Fischer TOR (September 2024)
Paperback, 368 Seiten, 18,00 EUR
ISBN: 978-3-596-70891-8
Genre: Climate Fiction
Klappentext
Aktuell, kritisch und äußerst spannend. Ein Climate-Fiction-Thriller über die Zukunft des Klima-Aktivismus. Die Autorin Johanna Stromann will einen Roman über Klima-Aktivisten schreiben. Doch die Recherche erweist sich als gefährlich, denn der Staat versucht, die Proteste mit Gewalt zu unterdrücken. Bald ist es Johanna nicht mehr möglich, neutral am Rand zu stehen und nur zu dokumentieren. Im Gegenteil: Ihr geht das alles nicht weit genug. Als ein Großteil der Klima-Gruppen verboten und ihre Mitglieder zu Haftstrafen verurteilt werden, gründet sie zusammen mit den verbliebenen Aktivist*innen die Gruppe „Parts Per Million“, um die Verursacher der Klimakatastrophe zur Rechenschaft zu ziehen. Mit allen Mitteln.
Rezension
Eine Autorin schreibt ein Buch, in dem eine Autorin ein Buch schreibt. Diese Verdopplung legt nahe, dass die Schriftstellerin Theresa Hannig im Grunde dasselbe tut wie ihre Protagonistin Johanna Strohmann (Nomen est omen!): sich mit der Wut auf das System herumzuschlagen. Also wieder ein Stück Autofiktion? Den individuellen Schreibprozess zu reflektieren, könnte durchaus ein interessanter Ansatz sein. Doch Autorin wie Erzählerin führen uns mit ihrer Protagonistin in die Irre. Nicht die Reflexion über das Verhältnis von Politischem zu Privatem ist Gegenstand des Buches, sondern das unentwegte Beklagen dessen, was wir täglich den Medien entnehmen können: Klimakatastrophe reiht sich an Klimakatastrophe. Berechtigtes Jammern also am laufenden Band. Als ob wir dafür noch ein weiteres Buch bräuchten!
Das kann, bei aller Sympathie für die Dringlichkeit des Anliegens, lesetechnisch anstrengend werden, denn im Lauf der Lektüre verärgert die Erzählerin ihre mündigen Leser*innen mit einer Fülle von Klischees. Nichts darf dabei beim dozierenden Erzählen ausgelassen werden: weder der Konflikt mit dem karrieregeilen Ehemann noch jener mit gewalttätigen Autofahrern; weder eine woke-bewegte Jugend noch die schuldbeladene Elterngeneration; weder die prügelnde Polizei noch der ins Bild rutschende Klimaflüchtling aus dem Senegal. Alles wird kindersicher auf den Punkt gebracht, damit es auch wirklich jeder versteht. Ja, wir leben in der Klimakatastrophe! Wir haben es begriffen.
Das Buch will erklären, aufklären, betroffen machen, anklagen, mit der Aufzählung von Tatsachen, die alle schon kennen, wohlweislich aber verdrängen. Analytisch ist das nicht, nervig schon. Daher geht es der Autorin wie den Klima-Aktivist*innen in ihrem Buch: sie sind verzweifelt und schlagen aggressiv um sich. Vielleicht sollten beide ein wenig Soziologie bei Nikolaj Schultz lesen. Der weiß das Dilemma zu erklären, in dem wir stecken.
Viel wird in diesem Buch noch zu verdauen sein an klischeegetränkter Widrigkeit. Es droht und lockt mit Terrorismus: „Gewalt ist eine Option.“ Vielleicht lesen es dann doch mehr Menschen.
Es soll offenbar Climate Fiction über eine nahe Zukunft geschrieben werden. Zwar spricht die Autorin in ihrem Nachwort davon, sich „von der Zukunft an die Gegenwart“ angenähert zu haben, dennoch ist das Buch fest im Hier und Jetzt verankert. Die Zukunft hingegen wird lustlos konstruiert: Putin ist gestorben, Trump wurde inhaftiert und der Weltklimarat veröffentlicht seinen mittlerweile siebenten IPCC Bericht, den die Protagonistin jedoch nicht lesen will. Es droht auch die Gewalttätigkeit des Staates und, als Antwort darauf, die einer Bewegung. Dieses Potpourri an Zukunftsvisionen könnte auch aus einer Verschwörungserzählung stammen. Den halluzinierten Ökoterrorismus hat sich die Autorin bei Kim Stanley Robinson abgeschaut. Sie sagt, sie wolle den europäischen Kontext ausloten. Europa wird dabei zu Deutschland, garniert mit ein wenig Frankreich. Dort spricht man Französisch, das nicht übersetzt werden braucht, weil Lokalkolorit sein soll. Widerstand gibts auch dort, unter Bäumen im sirrenden Licht. Die Solidarität ist groß. Das war es dann mit dem Worldbuilding. Noch ein wenig KI nett drapiert, eine begnadete Hackerin eingestellt und schon läuft es. Ansonsten knochentrockene Gegenwart.
Alles bleibt beim routinierten Doomscrolling. Es ist, als ob die Timelines Sozialer Medien in den Seiten des Buches an uns vorbeiratterten, mit den ewig gleichen Posts über Klimakatastrophen, samt einschlägiger Meinungen und kontroversieller Diskussion. Eins zu eins wird dies dann ins Manuskript übertragen, ohne den Text auf literarische Qualität und stilistische Verfremdung zu befragen. Selbst die Kapitelüberschriften zitieren Schlagzeilen aus der Gegenwart (2023/24), ordentlich dokumentiert im Anhang des Buches. Authentizität und Faktencheck sind mittlerweile unverzichtbar, auch auf die Gefahr hin, dass Gegenwart und Zukunft durcheinander geraten.
