Jagannath (Karin Tidbeck)

Carcosa (2024)
Deutsch von Hannes Riffel
Hardcover, 219 Seiten, 18,00 EUR
ISBN 978–3‑910914–22‑3
E‑Book, 219 Seiten, 12,99 EUR
ISBN 978–3‑910914–23‑0

Genre: Science Fiction / New Weird


Klappentext

Ein Mann verliebt sich in einen Zeppelin. Ein Kind wird in einer Konservendose geboren. Der Mitarbeiter eines Callcenters findet sich in der Hölle wieder. Eine Familie wird von geheimnisvollen Geschöpfen aus den Bergen heimgesucht. Und ein schüchterner Einzelgänger lernt von einer Hummel das Fliegen ...

In dreizehn visionären Geschichten erzählt Karin Tidbeck von ebenso grauenvollen wie herzergreifenden Schicksalen. Stilsicher und mit Witz und Ironie entführen sie uns in phantastische Gefilde, die von unserer Realität nur durch einen dünnen Schleier getrennt scheinen.


Rezension

Das Buch versammelt Kurzgeschichten, die zwischen 2002 und 2012 geschrieben wurden. Erstmals 2012 in englischer Sprache veröffentlicht, wird Jagannath nun vom Carcosa Verlag ins Deutsche übersetzt. Erscheinen soll der Band im November 2024. Karin Tidbeck wurde 1977 geboren und ist schwedische Autorin, Übersetzerin und Dozentin für Kreatives Schreiben. Ihre Kurzgeschichten und Romane (Amatka, 2017 oder The Memory Theater, 2021), übersetzte sie selbst vom Schwedischen ins Englische.

Der Titel der Sammlung bezieht sich auf eine Erzählung des Buches, ist aber gleichzeitig auch der Name für eine Inkarnation der indischen Gottheit Vishnu, die Raum, Zeit, den gesamten Kosmos durchmisst.  Jagannath wird meist als eine überlebensgrosse, bunte Holzfigur mit grossen Augen und verkümmerten Gliedmassen dargestellt. Damit ist der grundlegende Tenor dieses Buches angesprochen: das Allumfassende, sich der Realität des Alltags Entziehende, auch das Unbegreifliche und Überraschende: Eine anders gestaltete Realität. Tidbecks Kurzgeschichte mit selbem Namen erzählt Folgendes:  Ein heranwachsendes Wesen wohnt und arbeitet im Leib der Grossen Mutter und muss nach ihrem Tod erschrocken die Auflösung seiner Welt erleben. Aus dem Kopf ihrer Ernährerin herausbrechend, erblickt es ein anderes Universum. Was wird geschehen?

Die 13 Erzählungen des Bandes sind in Bezug auf die Themen und das verwendete Genre äußerst vielfältig. Im Vorwort zählt die Autorin Elizabeth Hand einige Zuordnungsmöglichkeiten auf: Fantasy, Magischer Realismus, Märchen, Science Fiction. Doch letzten Endes entziehen sich die Geschichten ihrer Kategorisierung. Mich erinnerten die Erzählungen an jenes Genre, das die Finnin Johanna Sinisalo mit dem Begriff der „Weird Fiction“ bezeichnet hat, um damit ein spezifisch skandinavisches Erzählmuster zu charakterisieren. In der Weird Fiction sei nichts sicher, meint sie, die Gesetze der realen Welt existierten dort nicht. Beim Lesen dieses Genres fühle man sich so, als würde man ein Puzzle zusammensetzen, eine völlig neue Version dieses Universums erfinden, zusammengesetzt aus den Hinweisen und Regeln, die die  Autor*innen anbieten.

Ihre Aufgabe sei es eben nicht, für ein Genre zu schreiben: im Gegenteil, sie bedienten sich der Genres, um das zu schreiben, was ihnen wichtig erscheine. Das zeigt Karin Tidbeck mit ihren Erzählungen deutlich: Wenn es dem Zweck dient, lässt sie ihre Rezensent*innen gerne im Unklaren. Tidbeks Stilmittel ist es, mit Paradoxien zu arbeiten, einen Schlenker um die Realität herum zu tun, um erzählerisch in eine andere Welt zu gelangen. Entweder bricht das Unerklärliche in die reale Welt ein oder es passiert umgekehrt. Auch die andere Welt hat sich an sich selbst gewöhnt und erschrickt über das spezifisch Menschliche, mit dem sie von der Erzählerin konfrontiert wird. Ein eigenartiges, beunruhigendes Gefühl erfasst uns beim Lesen, als sei etwas aus dem Gleichgewicht geraten.

