Melanie Vogltanz (24.09.2024)

Interview mit Melanie Vogltanz

Porträt von Melanie Vogltanz, die in die Kamera schaut und einen Stapel ausgedruckter Blätter in der Hand hältLiteratopia: Hallo, Melanie! Unser letztes Interview ist fast zehn Jahre her und inzwischen veröffentlichst Du mehrere Bücher im Jahr. Was waren Deine persönlichen Highlights in den letzten Jahren?

Melanie Vogltanz: Etwas, womit ich vor zehn Jahren nie gerechnet hätte, war die große Rolle, die Science Fiction mittlerweile bei meinen Veröffentlichungen spielt. Die Dystopie „Shape Me“ war für mich ein völliger Überraschungserfolg, da ich eigentlich erwartet hätte, dass die Thematik viel zu nischig ist, um ein breites Publikum zu erreichen – und am Ende war das das erste Buch von mir, vor dem ich eines Tages zufällig im Thalia stand. Ich glaube, Science Fiction ist auch tatsächlich das Genre, mit dem ich nun am stärksten assoziiert werde. Ein anderes Highlight, ebenfalls völlig unerwartet für mich, ist zweifellos die Kemet-Reihe mit Jenny Wood, die nicht nur wegen des Umfangs einen großen Platz in meinem Leben einnimmt. Daneben sind noch ganz, ganz viele andere Höhepunkte – Kooperationen, Einladungen zu großartigen Veranstaltungen, eine Anthologie mit einem meiner Beiträge im österreichischen Fernsehen … Es ist eigentlich völlig surreal, wie viel sich in dieser Zeit getan hat, und ich bin unfassbar dankbar dafür.

Literatopia: Wie hat sich die Buchwelt aus Deiner Sicht seit Deiner ersten Veröffentlichung verändert?

Melanie Vogltanz: Es klingt wahrscheinlich widersprüchlich, aber aus meiner Sicht ist es zugleich einfacher und schwieriger auf dem Buchmarkt geworden. Ich habe den allergrößten Respekt vor Autor*innen, die gerade erst anfangen und sich in dieser Landschaft zurechtfinden müssen und ihren Platz noch suchen. Einfacher ist es, weil es viel mehr Möglichkeiten gibt, sich untereinander zu vernetzen, weil es mittlerweile eine riesige Auswahl an Optionen gibt, die eigenen Bücher in die Welt hinauszutragen.

Und es ist so viel schwieriger, weil man viel stärker filtern muss, weil es so einen aktiven, aber auch teils offensiven, um nicht zu sagen aggressiven Meinungsaustausch gibt, der mich als Jungautorin stark verunsichert und vielleicht sogar abgeschreckt hätte. Betrachtet man im Speziellen die Phantastik, hat sich auch hier einiges getan. Manche Entwicklungen sind sehr begrüßenswert: Es gibt ein viel größeres Bewusstsein für progressive Inhalte, für Diversität, und auch bei Lesenden findet man einen klaren Wunsch nach Titeln abseits des Mainstreams. Auf der anderen Seite beobachte ich aber auch, wie sich eine immer stärkere Resignation in der Phantastikszene breitmacht. Während frühere feste Instanzen der Kleinverlagsszene, die eine so entscheidende Rolle bei Veröffentlichungen abseits des Mainstreams spielen, stark zu kämpfen haben oder gar verschwinden, scheint bei den großen Publikumsverlagen nach einer kurzen Aufbruchsstimmung jetzt zunehmend weniger Phantastik veröffentlicht zu werden. Das stellt nicht nur Newcomer, sondern sogar feste Größen unter den Phantastik-Autor*innen vor Probleme.

Buchcover Backstage - Tote geben keine ZugabeLiteratopia: Kommen wir zu Deinem aktuellen Roman „Backstage – Tote geben keine Zugabe“. Rockstar Cassidy Croaker erwacht auf seiner eigenen Trauerfeier. Wie kommt er mit seinem Tod zurecht?

Melanie Vogltanz: Absolut überhaupt nicht! Nach einer Phase völligen Leugnens kämpft er massiv damit, plötzlich nicht mehr wahrgenommen zu werden, nachdem er als Rockstar davor so im Zentrum der Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen gestanden hat. Das verkraftet sein Ego sehr schlecht. Allerdings wird ihm irgendwann bewusst, dass er das auch zu seinem Vorteil nutzen kann, und macht so manchem Hinterbliebenen, mit dem er noch eine Rechnung offen hat, das Leben mit Poltergeist-Aktionen schwer.

