Mensch Plus (Frederik Pohl)

pohl mensch plus

Heyne, 2022
Originaltitel: Man Plus (1976)
Übersetzung von Tony Westermayr
Taschenbuch, 346 Seiten
€ 10,00 [D] | € 10,30 [A] | CHF 15,90
ISBN 978-3-453-32178-6

Genre: Science Fiction


Rezension

Die Welt des Kalten Krieges geht vor die Hunde. Nachdem die Menschen mit großer Mehrheit daran interessiert sind zu erfahren, wie ein Mensch auf dem Mars zurechtkommt, und Analysen zeigen, dass Rettung nur möglich ist, wenn ein transhumaner Mensch-Cyborg auf dem Mars überleben kann und ihn für die Kolonisierung vorbereitet, soll der Mars Erde 2 werden. Für die Transformation in einen Cyborg gibt es eine Liste. Den Kandidaten wird erzählt, dass nach der Rückkehr ein Rückbau in den ursprünglichen Menschen vorgenommen werden könne.

Als Will Hartnett, der erste Kandidat, die Modifikationen nicht überlebt, zu denen der Ersatz seiner inneren Organe und der Haut gehört, außerdem die Entfernung aller Körperteile, die für die Marsmission entbehrlich sind, schließlich zwei weitere Kandidaten ausfallen, muss sich Roger Torraway erstmals auf einer nicht-abstrakten Ebene mit dem beschäftigen, was ihn erwartet. An ihm werden bald die gleichen Veränderungen vorgenommen, ihn plagen während der Transformation ständige körperliche Schmerzen, schließlich die Trennung von seiner Frau Dorrie. Aber auf dem Mars soll dann die Belohnung für alles Leid und die Entbehrungen warten.

„Wenn man dies alles mit einem menschlichen Wesen macht, ist das, was dabei herauskommt, eigentlich kein menschliches Wesen mehr.“ (S.46)

Frederik Pohls Man Plus wurde in deutscher Übersetzung erstveröffentlicht bei Goldmann in der Reihe Science Fiction (Band 23266) im Jahr 1977, als Der Plus-Mensch. Bei Heyne folgte 2015 in der Reihe Meisterwerke der Science Fiction eine Publikation als Mensch + und 2022 eine überarbeitete Neuausgabe in eben dieser Reihe als Mensch Plus. Übersetzer ist in allen Fällen Tony Westermayr.

Pohls Charakterisierung bietet mehr mit sich selbst beschäftigte Menschen in relativ oberflächlichen Beziehungen. Er entwickelt eine Art Paarbildungslogik auf satirische Weise und über den Roman verteilt, die wir aus verschiedenen klischierten Kontexten kennen. Offenbar ein zeitloses Thema. Die Beziehungen der Menschen zueinander und die Emotionen haben etwas von emotionalem Katastrophengebiet mit klaren Spielregeln, deren Einhaltung nicht wirklich eine Verbesserung bringt. Eine offene Beziehung zwischen dem Astronauten und seiner Frau ist nur solange zu ertragen, wie bestimmte Regeln eingehalten werden und die Beziehungsbuchhaltung zum Jahresabschluss keine Netto-Schlechterstellung einer Person anzeigt. Ein befreundeter Astronaut ist nur dann als Gast unproblematisch, wenn er mit der Gastgeberin nicht alleine in einem Zimmer ist. Die Menschen in Mensch Plus erwecken nicht nur wenig Vertrauen, sondern auch den Eindruck, sie seien nicht glücklich. Alle Charaktere haben reichlich menschliche Makel, vielleicht bis auf eine Figur. Die klinische Behandlung von Paarbeziehungen erleichtert die Lektüre.

Pervers ist, dass die Rettung der Welt angeblich abhängt von der maximalen Entmenschlichung Torraways im Projekt Mensch Plus und dass dieses neue Wesen, gleichsam Torraways Gehirn in einem ansonsten vollkommen nicht-menschlichen Cyborgkonstrukt, die Hoffnung der Menschheit auf eine bessere Zukunft repräsentiert. Das Projekt wird von anderen Ländern erfolgreich aufgegriffen und bringt der Menschheit das Übliche: Frieden und Wohlstand.

