Fischer TOR (September 2024)
Paperback, 350 Seiten, 18,00 EUR
ISBN: 978-3-596-70978-6
Genre: Postapokalypse / Hopepunk / Post-Climate-Fiction
Klappentext
Proxi ist eine virtuelle Realität, die ein zweites Leben mit neuen Identitäten ermöglicht. Als ein Virusangriff diese Realität zerstört, ist das für viele ein Weltuntergang: Teile ihres Lebens, ihres Selbst sind für immer ausgelöscht. Die Transfrau Monae, die E-Sportlerin Kawi und Dion, eine KI im Biosynth-Körper wollen ihre verlorene Welt zurück. Zusammen begeben sie sich auf die Suche nach der versteckten Sicherheitskopie von Proxi. Ein Roadtrip durch eine von Klimakrise und Biohacking veränderte Landschaft beginnt. Schnell wird klar: Die drei sind aufeinander angewiesen. Um zu überleben und ihr Ziel zu erreichen, müssen sie einander vertrauen - doch nicht alle verfolgen das gleiche Ziel …
Rezension
"Einen Moment schauen sie alle nach draußen. Proto, die Post-Zukunft des Planeten, hier draußen bereits realisiert, schaut zurück. Wer weiß, was sich in ihrer Wüste verbirgt." (Seite 47)
In der nicht näher bezeichneten, (post-)apokalyptischen Zukunft: Die Klimakatastrophe und Umweltverschmutzung haben weite Teile der Erde zerstört. Die Menschen leben in wenigen Megastädten wie Europolis, die meisten von ihnen fast immer online. Sie führen ihre Leben in virtuellen Welten, die voneinander getrennt sind. Es ist schwer bis unmöglich, eine Aufenthaltserlaubnis für eine andere Welt zu bekommen, doch die eigene Welt ist bereits unvorstellbar groß. So wie Proxi, die Heimat von Tell und Kawi, die dort frei und selbstbestimmt leben. Tell gibt Konzerte als Sängerin Monae und hat viele Fans, Kawi war eine berühmte Gamerin und durchstreift Proxi nun als Panther. Für Dion, eine Künstliche Intelligenz, ist Proxi jedoch ein Gefängnis, das sie mit Hilfe eines Virus zerstört. Für Tell und Kawi ist dies der Weltuntergang und gemeinsam wagen sie sich in die Realität, um das Backup von Proxi zu suchen. Dieses soll sich auf einem geheimen Server inmitten von Proto befinden - einer schier unendlichen Wüste aus Müll, vor allem Plastik. Sie ziehen in einem Solarcamper los und sammeln Dion ein, die in einem biosynthetischen Körper aus einem Labor geflüchtet ist - nicht ahnend, dass sie es war, die Proxi zerstört hat. Und dass sie auch das Backup vernichten will ...
Mit "Proxi" blickt Aiki Mira weiter in die Zukunft als in "Neongrau" und "Neurobiest", doch man ahnt schnell, dass es sich um die gleiche Zukunft handelt. Anhand der Informationen im Roman müssten zwischen "Neongrau" und "Proxi" circa fünfzig bis einhundert Jahre liegen. Die bewohnbare Welt wird immer kleiner, die Menschen flüchten sich in virtuelle Welten und weigern sich, zu sehen, was sie dem Planeten angetan haben. Obwohl der Titel "Proxi" lautet, handelt der Roman vor allem von Proto, einer gigantischen Wüste aus Müll, in der sich Mikroplastik zu Dünen auftürmt und Plastiglomerate wie verkrüppelte Bäume in den trüben Himmel ragen. Eine eigentümlich schöne und verstörende Landschaft, die Tell und Kawi mit den Augen von zwei Menschen entdecken, die ihr ganzes Leben in einer künstlichen Umgebung verbracht haben. Proxi war eine immerwährende Vergangenheit, es gab dort alles, was durch menschlichen Einfluss verloren ging. Doch in Proxi gab es nichts Neues. Proto dagegen ist neu, lebensfeindlich und doch die Heimat erstaunlich vieler Menschen, die Tell, Kawi und Dion auf ihrem Weg treffen. Da wären die Elder, die Proto Leben abtrotzen und alles teilen, oder die Solartrolls, die ihr eigenes technologisches Paradies erschaffen haben. Oder eine umherreisende Theatergruppe, das Ensemble der Transzendierenden - und Biosynths, die sich selbst eine Aufgabe gesucht haben.
"Du weißt, von Proto gibt es keine verlässlichen Karten. Genauso wenig wie von Wunden oder Narben."