Literatopia: Für die Lebenden ist Cassidy unsichtbar – gibt es dennoch Menschen, die ihn und andere Geister sehen können?

Melanie Vogltanz: Es gibt Medien, die unter bestimmten Umständen dazu in der Lage sind, Geister wahrzunehmen und mit ihnen zu kommunizieren. Mit dem einen oder anderen Trick kann es auch gelingen, sich gegenüber „Nicht-Medien“ bemerkbar zu machen, aber eine Garantie gibt es da für Cassidy und seine Leidensgenossen nicht. Die Kommunikation mit der Welt der Lebenden gestaltet sich als sehr schwierig und fehleranfällig.

Literatopia: Welche phantastischen Elemente – neben Geistern – gibt es in „Backstage“?

Melanie Vogltanz: Tatsächlich ist „Backstage“ insgesamt sehr stark in der Realität und unserer Welt verhaftet – obwohl es einen Cameo eines gewissen ägyptischen Gottes gibt, der einen Hinweis darauf liefert, dass Geister nicht die einzigen übernatürlichen Kräfte innerhalb des Settings sind.

Literatopia: Im Oktober erscheint der neue Band der „Kemet“-Reihe, an der Du zusammen mit Jenny Wood arbeitest: „Dead End at Heliopolis“. Was erwartet Seth und Mafed an Halloween?

Melanie Vogltanz: In „Dead End at Heliopolis“ erlebt Seth seine erste Halloweenparty in seiner Bar in Nevada, dem Heliopolis. Seth und Mafed versuchen hier bewusst, für eine Nacht ihre Probleme und die Katastrophen der Vergangenheit zu vergessen – und stolpern natürlich prompt in die nächste, denn die Party lockt unerwünschten Besuch an. Jenny und ich nehmen hier die Fäden der Vorgänger-Bände auf und legen zugleich auch schon die Basis für zukünftige Konflikte, die Mafed und Seth noch eine Weile beschäftigen werden. Das Buch hat aber auch viele Comfort-Momente, Fluff und Humor. Sowohl wir als Autor*innen als auch die Lesenden brauchen diese Phasen des Lachens und Durchatmens glaube ich gerade dringend, und „Dead End“ bietet da denke ich eine sehr ausgewogene Mischung.

Literatopia: „Kemet“ begann mit einer Anthologie und wurde von Dir und Jenny um zwei Novellen und bald sechs Romane erweitert. Wie hat sich aus zwei Anthologiebeiträgen eine ganze Reihe entwickelt?

Buchcover Dead End at HeliopolisMelanie Vogltanz: Es ist wirklich unglaublich, wie schnell und umfassend das eskaliert ist. Ich wusste nach der Kurzgeschichte um Seth eigentlich gleich, dass er noch eine ganze Menge zu erzählen hatte, und habe noch vor Erscheinen der Kemet-Anthologie Verlegerin Grit Richter angesprochen, ob sie da eine Möglichkeit sieht. Da habe ich dann die Chance bekommen, Seth eine Novelle zu widmen (bei der ich mich und ihn schon ein wenig zügeln musste, um die Zeichenvorgabe einzuhalten). Schon bei „Road to Ombos“ durfte Jenny testlesen und ich habe Mafed am Ende flüchtig durchs Bild laufen lassen. Bereits da (2020) gab es die Idee, dass wir unsere beiden Götter aufeinandertreffen lassen müssten. Die beiden sind so konträr, dass das witzig zu werden versprach.

In der Zeit der Corona-Lockdowns hatten wir dann die Gelegenheit, uns an dieses Projekt zu wagen, und 19 Tage intensive Weltflucht später war unser erster gemeinsamer Roman, „Path into Duat“, mit über 600 Seiten in der Rohfassung geschrieben (sogar noch abgeschlossen vor „Totenfluch“, Jennys Debüt und Mafeds erster eigener großer Roman). Ich glaube, drei Wochen später stand dann schon „Trail to Heka“, Seths erster Soloroman. Mafed und Seth, und Jenny und ich, haben sich so wunderbar ergänzt, dass die Story sich beinahe von selbst erzählt. Mittlerweile ist sie auf insgesamt 12 Bände ausgelegt und bis zum Finale durchgeplottet, von jedem Band gibt es bereits Schlüsselszenen in der Rohfassung. Ich habe etwas Vergleichbares noch nie vorher erlebt, es ist manchmal ein wenig unheimlich – aber gibt auch unfassbar viel.

