach zu urteilen, soll es um Zusammenhalt in der Literaturszene gehen? Würdest Du uns mehr darüber erzählen?

Zara Zerbe: Die Idee hatte eigentlich Hatice, aber weil ich schon immer Lust auf einen Podcast hatte, war ich sofort dabei. Wir sprechen in den Folgen immer mit anderen Autor*innen über den Literaturbetrieb oder über nicht-literarische Themen, die uns bei unserer schriftstellerischen Arbeit beeinflussen, zum Beispiel Geld, Neid und Konkurrenz, aber zum Beispiel auch über Social Media oder Literaturagenturen. Das ist immer sehr erkenntnisreich, weil es so viele Themen gibt, mit denen man sich als Autor*in früher oder später auseinandersetzen wird, aber die man gar nicht so einfach googlen kann. Die bearbeiten wir, indem wir solidarisch miteinander darüber sprechen.

Literatopia: Wie findest Du bei so vielen literarischen Tätigkeiten eigentlich noch Zeit zum Schreiben? Wann schreibst Du am liebsten? Und wie organisierst Du Dich, um den Überblick über Figuren etc. zu behalten?

das orakel von bad meisenfeldZara Zerbe: Ich mache den Podcast und die Zeitschrift ja mit Menschen zusammen, und wenn man sich alles gut aufteilt, bleibt auf jeden Fall genug Zeit zum Schreiben. Ich persönlich habe es am liebsten, wenn Schreiben wie ein Bürojob läuft – ich komme nach Frühstück und Hunderunde ins Büro und erledige da einfach, was ansteht: Kapitel zu ende schreiben, diese Stelle nochmal überarbeiten, für Problem XY eine Lösung finden, diese eine Sache recherchieren etc.. Allerdings finde ich manchmal eine Spätschicht nach Sonnenuntergang ganz schön. Um mich zu organisieren, benutze ich eigentlich alles, was irgendwie erreichbar ist – ich hatte bei meinem Roman zwei riesige Plotting-Poster, hatte aber auch digitale Post-Its im Schreibprogramm, in meiner Handynotizen-App liegt auch einiges. Ohne Post-its läuft jedenfalls nichts!

Literatopia: Bist Du über Dein Studium von Literatur- und Medienwissenschaften zum Schreiben gekommen oder hast Du schon davor eigene Texte verfasst? Wie viel ist Laufe der Jahre in Deiner (virtuellen) Schublade verschwunden?

Zara Zerbe: Ich hab eigentlich schon immer gern gelesen und mir selbst Geschichten ausgedacht. In der Grundschule konnten wir als freiwillige Hausaufgabe eine Zeitlang jede Woche eine Geschichte schreiben. Das war die einzige Sache, die ich in meiner Schullaufbahn jemals freiwillig gemacht habe! Als Teenie habe ich dann viel peinliche Emo-Gedichte und so Love Stories geschrieben, die sehr von „Freche Mädchen – Freche Bücher“ beeinflusst waren. Die sind natürlich sowas von in der Schublade verschwunden, alles andere wäre ja richtig peinlich gewesen! Als ich mit der Schule fertig war, wusste ich noch nicht, dass es z.B. in Hildesheim oder Leipzig Studiengänge für Literarisches Schreiben gab, sonst hätte ich mich da bestimmt beworben. Literaturwissenschaften war das, was meinem generellen Interesse am Geschichten erzählen am nächsten kam, deswegen habe ich mich dann dafür entschieden. Das hat sich für Schriftstellerei tatsächlich als ganz hilfreich erwiesen, weil man beim Lesen (finde ich) am meisten über das Schreiben lernt.

Literatopia: Würdest Du uns abschließend verraten, ob Du bereits an einem neuen Roman arbeitest bzw. vielleicht schon einen fertig hast? Was erwartet uns in naher Zukunft von Dir?

Zara Zerbe: Ich habe leider noch keinen zweiten Roman in der Schublade, aber jetzt, wo ich weiß, wie das geht, werde ich natürlich noch ein paar mehr schreiben ;)

Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!


Autorinnenfotos: Copyright by Corinna Haug (oben) und Zara Zerbe (unten)

Website: https://zara-zerbe.com


Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.