Die letzte Heldin (Emily Tesh)

Buchcover Die letzte Heldin

Heyne Verlag (2024)
Aus dem Englischen übersetzt von Nina Rieke
Originaltitel: Some Desperate Glory (2023)
Paperback , Broschur, ca. 544 Seiten, 18,00 EUR
ISBN: 978-3-453-32319-3

Genre: Space Opera / Dystopie


Klappentext

Seit die außerirdischen Majoda die Erde zerstört haben, gibt es nur noch wenige Orte in der Galaxis, die ausschließlich von Menschen bewohnt werden. Einer davon ist die Raumstation Gaea, die Heimat der jungen Kyr. Sie ist die beste Kämpferin ihres Jahrgangs, und sie kennt nur ein Ziel: Rache für die Vernichtung der Erde zu nehmen. Doch als sie in die Kinderstation Gaias befohlen wird, um für den Rest ihres Lebens Babys zu bekommen, und ihr Bruder auf eine Selbstmordmission muss, wird Kyr klar, dass das Oberkommando einen Fehler gemacht hat. Sie flieht von Gaia und macht sich auf die Suche nach ihrem Bruder – und muss dabei feststellen, dass alles, was sie über die Galaxis, die Menschheit und die Majoda zu wissen glaubte, eine Lüge ist …


Rezension

Mit Die letzte Heldin (Originaltitel: Some Desperate Glory, 2023) legt die britische Autorin Emily Tesh nach zwei Kurzromanen ihr drittes Buch vor und wird dafür im August 2024 mit dem renommierten Hugo Award ausgezeichnet. Die britische Autorin hat sich dabei erstmals an Science Fiction versucht, dies offensichtlich mit einigem publizistischem Erfolg, wie auch die überaus positiven Rezensionen belegen. Der Band ist seit Mitte des Jahres in der gelungenen deutschen Übersetzung von Nina Rieke verfügbar. Es ist eine gelungene Parabel über die Lügen autoritärer Herrschaft, künstliche Intelligenz und die Irrungen einer jungen Frau.

Valkyre („Kyr“) ist eine aus einem Genpool gezüchtete Kriegerin, Nichte des autokratischen Führers der Kolonie Gaia und überzeugte Anhängerin der herrschenden Macht. Aufgewachsen unter dem strengen Reglement der Militärkolonie verbringt sie Kindheit und Jugend damit, sich den Regeln ihrer Gemeinschaft unterzuordnen und auf den Kampf gegen die Majoda (dem Bündnis Ausserirdischer) vorzubereiten. Der kleine Planet Gaia erscheint nach dem verlorenen Krieg als die letzte Bastion der Menschheit, umgeben von Feinden. Kyr wächst zu einer jungen Kriegerin heran, die sich verbissen den Zielen ihrer radikalisierten Gemeinschaft verschreibt. Abgeschnitten von ihren Gefühlen und der Empathie für Andere, erwartet sie am Ende ihrer Ausbildung die Zuteilung zu einem Kampfgeschwader. Sie ist bereit, zu gehorchen, zu kämpfen und zu töten, getreu dem Motto der Gemeinschaft: Solange die Kinder der Erde leben, soll der Feind uns fürchten.

Doch die Führungselite von Gaia enttäuscht sie zutiefst. Anstatt ihre Leistungen und Aspirationen als Kriegerin anzuerkennen, soll sie zukünftige Krieger zur Welt bringen. Sie wird der Gebärstation von Gaia zugeteilt, einer Menschen-Zuchtanstalt nach eugenischem Vorbild. Dies und das mysteriöse Verschwinden ihres Bruders lässt sie am System zweifeln: sie widersetzt sich dem Regime, wütend und voller Verzweiflung.

Leser*innen haben es schwer mit dieser Protagonistin, bietet sie doch mit ihrem unduldsamen, kalten und an Grausamkeit grenzenden Verhalten wenig Anlass zu Identifikation und Mitgefühl. Sie ist zunächst eine unbeirrbare Repräsentantin eines totalitären Systems, das sich in einer pseudofaschistischen Haltung gefällt und ihre Angehörigen zu unabdingbarem Gehorsam zwingt. Kyr ist ein verlässlicher und tragender Teil davon, also niemand, mit deren inakzeptabler Haltung ein liberales Lesepublikum unbedingt Zeit verbringen möchte.