"Weil sie sich andauernd verändern?"
"Bâ! Weil sie ignoriert oder behandelt, aber ganz bestimmt nicht kartographiert werden! Das käme einer Akzeptanz gleich, die es für Proto nicht gibt. Dafür müssen wir Menschen erst kollektiv Verantwortung übernehmen." (Seite 56)
Für Tell und Kawi ist Proto zunächst verstörend und bedrohlich. Tell wagt sich nur mit Schutzkleidung hinaus, Kawi verlässt ohnehin nicht den Camper, denn sie bekommt Panik, wenn sie keine Wände um sich hat. Es war bereits eine Überwindung für sie, ihr Zuhause gegen den Solarcamper zu tauschen, doch für Proxi tut sie es. Kawi ist dabei nicht ganz ehrlich zu Tell. Jeder von ihnen hat eigene Pläne, doch auf ihrer Reise wachsen Tell, Kawi und Dion für sie alle unerwartet zu einer Familie zusammen. Sie teilen viele besondere Momente wie die Rettung zweier Küken, die sie mit der Hand aufziehen, auch wenn sie nicht wissen, wie das geht. Oder das Wachsen einer Pflanze. Sie teilen Verluste, bemerken, wie sie sich um die anderen sorgen und fürchten, einander zu verlieren. Alle drei sind traumatisiert, so wie eigentlich alle Menschen in der Postapokalypse. Tell glaubt, Monae verloren zu haben, sein wahres Ich, das er in Proxi ausleben konnte und dass er überraschend in Proto wiederfindet, weil Kawi und Dion es ihm zeigen. Kawi kämpft gegen ihre Ängste und mit den Dämonen ihrer Vergangenheit, während Dion sich selbst als fühlendes und denkendes Wesen entdeckt. Tell sieht sie als Menschen, doch Dion ist kein Mensch, aber deswegen ist sie nicht weniger wertvoll für Tell und Kawi, die ähnlich wie die Landschaft verwüstet sind und dennoch einander dennoch mit Empathie und Respekt begegnen.
"Proxi" liest sich wie ein Roadtrip durch eine bizarre Postapokalypse, die für die Leser*innen fremd und verstörend ist. Tell, Kawi und Dion geht es ähnlich, sie wurden überwiegend in einer virtuellen Welt sozialisiert, haben ihre Leben in der Simulation der Vergangenheit, also auch unserer Gegenwart verbracht. Ihr Blick auf die Welt ist ein virtueller, von Begriffen der digitalen Welt geprägt. Proto ist für sie wie ein fremder Planet, der Stück für Stück mehr Leben offenbart. Ameisen fressen Mikroplastik und transformieren es, Pilze wuchern auf dem Plastiglomerat, Vögel schreien im Wind. Tell, Kawi und Dion entdecken das Leben ganz neu, entdecken die Wirklichkeit mit all ihrem Schrecken, aber auch mit ihrer berührenden Schönheit. Sie erkennen, dass sie nicht das Ende sehen, sondern den Anfang von etwas Neuem, den Anfang einer Welt, die so verwüstet ist, dass auch alte Strukturen zerfallen sind. Die Menschen in Proto finden einen Zugang zu dieser postapokalyptischen Landschaft, alle gehen ihren eigenen Weg und gleichzeitig wachsen sie zusammen, entsteht eine neue Zivlisation, die auch Bots und Biosynths einschließt. Künstliche Intelligenzen sind hier keine übermächtigen Wesen im Cyberspace, sondern Individuen, die ihre eigenen Kämpfe austragen.
"Vielleicht ist es bloß eine Illusion zu glauben, nur weil wir als Mensch geboren worden sind, auch von Geburt an menschlich zu sein. Vielleicht ist Menschlichkeit, so wie alles andere an unserer Identität, ein Tun." (Seite 226)
Die Handlung lässt sich recht einfach grob umreißen, im Prinzip reißen die Protagonist*innen durch Proto, begegnen unterschiedlichsten Lebewesen, erreichen ihr Ziel und letztlich kommt es anders als geplant. Wie so oft gilt hier: der Weg ist das Ziel. Nicht die Rahmenhandlung ist das Beeindruckende, sondern viele kleine Szenen voller Menschlichkeit, Verletzlichkeit, Trauer und Freude. In "Proxi" gibt es viele Szenen, die unter die Haut gehen, die erschrecken, nachdenklich stimmen und tief berühren. Gekleidet in die wunderbare Sprache von Aiki Mira, die präzise und poetisch ist und hohen Wiedererkennungswert besitzt. Die Sprache hat eine eigene Melodie, die oft kurzen, oft auch unvollständigen Sätze fließen dahin, brennen eigentümliche Bilder ins Gedächtnis und zeigen die Zukunft aus der Sicht der Menschen, die in ihr leben. Die Art zu schreiben erinnert an William Gibson, dessen Werke sich ebenfalls lesen, als hätte sie ein Mensch aus der Zukunft geschrieben und nicht ein Mensch aus unserer Gegenwart, der über die Zukunft schreibt.