Literatopia: Mit Seth hast Du inzwischen ziemlich viel Zeit verbracht. Keiner kennt ihn so gut wie Du. Was ist für Dich das Besondere an Seth?

Melanie Vogltanz: Oh, wo fange ich da an? Im Übrigen liebe ich diese Frage!

Ich hatte noch nie eine Figur in meinen Büchern, die mich so intensiv beschäftigt hat (und die mir auch ganz wortwörtlich unter die Haut geht – der aktuelle Stand sind zwei Seth-Tattoos). In der ägyptischen Mythologie hat der Chaosgott Seth oft die Rolle des ultimativen Villains, was in seiner Darstellung in Filmen und Büchern gern zu einer etwas eindimensionalen Interpretation führt. Je intensiver man sich aber mit dem Quellenmaterial beschäftigt, desto mehr Nuancen und Schichten entdeckt man. Seth war auch der Gott, der die Fremden und Außenseiter unter seine Fittiche genommen hat (das antike Ägypten hatte z.T. ein großes Problem mit Fremdenfeindlichkeit). Er ist der, den die königliche Familie verstoßen hat, der sich seinen Platz immer wieder erkämpfen musste und immer wieder zurückgewiesen wurde. Manche Quellen sprechen von Seth als feminist Icon und er ist definitiv bereits in der Mythologie queer dargestellt (auch wenn man unsere heutigen Kategorien natürlich nicht eins zu eins auf damalige Maßstäbe umlegen kann). Mich hat die Recherche unheimlich fasziniert. Was geht in jemandem vor, der auf eine jahrtausendelange Geschichte als Außenseiter zurückblickt? Dass der mythologische Seth kein ultimativ böser Kerl sein konnte, verraten für mich zahlreiche Mythen, nicht zuletzt Seths täglicher Kampf gegen Apophis, um die Sonnenbarke, Re und damit letzten Endes die Welt und die Ordnung der Ägypter zu beschützen.

Autorinnenfoto von Melanie Vogltanz, die hinter einem Baum steht und seitlich in die Kamera blicktMit den Geschichten über Seth versuche ich, diese Lücken für mich zu füllen und Fragen zu beantworten, die die Quellen offenlassen, immer mit dem Gedanken im Hintergrund, dass Geschichte von Siegern geschrieben wird und man nicht alles, was die anderen großen Götter (bzw. deren Jünger) über ihren Erzfeind erzählt haben, für bare Münze genommen werden kann. Da er die moderne Welt erst schrittweise kennenlernt, bietet seine Perspektive auch viele Möglichkeiten zur Gesellschaftskritik – aber auch zu einer neuen Faszination für die Wunder unserer Zeit, die wir gar nicht mehr wahrnehmen, weil wir permanent davon umgeben sind.

Seth ist eine Figur, die viel Schmerz erfahren hat, aber mit jedem Buch durch die Hilfe anderer und durch Arbeit an sich selbst zunehmend heilt. Ich glaube, damit spricht er einen tiefen Wunsch in vielen Menschen an – nach Akzeptanz, nach einer zweiten Chance, nach einer Welt, in der man seinen Platz finden kann.

Literatopia: Könntet Ihr Euch vorstellen, dass auch andere Autor*innen Bücher für die „Kemet“-Reihe schreiben?

Melanie Vogltanz: Das haben wir aktuell nicht geplant. Die Reihe, bzw. der Haupthandlungsstrang, ist auch schon so fortgeschritten geplottet, dass sich das schwierig gestalten würde (es wäre auch beim Umfang der Reihe äußerst aufwendig, sich noch rückwirkend einzuarbeiten).

Lioteratopia: Auf Deiner Lektorats-Website bekennst Du Dich als büchersüchtig. Du liest Bücher, schreibst Bücher und lektorierst Bücher. Gibt es dennoch Tage ohne Buch?

Melanie Vogltanz: Wenige, sehr wenige! Aber es gibt definitiv Tage, wo ich auch einmal Abstand vom geschriebenen Wort brauche – das sind dann oft Mal-Tage, Musik-Tage, oder Zeit-in-der-Natur-Tage.

