Heyne (2023)
Aus dem Russischen übersetzt von Jennie Seitz und Maria Rajer
Originaltitel: Пост 2 (2022)
Hardcover, 448 Seiten, 22,00 EUR
ISBN: 978-3-453-32187-8
Genre: Dystopie / Near Future
Klappentext
Russland in der nahen Zukunft: Nach einem verheerenden Bürgerkrieg ist das riesige Land gespalten. Westlich der Wolga liegt das neue Zarenreich. Was im Osten noch übrig ist, weiß niemand. Der östlichste Außenposten des Reiches ist Jaroslawl, die Heimat des jungen Jegor. Ein Zug Soldaten, ausgeschickt vom Zaren, soll herausfinden, was im Außenposten passiert ist, nachdem zum ersten Mal seit Jahrzehnten jemand von Osten über die Wolga kam. Wenn Jegor seine Heimat retten will, muss er das um jeden Preis verhindern ...
Rezension
Der russische Autor und ehemalige Kreml-Korrespondent Dmitry Glukhovsky ist mit seiner Metro-Trilogie weltweit bekannt geworden. Der Band von Outpost - Der Aufbruch ist der zweite Band der gleichnamigen Dilogie, 2022 erschienen und 2023 von Jennie Seitz und Maria Rajer ins Deutsche übersetzt. Im Herbst 2024 erscheinen die beiden Bände nun als Sammelband. Aus diesem Anlass sollen die beiden Bücher vorgestellt werden.
Der Beginn des zweiten Bandes überrascht. Er bricht mit dem im ersten Band aufgebauten dystopischen Ambiente. Nichts deutet zunächst darauf hin, dass dieses Buch in der nahen Zukunft spielt. Im Gegenteil, der Prunk und falsche Glanz, in dem aus dem Zentrum der Macht, Moskau erzählt wird, erinnert an Szenen aus dem Russland des 19. Jahrhunderts. Nach der Katastrophe in Jaroslavl werden wir nun in eines mit seiner Bedeutung und seinem Wohlstand protzendes Moskau geführt und erfreuen uns an den ironischen Schilderungen über den Zarenhof mit Kosaken, Kutschen und den Balletttänzerinnen des Bolshoi Theaters. Die Bürger*innen der Stadt sind in einer prächtigen Vergangenheit gefangen, die sie den Schrecken des Bürgerkriegs vergessen lassen. Der Vater ihres derzeitigen Zaren soll sogar heilig gesprochen werden. Der derzeitige Herrscher regiert als sakrosankter Vater seiner Untertanen. Schließlich hat er den grausamen Bürgerkrieg beendet und seine Herrschaft über den Reststaat Moskowien gefestigt.
In diesen Beschreibungen der Verhältnisse in Moskau erinnert der Autor sehr stark an die Ironie eines weiteren russischen Gegenwartsautors: Vladimir Sorokin. Dieser hat etwa mit Der Tag des Opritschniks (2006, 2008) ein totalitäres Russland des Jahres 2027 beschrieben, das von einem absoluten Alleinherrscher, dem Gossudar, regiert wird und in dem der dekadente und gewalttätigen Alltag seiner Leibgarde geschildert wird. Hinter diesen Beschreibungen bleibt jedoch Glukhovsky in seinem Roman literarisch weit zurück. Den Schrecken eines real existierenden Regimes zu schildern ist bei weitem nicht so wirksam, wie es zu verspotten. Bei Glukhovsky überwiegt der Schrecken.
Die Kunde von einem vermeintlichen Aufstand im Außenposten an der Wolga ist inzwischen auch nach Moskau gedrungen. Der Zar entsendet einen zweiten Expeditionszug dorthin, eine Hundertschaft unter dem Kommando von Jura Lissizyn. Sie sollen den Gerüchten um einen möglichen Aufstand in Jaroslavl nach dem Verschwinden der ersten Expedition auf den Grund gehen und dem Zaren berichten. Die Entourage des Herrschers ist darüber nicht gerade begeistert. Mit diesem Trupp Soldaten verlassen wir erzählerisch auch Moskau.
Auch in diesem Band zerfällt die Handlung in zwei Teile. Was wir nun auf der Strecke zwischen Moskau und Jaroslavl erleben, gleicht den Horrorszenarien, die Glukhovsky bereits am Ende des ersten Bandes entworfen hat, übertrifft diese sogar durch eine vom Plot kaum zu rechtfertigende Vergewaltigungsszene. Zudem scheinen mittlerweile alle männlichen Protagonisten durch das sinnlose Wüten der Gewalt das Leben verloren zu haben. Die Katastrophe frisst ihre Protagonist*innen und verschiebt sich binnen kurzer Zeit immer mehr nach Moskau, wo sie auch dessen Bewohner*innen bedroht. Die Stadt entlang des Außenrings von schießwütigen Kosaken verteidigt, während die Stadtbewohner Vorkehrungen treffen, um sich zu schützen. Der Operettenstaat Moskowien droht sich selbst von der Landkarte Europas zu löschen.