Die Welt in Pohls Roman ist nicht nur die des Kalten Krieges. Sie enthält auch politische und technologische Komponenten einer Parallelwelt. „Kollektivistische Diktaturen“ unter Führung von Russland und China vergrößern ihren Einflussbereich zunehmend, es gibt nur noch rund ein oder zwei freie Länder, wie Schweden und Israel. Moment, denkt die Leserin: Handlungsort sind doch die Vereinigten Staaten von Amerika, gehören die nicht dazu? Nun, New York steht unter Kriegsrecht, Energie und Trinkwasser werden zunehmend knapp, Oklahoma ist sogar Wüstengebiet. Das zehrt enorm an der demokratischen Gesinnung. Präsident Fitz-James Deshatine, genannt Dash, bezeichnet die Welt als Katastrophengebiet.

Pohl erzählt eine in sich grauenhafte Geschichte über eine ebensolche Welt. Dies macht er jedoch humorvoll, mit satirischen und ironischen Anklängen. Erzählt wird eine Zeitlang in der dritten Person Singular von einer allwissenden Instanz in der Vergangenheitsform. Die Instanz weiß von Beginn an alles über das Mars-Projekt. Aber irgendwann erfolgt plötzlich ein Wechsel auf die erste Person Plural, ein „Wir“ erzählt, ohne dass die Leserin wüsste, wer oder was dieses "Wir" sein soll, nur dass es vorher schon erzählt hat. Die Erklärung erfolgt noch später. Die tatsächliche Erzählinstanz ist zugleich eine Kontrollinstanz, vom Menschen in seiner Hybris geschaffen. Sie hat sich weiterentwickelt und vom Menschen emanzipiert. Und die im Schlusskapitel feststellen muss, dass sie zwar in höherem Maße über Macht und Kontrolle verfügt, als der Mensch, dass es aber noch eine weitere Instanz gibt…

Mensch Plus ist natürlich ein Produkt seiner Zeit: Kalter Krieg, Überbevölkerung (beziffert mit 8 Milliarden Menschen), dadurch bedingt zunehmende Erschöpfung natürlicher Ressourcen und wachsende Umweltzerstörung, halt Dinge, die vor 48 Jahren, zur Entstehungszeit des Romans, aktuelle Themen waren. Oder schon vorher, wie es der Club of Rome in seinen Die Grenzen des Wachstums 1972 gezeigt hat, die Pohl gekannt haben könnte oder dürfte. Jedenfalls ist der Kalte Krieg die Bedrohung, die, vor allem in ihrer atomaren Facette, in gruseliger Weise über den Menschen schwingt wie das Pendel von Poe. Wir erleben im Roman den Präsidenten der USA, wie er als Konfliktentschärfer aktiv ist, aber auch, wie Menschen rücksichtslos über andere Menschen verfügen.

„Roger ist jetzt unser einziger unentbehrlicher Mann. Wissen Sie, was mit ihm geschieht? Er war schon achtundzwanzigmal auf dem Operationstisch. Dreizehn Tage! Er hat keine Augen mehr. Weder Lunge noch Herz noch Ohren noch Nase – er hat nicht einmal mehr seine Haut, sie ist weg, immer ein paar Quadratzentimeter auf einmal, ersetzt durch Kunststoff. Bei lebendigem Leib die Haut abgezogen, geschunden – dafür sind Menschen heiliggesprochen worden, und jetzt haben wir einen Mann, dem nicht einmal seine eigene Frau…“ (S.115f.)


Fazit

Mensch Plus ist definitiv einiges mehr als eine Geschichte über die Kolonisierung des Mars und die Transformation des Menschen, damit diese Kolonisierung geschehen kann. Dass die Kolonisierung erfolgreich war, ist schon ganz zu Beginn zu lesen, auch, dass Torraway ein Held ist. Natürlich, was sonst.


Pro und Kontra

+ Transhumanismus in Extremform
+ großartige Inszenierung Künstlicher Intelligenz
+ über die Oberfläche hinausreichende ethische Diskussion ohne didaktische Komponente
+ fragwürdige Wissenschaft
+ komplizierte weltpolitische Situation

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


Rezension zu "Das letzte Theorem"

Rezension zu "Die Gateway-Trilogie"

Tags: Cyberpunk, Kalter Krieg, Frederik Pohl, Technologiefolgen, Cyborg, Transhumanismus