Phytopia Plus (Zara Zerbe)

Verbrecher Verlag (2024)
Hardcover, 272 Seiten, 25,00 EUR
ISBN  978-3957325815

Genre: Near Future / Dystopie / Climate Fiction 


Klappentext

Brütende Hitze, Artensterben, Dürrepreioden, leere Supermarktregale. Nur wer Geld hat, lebt in komfortablen Siedlungen mit Biosupermarkt und könnte die Klimakrise überleben, indem das Bewusstsein digitalisiert auf einer Pflanze gespeichert wird. Der Hamburger Biotech-Konzern Drosera AG bietet dieses Verfahren an. Aylin arbeitet dort als Aushilfsgärtnerin in den Gewächshäusern und tauscht auf dem Schwarzmarkt mit Besserverdiener*innen seltene Zierpflanzen gegen frische Lebensmittel. Als ungewöhnliche Muster auf den Blättern der Speicherpflanzen auftauchen, beginnt sie Profit daraus zu schlagen, um sich ihren Wunsch zu erfüllen, Großvaters Bewusstsein in einer Pflanzen-DNA zu erhalten. 

"Phytopia Plus" ist eine gesellschaftskritische Reflexion einer nicht allzu weit entfernten Zukunft. 


Rezension

Hamburg in den 2040ern: Während Dürren Ernten vernichten, versumpft Hamburg durch häufige Hochwasser. Im Supermarkt sind viele Regale leer und das Geld vieler Menschen reicht nur für synthetische Nahrung. Im Norden leben die Wohlhabenden in Gates Communities mit eigenen, gut gefüllten Biosupermärkten und Sicherheitspersonal. Aylin sieht diese schönen Siedlungen nur von außen, wenn sie sich an den Toren mit Menschen trifft, um Pflanzenstecklinge gegen frische Lebensmittel zu tauschen. Sie arbeitet bei der Drosera AG in den Gewächshäusern für Mindestlohn und kümmert sich um die Pflanzen, auf denen das Bewusstsein reicher Persönlichkeiten gespeichert sein soll. Wie das genau funktioniert, weiß Aylin nicht, aber falls es funktioniert, würde sie gerne ihren Großvater, der immer gebrechlicher wird, speichern lassen. Doch die 350.000 Euro kann sie niemals aufbringen. Als auf den Speicherpflanzen ungewöhnliche und einzigartige Muster auftauchen, schneidet Aylin heimlich Stecklinge ab und verkauft sie im Internet. Sie hofft darauf, so die für sie irrsinnig hohe Summe zusammensparen zu können, aber ihre Diebstähle bringen sie zunehmend in Bedrängnis. Zudem entdeckt sie, dass auf den Pflanzen tatsächlich etwas gespeichert ist ... 

"Phytopia Plus" von Zara Zerbe wurde in diesem Jahr mit dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet und überzeugte die Jury unter anderem damit, "dass (der Roman) mit Mitteln der Phantastik die Problematik von sozialen Unterschieden im Kontext der Sterblichkeit thematisiert". Die Drosera AG bietet scheinbare Unsterblichkeit, wobei man sich unweigerlich fragt, wie das Speichern von menschlichem Bewusstsein überhaupt funktionieren soll - und wie lange eine Pflanze selbst bei bester Pflege lebt. Immerhin soll es Backups geben, aber das ganze Konzept von Phytopia Plus klingt vage und ist ohnehin nur etwas für Menschen, die sehr viel Geld haben. Für Aylins Arbeit spielt es keine Rolle, ob auf den Pflanzen jemand gespeichert ist. Sie erhält ihre Anweisungen von einer KI und versorgt die Pflanzen mit Licht, Wasser und Nährstoffen. Trotz der riesigen Summen, die für Phytopia Plus ausgegeben werden, erhält Aylin nur den Mindestlohn, wobei sich die Drosera AG damit rühmt, diesen überhaupt noch zu zahlen. Denn gesetzlich verpflichtend ist dieser längst nicht mehr. Stattdessen gibt es viele neue Gesetze, die Konzerne schützen und ärmere Menschen noch mehr als heute benachteiligen. Das Einzige, das für Menschen wie Aylin in Hamburg noch gut funktioniert, ist die S-Bahn zur Arbeit. 

"... wir sehen hier alle genauso aus wie die Leute, die südlich der Elbe wohnen. Bei uns geht das noch, wir sind ja noch jung. Aber die Augenringe, die miesen Klamotten, die schlechten Zähne, die haben wir doch alle. Wir sind arm, und das riechen diese Menschen hundert Meter gegen den Wind." (Seite 82)

Zara Zerbe beschäftigt sich in ihrem Roman insbesondere mit sozialer Ungerechtigkeit und zeigt, wie vor allem ärmere Menschen unter der eskalierenden Klimakrise leiden. Ihnen mangelt es an gesunder Nahrung, an gesundheitlicher Versorgung, Wohnraum - also schlicht Geld. Mit ehrlicher Arbeit verdient man nur wenig, viele bessern sich ihr Gehalt auf, indem sie online Sachen verkaufen, oft auch Diebesgut. Aylin bestiehlt ihren Arbeitgeber, was man jedoch gut nachvollziehen kann und sogar als gerecht empfindet, denn ihr Arbeitgeber beutet sie aus und enthält ihr Informationen und Leistungen vor, mit denen sie ihre Lage auf legale Weise verbessern könnte. Dazu ist Aylin eine kluge und empathische junge Frau, die sich sehr um ihren Großvater bemüht und solidarisch mit anderen armen Menschen ist. Diese sind auch solidarisch mit ihr: Aylin lernt Menschen kennen, die regelmäßig in ein schon seit Jahren geschlossenes Einkaufszentrum einbrechen und sich dort immer nur das nehmen, was sie gerade brauchen. Abgelaufene Lebensmittel, die noch essbar sind, oder Gegenstände, die sich online veräußern lassen.  