Die letzte Heldin ist keine Wohlfühllektüre. Im Gegenteil: Die Autorin konfrontiert uns mit einer düsteren sozialen Dystopie, in der sich die Menschheit um Wahrheit und Demokratie gebracht hat. Die anderen „fühlenden Wesen“ des Universums blicken voller Distanz und Unverständnis auf das xenophobe Treiben der Menschheit auf Gaia. Ein düsteres Szenario, das offenbar einen mehrzeiligen Disclaimer am Beginn des Buches benötigt, um vor den belastenden Inhalten zu warnen. Emily Tesh drückt in ihrer Rede zur Verleihung des Hugo Awards das aufkommende Unbehagen so aus: „I wrote humanity's bad end, and I call upon you all with perfect faith to prove me wrong.“

Man kann Die letzte Heldin aber nicht nur als düstere Dystopie sondern auch als Erzählung drüber lesen, wie sich eine Frau mit ihrem wachsenden Widerstand gegen totalitäre Herrschaft auseinandersetzt, als langsames Zu-Sich-Selbst-Finden einer Heldin, die irritiert ihren Weg in jener Welt sucht. Es ist beeindruckend, wie Emily Tesh sich nüchtern und ohne Pathos der Psychologie ihrer Heldin annimmt und sie die Realität jenseits einstiger Verblendung erfahren lässt: Stück für Stück, mit allen notwendigen Rückfällen. Ein radikalisierter Mensch, der von schmerzlichen Wahrheiten überschwemmt wird, stellt sein Weltbild in Frage. Das ist eine der großen Stärken dieses Buches.

Denn Widersprüchlichkeiten und Lügen gibt es viele. Den Gründungsmythos von Gaia; dass Gaia die letzte Bastion der Menschheit sei; dass die männlichen Eliten die Gebärklinik der Kolonie zur Verschleierung ihrer sexuellen Übergriffe missbrauchen; dass ihr Bruder in einer geheimen Mission aus Gaia verschwindet; dass die Führungselite mit ihren eigenen Karrierewünschen mehr als zynisch verfährt. Schliesslich erfährt Kyr, dass es auch andere Wahrheiten im Universum gibt. Jedoch lesen wir keine platte Coming-of-Age-Geschichte mit heroischem Happy End. Die Protagonistin bleibt bis zuletzt widersprüchlich, gefährlich und unberechenbar. Sie ist eine schwierige Heldin, eine durch Lügen verdorbene Kriegerin auf der Suche nach Selbstbestätigung. Ein gutes Ende ist nie in Sicht.

Diese bewusst gesetzte Ambivalenz gilt auch für jene Personen, die die Heldin auf ihrem Weg begleiten: Magnus, der Bruder, zu dem sie sich hingezogen fühlt und der plötzlich von der Bildfläche verschwindet; Avicenna, ein unterschätzter Nerd, Meister der „Szenarien“ und unbefugten Informationsbeschaffung; Yiso, der misshandelte Gefangene, ein Ding, Tier oder gar Wesen, welches Kyr zu ignorieren versucht; nicht zuletzt Cleo, die Schwester, mit der Kyr in einem unauflösbaren Konkurrenzkampf liegt. Auch diese Figuren entwickeln sich sperrig, nicht immer zum Guten, nicht ohne offenkundige Widersprüche. Jeder Charakter ist darüber hinaus, „a mess of morals“ wie Maya Gittelman im Online Magazin Reactor treffend bemerkt. Doch die Umstände, in denen sie zu leben haben, sind entsprechend problematische. Kyr aber auch die Leser*innen dürfen selten auf sie zählen.