Nun, das Buch ist auch eine Erzählung über Radikalisierung: jene der Klimabewegung und jene der Protagonistin. Die Autorin hat wohl recht; nach all den wirkungsarmen Protesten der Klimabewegung ist die politische Radikalisierung einiger Gruppierungen wahrscheinlich. Nicht bedacht werden die gravierenden Fehler, die von Teilen der Klimabewegung gemacht wurden: ihre fragwürdigen Aktionen, falschen politischen Einschätzungen und abgehobenen Allüren. An der Radikalisierung allein schuld sind die üblichen Verdächtigen: Polizei, Politik und Wirtschaft, natürlich das träge Volk und das verheerende mediale Brainwashing. Die Welt ist bös-dumm, das Individuum machtlos. Dann fällt auch noch der unsinnige Kampfbegriff der Rechten: „Grüne Rote Armee Fraktion“. Ulrike Meinhof lässt grüßen!
Nun zur Radikalisierung unserer Heldin, die weder stringent noch nachvollziehbar ist. In weniger als einem Jahr verwandelt sich eine mäßig erfolgreiche Schriftstellerin, unentschiedene Mutter und genervte Ehefrau zu einer aggressiven Außenseiterin, die sich lustvoll in Gewalt verliert. Was als exotistisch motivierter Ausflug einer Vierzigjährigen in die politisch bewegte Welt der Jugend beginnt und sich dabei erzählerisch als Romanrecherche tarnt, endet in einem persönlichen und erzählerischem Desaster. Ein Monster wurde geboren, ein linker Hooligan. Schuld daran sind möglicherweise: die Klima- und Innenpolitik der rechtsrechten Regierung, eine bei einer Demonstration getötete Frau, der sexuell aufdringliche Ehemann, die begütert ignorante Mutter, die Langeweile des Alltags, vor allem aber das Leiden an der Welt. Oder ist es die Frustration über den Schreibfortschritt, der plötzlich stockt, weil dramaturgisch das letzte Kapitel (noch) nicht geschrieben ist? Die Frankfurter Buchmesse drängt. Was braucht eine Frau sonst noch, um verzweifelt zu sein? Jedenfalls weiß sich die Heldin an Menschenfeinden auszutoben, in all der für den theatralischen Effekt notwendigen Lust am grundlos Bösen und destruktiven Ende. Zum Ende des Buches wird sich die mittlerweile erfolgreich gewordene Terroristin wieder läutern wollen: sie unterwirft sich dem bislang verhöhnten Rechtsstaat, oder vielleicht auch nicht. Immerhin, eine schräge Weltrevolution ist schon im Gange. Da ist kein Platz fürs Happy End. Sie kann letztendlich dann doch die Finger nicht vom Handy lassen.
Bleibt noch, den Disclaimer zu erwähnen, ganz am Ende der Geschichte. Die Autorin selbst springt der Erzählerin bei: „Gewalt ist niemals konstruktiv. Sie kann kein akzeptabler politischer Weg sein.“ Das kommt davon, wenn einer Autorin Realität und Fiktion durcheinander geraten: man könnte von der Öffentlichkeit missverstanden werden. Sicher ist sicher, sonst klopft der Staatsschutz an die Tür!
Ein Verdacht keimt auf. Ging es etwa nicht darum, die verzweifelte Perspektive einer Gruppe von Klimaaktivist*innen literarisch zu befragen, sondern vor allem darum, sich als Autorin den Frust über den Weltuntergang von der Seele zu schreiben? Darum, aus dem Käfig deprimierender Einsichten auszubrechen? Eine Art Schreibtherapie etwa? Statt Literatur zu schreiben ein politisches Pamphlet skizzieren? Nachvollziehen könnte man es ja. Auch wir tragen allzu Bitteres in uns herum, belassen es aber meist bei Kommentaren und dem Schreiben von Tagebüchern. Einmal genussvoll in die Fratze der vorwiegend männlichen Klimaverbrecher schlagen können! Dann reumütig in die heimische Schreibstube zurückkehren, damit keine demokratiepolitischen Missverständnisse aufkommen. Gewalt sei zwar nie eine Lösung, aber immer schon ein Selling Argument gewesen, mochte der Verleger augenzwinkernd und Pizza kauend bemerkt haben. Aber das ist natürlich wieder Fiktion und hat so niemals stattgefunden! Oder doch?
Fazit
Ein für literarisch und politisch Interessierte sehr unbefriedigendes Buch über die mögliche Radikalisierung von Teilen der Umweltbewegung und des Staatsapparates, am Beispiel einer wenig glaubhaften Heldin. Mehr überlanges Pamphlet als präzise Literatur, mehr Abenteuer als Befund. Das Buch ist eine vertane Chance, sich mit der Entstehung von Terrorismus ernsthaft auseinanderzusetzen.
Pro & Contra
- Ein interessantes Thema, dessen erzählerische Umsetzung leider weder inhaltlich noch stilistisch zu überzeugen mag.
- Routiniertes Story-Telling.
- Belehrender Unterton der Erzählerin, viele Klischees.
- Unglaubwürdige Charakterentwicklung der Protagonistin.
- Widersprüchliche Gestaltung der Zeitstruktur des Romans.
Wertung:
Handlung: 3/5
Charaktere: 2/5
Lesespaß: 3/5
Preis/Leistung: 4/5
Dies ist eine Gastrezension von Tinderness, herzlichen Dank!
Interview mit Theresa Hannig (2022)
Interview mit Theresa Hannig (2019)