Während man unter den Armen Solidarität erlebt, blicken viele Reiche auf Menschen wie Aylin herab. Insbesondere ihre Personalchefin macht keinen Hehl aus ihrer Ablehnung und traut ihr aufgrund ihrer Armut nichts zu. Dabei hat Aylin Abitur und arbeitet nur deshalb in miesen Aushilfsjobs, weil sie das Geld dringend benötigt und niemand sie fördert. Als Aylin die Möglichkeit erhält, im Labor zu helfen, bekommt sie dafür nicht mehr Geld und die KI drangsaliert sie, weil sie nicht mehr jeden Tag im Gewächshaus arbeitet. Ihre neuen Kolleg*innen sind freundlich - und privilegiert und damit Teil des Systems, das Aylin benachteiligt. Zara Zerbe beschreibt einfühlsam die Unterschiede und all die alltäglichen Dinge, die es Aylin schwer machen, mitzuhalten und die sie dazu zwingen, in den Schatten zu treten. Denn wie die meisten armen Menschen möchte Aylin nicht, dass man ihr die Armut ansieht und so geht sie beispielsweise mit in die Mensa zum Essen, auch wenn es dort für sie eigentlich zu teuer ist.    

„Aylin hat bereits häufiger beobachtet, wie wohlhabende Menschen mit alltagspraktischen oder handwerklichen Problemen nicht gut zurechtgekommen sind, vor allem, wenn sie sich nicht direkt mit Geld lösen lassen.“ (Seite 162)

Aylins größte Stärke ist ihr Pragmatismus, auch wenn dieser sie in illegale Geschäfte treibt. Doch sie weiß genau, wie sie aus ihrer Situation das Beste machen kann und welche Möglichkeiten sie in ihrer gesellschaftlichen Position hat. Hinzu kommt eine kleine Portion Skrupellosigkeit, immerhin stiehlt sie, doch sie würde niemals anderen böswillig schaden. Eher setzt sie ihre Talente ein, um anderen zu helfen, und ist in ihren Problemlösungen sehr kreativ. So gelingt es ihr, aus wenig viel zu machen. Ihre DIY-Mentalität verleiht dem Roman Solarpunk-Vibes – wenn man Aylin einfach machen lassen und mehr Ressourcen zur Verfügung stellen würde, könnte sie ein kleines Paradies erschaffen. Mit ihren begrenzten Möglichkeiten reicht es „nur“ für einen kleinen Selbstversorgergarten.   

Während Aylin ihre Probleme mit Kreativität löst, werfen reiche Menschen einfach Geld drauf und kaufen sich so mehr oder weniger aus den Konsequenzen ihres Handels und damit den Folgen der Klimakrise heraus. Ebenso versuchen sie, sich aus der Sterblichkeit herauszukaufen, wobei Zara Zerbe es lange offenlässt, ob das Speichern auf Pflanzen überhaupt funktioniert oder ob das Ganze nicht ein großer Betrug ist. Dabei werden auch dysfunktionale Prozesse in großen Konzernen thematisiert. Das Speichern auf DNA ist ein spannendes SF-Thema, das durchaus auf realer Forschung basiert, hier jedoch eher vage beschrieben wird und unrealistisch bleibt. Die Speicherpflanzen sind das phantastische Element der Geschichte und die Funktionsweise der Technologie ist irrelevant für das Funktionieren der Handlung. Am Ende gibt es dennoch einen gelungenen Twist, der nochmal einen anderen Blickwinkel auf das Speichern eröffnet.


Fazit

„Phytopia Plus“ illustriert eindrucksvoll, wie tief die Gesellschaft in naher Zukunft gespalten ist und wie arme Menschen die Auswirkungen der Klimakrise zuerst spüren. Zugleich beweist Aylin, wie gelebte Solidarität aussieht, wie viel man aus wenigen Ressourcen machen kann und wie kreativ und pragmatisch sich Probleme lösen lassen – notfalls auf illegale Weise.


Pro & Contra

+ beschreibt einfühlsam den Alltag armer Menschen zwischen Klimakrise und Klassismus
+ Aylin ist eine sympathische, kluge und kreative Protagonistin
+ gelebte Solidarität unter den Armen
+ Hamburg in der nahen Zukunft zwischen Hitze und Hochwasser
+ eingeschobene Pflanzendialoge, die die Handlung kommentieren
+ die Speicherpflanzen als spannende SF-Idee, inklusive Zweifel daran
+ gesellschaftskritische SF im urbanen Raum

Wertungsterne4.5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5


Interview mit Zara Zerbe (2024)

Tags: SF-Autorinnen, Climate Fiction, Near Future, Hamburg