Viele der Geschichten dieses Buches kreisen um Körper: jenen von Menschen, Tieren, Pflanzen oder unbekannten Wesen. In einer Geschichte stellt sich heraus, das die aus dem Garten aufgelesene Pflanze ein tierisch-menschlicher Mitbewohner*in ist. Frauen mästen sich, mit ihren voluminösen Körpern auf Sofas ruhend, zu Tode, um so ihre Nachfahren zur Welt zu bringen. In einer dritten Erzählung erfahren Bewohner einer nichtmenschlichen Welt, dass plötzlich, gegen ihrer Erfahrung, ein Raum-Zeit-Gefüge gelten soll. Anderswo lieben Menschen Maschinen und bekommen hybride Kinder. Dann wieder: Ein Mann erhebt sich in die Lüfte, denn er ist zu einer Hummelbrumm geworden. Letzthin: im Call-Center spricht man mit eigenartigen Kund*innen und wird von Insekten gepeinigt.

Der Trick der Erzählerin besteht darin, unvermittelt von einer Realität in die nächste zu springen und dafür nur ein Wort, eine knappen Bemerkung, einen Satz oder gar ein Wort zu brauchen. Erklärt wird der Grund für den Perspektivenwechsel nicht: denn die Ambiguität des Daseins ist eine gegebene, eine natürliche, nicht eine Besonderheit. Auch das Ende der Geschichten kündigt sich nicht an: sie enden abrupt, lassen uns zurück, voll Erstaunen, auch ein wenig ratlos. Die Erzählungen erscheinen wie Blitzlichter auf eine Welt, die man (noch) nicht verstehen kann.

Viele Situationen leitet sich dabei direkt oder indirekt aus dem Sagenschatz Skandinaviens ab, aus den Mittsommernachts-Träumen, der Dämmerung mit ihren geheimnisvollen Schatten, den langen dunklen Nächten im Norden. Eigenartige Wesen wohnen in den Wäldern, geheimnisvolle Kokons hängen an den Dachrinnen einer Sommersiedlung. Auf dem Dachboden befindet sich die Kleidung übernatürlicher Wesen, die es anzulegen gilt. Auch die Erinnerung lebt dort gerne auf: an die Jugend, den Vater, die wortlos verschwindende Mutter. Lebewesen werden in Konservendosen gezüchtet, einfach weil man jemanden braucht, um lieben zu können. Nie aber gibt es herkömmliche Liebesgeschichten, das wäre wohl zu einfach. Schließlich macht sich auch noch eine Wissenschafterin auf, um das Geheimnis eines aufdringlichen und mitunter gefährlichen Fabelwesens zu erforschen. Mit wenig Erfolg für unser Verständnis.

Es sind, so erschreckend manche Geschehnisse auch sein mögen, keine Horrorgeschichten im klassischen Sinn, die hier erzählt werden, auch  keine Märchen oder Spukgeschichten. Dinge geschehen einfach, verwundern und stimmen letzten Endes tröstlich, ist man nur bereit, sich auf sie einzulassen. Da schreckt die Erzählerin auch nicht vor so mancher geschmacklichen Grenzüberschreitung zurück, die sie nebenbei erzählt, weil sie offenbar zum Alltag gehört.

Im Stil einer unaufgeregten Chronistin berichtet Karin Tidbeck von einer Welt voller Verwerfungen. Sie nimmt uns mit auf ihrer Reise ins Zwielicht menschlicher Existenz: auf eine lakonische, fast heiter beschwingte Art. Geschickt vermeidet sie, mit esoterischem Anspruch zu arbeiten, sie entführt uns einfach nur in eine surreale Welt. Das ist wohl keine Glaubensfrage.


Fazit

In Jagannath stellt uns Karin Tidbeck in 13 Erzählungen eine merkwürdige Welt voller merkwürdiger und surrealer Begebenheiten vor, Geschichten, die immer überraschen und durch ihre abwechslungsreiche Erzähltechnik nie langweilen. Ein sehr empfehlenswertes Buch, das mit viel Kunstfertigkeit erzählt ist.


Pro & Contra

- Bewundernswert präzise Erzähltechnik
- Interessantes und ungewöhnliches Storytelling
- Gehaltvolle Unterhaltung, ohne belehrend zu wirken
- Bedauerlich, dass diese Erzählungen erst jetzt übersetzt wurden.

Wertungsterne4

Handlung: 5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3/5


Dies ist eine Gastrezension von Tinderness, herzlichen Dank!

Rezension zu "Amatka"

Tags: SF-Autorinnen, Kurzgeschichten, New Weird