Was hat das Buch an Überraschendem zu bieten, wenn es immer mehr in eine rhythmischen Aufeinanderfolge von Grausamkeiten schlittert, die die Leser*innen kaum zu Atem kommen lassen? Noch einmal heftet sich der Erzähler seinen verbliebenen Protagonist*innen auf die Fersen, verfolgt ihren verzweifelten Überlebenskampf in einer Atmosphäre des Verrats und der Untreue. Eine Verschwörung gegen den Zaren ist im Gange. Der Showdown wird im Bolshoi-Theater stattfinden, wo er anwesend ist: „Und indem man begeistert dem Imperator applaudiert, applaudiert man auch sich selbst.“
Wahrscheinlich, so ist man versucht zu überlegen, darf man das Buch nur als Satire auf das Regime Putins lesen und sich von den gut geschriebenen aber ständig wiederholenden Gewaltszenarien nicht abschrecken lassen. Vielleicht ist die Deutlichkeit und Unausweichlichkeit der Szenen auch mehr realen Zuständen in Russland und der Ukraine geschuldet als der Notwendigkeit der Handlung selbst. Es ist tatsächlich ein schwerwiegender Vorwurf, den man gegen Literatur erheben kann: nicht seinen eigenen poetischen Regeln zu gehorchen, sondern sich beim Schreiben von der Realität verschlucken zu lassen. Der geschilderten Schrecken ist in seiner Ausführlichkeit unnötig und verdrängt die Qualität und das Können Glukhovskys.
In zahlreichen Interviews hat Dmitry Glukhovsky seine Opposition zum Regime in Moskau deutlich gemacht. Diese beleuchten den Grundtenor der beiden Bücher, sowohl was die Gewalt als auch die rückwärts gewandten Schilderungen am Hof des Zaren betrifft. In einem Interview mit der TAZ am 10.3. 2022 spricht Glukhovsky über das, was gerade mit Russland und seinen Menschen geschieht: „Jetzt sehen wir mit eigenen Augen, wie Leute entmenschlicht werden, bevor man sie vernichtet: durch Verspottung, durch Verleumdung, durch die Verzerrung ihrer Worte und Beweggründe und indem man ihnen die Fähigkeit abspricht, als Menschen überhaupt zu fühlen und zu denken.“
Die Szenen am Hof und im Umfeld des Zaren wirken wie eine Satire über eine Scheinwelt, mit der sich die Mächtigen ein Stück weit vor der Realität schützen, die sie selbst geschaffen haben, „andächtig alles glaubend, was von den Solowjews und Tolstois dieser Welt an Binsenweisheiten verkündet wird“ (selbes Interview in der TAZ).
Lesen wir also Outpost lieber als Satire auf das heutige Russland, das sich selbst aufgegeben hat und in eine Dystopie geglitten ist, indem einzig das Überleben zählt. Glukhovsky selbst hat die Konsequenzen aus den Verhältnissen in Russland gezogen. Er musste wegen seiner scharfen literarischen Kritik am System Putin Russland verlassen und wurde 2023 von einem Moskauer Gericht in Abwesenheit zu acht Jahren Straflager verurteilt. Russische Buchhandlungen und Bibliotheken wurden angewiesen, seine Werke aus dem Angebot zu nehmen. Er antwortete mit einem neuen Buch: Wir. Tagebuch des Untergangs (2024). Dieses Buch ist keine Fiktion. Daran hat der Autor gut getan. Denn wahrscheinlich kann man im Krieg tatsächlich keine Literatur schreiben.
Fazit
Die Dilogie Outpost ist eine düstere, an Grausamkeiten und Horrorszenarien reiche Satire auf die aktuelle Situation Russlands, welche aber nur noch wenig Raum für den grossartigen Sarkasmus des Autors übrig lässt. Wer sich aber der Pein unterziehen will, sich mit den Unappetitlichkeiten eines Zombie-Szenarios auseinanderzusetzen, dem darf zu diesem Buch geraten werden. Die beiden Bände von Outpost werden im Herbst 2024 auch als Sammelband erscheinen.
Pro & Contra
- Mehr als im ersten Band der Dilogie wird offenbar, das sich hinter der Handlung die Kritik am derzeitigen Regime in Moskau versteckt.
- Fällt an erzählerischer Kraft hinter den ersten Band zurück.
- Wirkt in den Schilderungen vom Zarenhof wie der Versuch einer Kopie von Sorokins literarischer Russlandkritik.
- Bekommt trotzdem aufgrund der Qualität des Textes eine Wertung von vier Sternen.
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 3/5
Preis/Leistung: 4/5
Dies ist eine Gastrezension von Tinderness, herzlichen Dank!