Literatopia: Worauf achtest Du beim Lektorat besonders? Und hast Du schon mal Bücher abgelehnt, weil Du keinen Zugang zu ihnen gefunden hast?

Melanie Vogltanz: Für mich ist es wichtig, sich auf die Geschichte, den Stil und die Intentionen der Autor*innen einzulassen. Meine eigenen Präfenzen haben im Lektorat strenggenommen nur wenig zu suchen (auch wenn ich natürlich dahingehend Ideen oder Vorschläge äußere). Viel wichtiger ist es, zu erkennen, was der/die Autor*in und die Geschichte wollen und sie dabei zu unterstützen, genau das zu erreichen. Dabei hilft es auch, Genrekonventionen und potenzielle Zielgruppen im Auge zu haben. Bisher hatte ich noch nicht die Situation, dass wir da überhaupt nicht zusammengefunden hätten. Was ich mir nicht vorstellen könnte, wäre, Bücher zu lektorieren, die Ismen enthalten, an denen die Autor*innen nicht bereit sind zu arbeiten. Das ist zwar nicht Aufgabe des Lektorats, aber da ich mich in die Geschichte hineinversetzen können muss, um möglichst gute Arbeit abzuliefern, für mich eine Notwendigkeit. Da würde es nicht zusammenpassen, Bücher zu lektorieren, die Rassismus, Sexismus oder Queerfeindlichkeit enthalten. Glücklicherweise hatte ich diese Situation bislang aber noch nicht, eher im Gegenteil – die meisten Autor*innen sind dankbar für Hinweise, wenn sie unbewusst Ismen reproduzieren, und arbeiten gern mit mir gemeinsam daran. Ich habe auch tatsächlich das Glück, das ein Großteil der Skripte, die ich lektorieren darf, Bücher sind, die ich privat lesen würde – das ist großartig!

Buchcover Trail to HekaLiteratopia: Social Media sind für Autor*innen von großer Bedeutung, doch gerade hier gab es einige unschöne Entwicklungen wie die Zerstörung von Twitter durch Elon Musk. Auf welchen Social-Media-Plattformen bist Du momentan aktiv?

Melanie Vogltanz: Aktuell überwiegend auf Instagram, Threads und seit Kurzem TikTok. Twitter, wo ich früher stark aktiv war, liegt bei mir mittlerweile dank der unschönen Entwicklungen brach; genauso wie Facebook (wobei ich mich von dieser Plattform schon deutlich länger entfernt habe). Für die Kemet-Reihe haben Jenny und ich zusätzlich einen Discord-Kanal für den direkten Austausch mit der Fanbase.

Literatopia: Was können wir im nächsten Jahr von Dir erwarten? Sicher sind bereits Veröffentlichungen geplant?

Melanie Vogltanz: Bis vor ein paar Wochen hätte ich gesagt: Ja, voraussichtlich 5 Romane! Durch die Schließung des Art Skript Phantastik Verlags hat sich bei meiner Planung nun allerdings einiges geändert, und das nächste Jahr ist gegenwärtig noch ein ziemliches Fragezeichen. Jenny und ich gehen im Moment leider nicht davon aus, dass wir den nächsten Kemet-Band im kommenden Jahr veröffentlichen werden. Auch wenn wir das schön fänden und uns darum bemühen werden, halten wir es gerade nicht für realistisch. Wir haben uns aber schon Wege überlegt, wie wir die Wartezeit bis zur nächsten Fortsetzung verkürzen können. Für die nahe Zukunft ist auf jeden Fall „Wolfswut“ geplant, der zweite Band der historischen Dark Fantasy-Reihe „Weißer Wolf“, sowie ein Urban Fantasy-Projekt beim Verlag ohneohren, über das ich aktuell noch nicht zu viel verraten möchte. Daneben arbeiten Stefan Cernohuby und ich auch an einer Fortsetzung zu unserer Space Opera „Im Auge der Leere“.

Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!

Melanie Vogltanz: Danke für die spannenden, durchdachten Fragen!


Autorinnenfotos: Copyright by Melanie Vogltanz (oben) und David Knospe (unten)

Autorinnen-Website: http://www.melanie-vogltanz.net

Rezension zu "Road to Ombos"

Rezension zu "Im Auge der Leere"

Rezension zu "Schwarzmondlicht"

Rezension zu "Shape Me" in PHANTAST #23

Interview mit Melanie Vogltanz (2015)


Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.