Wie bereits in "Neongrau" und "Neurobiest" verwendet Aiki Mira in "Proxi" Worte, die (noch) nicht zur deutschen Sprache gehören. Tell und Kawi sprechen jeweils ihre eigenen Variante von Mush, einer Mischsprache aus den europäischen Sprachen. Der Verständlichkeit halber konzentriert sich Aiki Mira auf wenige, prägnante Begriffe wie "fruumi" oder "magniv", deren Sinn sich während dem Lesen allmählich erschließt. Wie die Menschen in der Zukunft sprechen werden, können wir natürlich nicht wissen, aber die Sprache wird sich definitiv verändern, was hier gekonnt umgesetzt wurde. Überhaupt ist das Worldbuilding in sich stimmig, man stolpert einzig über den Umstand, dass das Nordmeer ausgetrocknet sein soll, wo doch der Klimawandel zu einem steigenden Meeresspiegel führen sollte. Wie genau die Welt so stark verwüstet wurde, wird nicht erklärt, die Menschen wissen es selbst nicht wirklich, da die meisten nicht hingesehen haben, sondern sich in virtuellen Welten versteckt. Dass der Müll sich irgendwann zu gigantischen Wüsten verdichtet und Mikroplastik sich zu Dünen auftürmt, kann man sich sehr gut vorstellen.
Auch wenn "Proxi" wie bereits "Neongrau" und "Neurobiest" ein eigenständiger Roman ist und man jedes Buch für sich alleinstehend lesen kann, bilden alle drei eine Art Trilogie. "Neongrau" und "Neurobiest" stehen dabei in einem direkten Zusammenhang, während in "Proxi" die verbindenen Elemente weniger offensichtlich sind. Wer alle Romane kennt, wird viele kleine Verbindungen entdecken, vermutlich beim zweiten Lesen noch mehr - und hier lohnt sich ein zweites Lesen, vor allem die ersten Kapitel lesen sich nochmal anders, wenn man bereits in Proto versunken ist. Lesenswert ist auch der Artikel "Über das Ende hinausschreiben: Post-Climate-Fiction und Post-Zukunft" auf TOR online, in dem Aiki Mira näher auf die Hintergründe von "Proxi" eingeht.
"Wir gehören heute schon der Antike an. So seltsam es klingen mag: Wir leben am Anfang unserer Geschichte, in der fernsten Vergangenheit. Wir müssen klug handeln. Was wünschst du dir für die Zukunft?" (Seite 59)
Fazit
"Proxi" ist ein Roadtrip durch eine verwüstete Welt, eine Reise durch eine bizarre Landschaft aus Müll, in der das Leben neue Wege findet. Die Menschen sind vor der Apokalypse in virtuelle Realitäten geflüchtet, doch diese sind ebenso zerbrechlich wie die reale Welt, die für zwei Menschen und eine Biosynth mehr und mehr zur neuen Heimat wird. Dort, wo alles zu enden scheint, entsteht etwas Neues und Aiki Mira lässt uns Teil davon sein. Ein verstörender und berührender Roman über das, was nach der Polykrise kommt, voll kleiner utopischer Momente, Hoffnung und Empathie.
Pro & Contra
+ eigentümlich schöner Mix aus Postapokalypse und Utopie
+ die verwüstete Zukunft aus der Sicht von Menschen, die im Virtuellen sozialisiert wurden
+ die bizarre Plastikmülllandschaft Proto
+ Protagonist*innen auf Identitätssuche, die zu einer Found Family zusammenwachsen
+ unterschiedlichste Begegnungen mit Menschen, die in die Proto leben
+ Tiere, Pflanzen und KIs werden als Lebewesen anerkannt und erlebt
+ erzählt von dem, was uns trennt, und vor allem von dem, was uns verbindet
+ einzigartiger, präziser und poetischer Schreibstil
- Rahmenhandlung etwas dünn
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5
Interview mit Aiki Mira (2022)