Über weite Strecken ist der Roman spannend zu lesen, andrerseits darf man sich als Leser*in auf einen einmal eingeschlagenen Handlungsstrang nicht unbedingt verlassen. Die Handlung entwickelt sich ambivalent und widersprüchlich. Linear und sehr realistisch erzählte Passagen wechseln einander ab mit üppig ausgestatteten Szenen, in denen es vor Phantasie nur so schillert. Immer wieder passiert Unvorhergesehenes, wird ausschweifend und verwirrend erzählt. Wiederholt müssen wir zurück blättern, um nochmals genauer zu lesen. So bleibt manches an diesem Text unklar, vor allem wenn die überbordende Phantasie der Erzählerin die Handlung unnötig aufbläht. Ein Vergleich mit der überwältigenden Immersion bei Videospielen scheint berechtigt: Die Überforderung der Leser*innen scheint Teil des Schreibkonzepts zu sein. Unklar ist auch, was gerade der Fall ist: Realität, Spiel, Simulation, Künstliche Intelligenz, göttliches Wirken? Man spürt in den Beschreibungen der Szenarien auch, dass Emily Tesh wohl mehr Fantasy- als Science-Fiction-Autorin ist, sich aber trotzdem unbekümmert auf das Genre einlässt. Bunt schillern die Pflanzen in geheimnisvollen Höhleneingängen, lauern Bestien im Hintergrund, fühlt man sich in logikfremde Zusammenhänge verwickelt. Das sprengt auch sehr schnell die Grenzen des selbstgewählten Genres. Fast hat man den Eindruck als spiele die Autorin mit Publikum, Handlung und Stoff. Ein wenig schwerfällig aber mit Verve.

Breiten Raum in der Handlung nimmt die Weisheitsmaschine der Majoda ein, eine hochentwickelte KI, die die unterschiedlichsten Zivilisationen des Universums durch „Weisheitsknoten“ verbindet und beherrscht. Zu ihr zieht es die konkurrierenden Parteien immer wieder hin: um sie für die eigenen Ziele zu nutzen, um mit ihr zu paktieren, letzten Endes, um sie zu zerstören. Doch der fast göttlichen Intelligenz ist schwer beizukommen. Sie zu verstehen, fällt den Menschen schwer. Ihre Botschaften sind kryptisch und widersprüchlich. Jenen gibt sie letztendlich Recht und Macht, die sie geschickt zu nutzen verstehen. So wird die Weisheit zur trügerischen Matrix, die geschickt ihre Bedeutung zu verbergen weiß. Gerne ist die Intelligenz bereit, den Gang der Geschichte zu korrigieren und so den gesamten Handlungsbogen des Romans zu verändern. Dabei macht sie auch nicht vor sich selbst halt. Dreimal muss deshalb die Handlung neu ansetzen.

Was also liegt nach all der spannenden aber anstrengenden Lektüre vor uns: Antikriegsbuch, düstere Dystopie, Entwicklungsroman, politische Parabel, absurde Space Opera oder queerer Roman? Man weiß es nicht so recht.

Manchmal möchte man dem Impuls folgen und das Buch in die Ecke sperriger Lektüre verräumen. Man tut es letzten Endes nicht, weil es auf eindringliche Weise an die Absurdität und ohnmächtige Kämpfe in unser Realität erinnert. So wird man letzten Endes widerstrebend der mächtigen Erzählerin vertrauen und das Buch fertig lesen. Die Lektüre lässt uns beeindruckt, aber auch ein wenig erschöpft zurück.


Fazit

Die letzte Heldin ist ein Buch, das die Erzählung über den Fanatismus aber auch die mögliche Deradikalisierung von Menschen in eine ausufernde Space Opera kleidet. Die Erzählerin spielt dabei geschickt mit den Erwartungshaltungen der Leser*innen und mutet ihnen einiges an erzählerischer Ausschweifung zu.


Pro & Contra

• Ein spannend aber ausufernd erzähltes Buch. Ein wenig Kürzung hätte dem Lesevergnügen und der Handlung gut getan.
• Wieder eine Dystopie, doch auch das Ringen um eine bessere Welt.
• Queere Themen wirken oft sehr aufgesetzt und klischeehaft.
• Keine Military Science Fiction. Manche Passagen erinnern mehr an Romantic Fantasy als an eine Space Opera.
• Bucheinband und Titel der deutschen Ausgabe erwecken falsche Erwartungen. Der englischen Originaltitel ist zutreffender.
• Warnung vor der Ebook-Version des Buches: nachlässiges Endlektorat.

Wertungsterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 3/5
Preis/Leistung: 4/5


Dies ist eine Gastrezension von Tinderness, herzlichen Dank!

Tags: Space Opera, Dystopie, SF-Autorinnen