Eichborn (Februar 2024)
Originaltitel: Yellowface
Übersetzerin: Jasmin Humburg
Hardcover
384 Seiten, 24,000 EUR
ISBN: 978-3847901624
Genre: Belletristik
Klappentext
June Hayward und Athena Liu könnten beide aufstrebende Stars der Literaturszene sein. Doch während die chinesisch-amerikanische Autorin Athena für ihre Romane gefeiert wird, fristet June ein Dasein im Abseits. Niemand interessiert sich für Geschichten "ganz normaler" weißer Mädchen, so sieht es June zumindest.
Als June Zeugin wird, wie Athena bei einem Unfall stirbt, stiehlt sie im Affekt Athenas neuestes, gerade vollendetes Manuskript, einen Roman über die Heldentaten chinesischer Arbeiter während des Ersten Weltkriegs.
June überarbeitet das Werk und veröffentlicht es unter ihrem neuen Künstlernamen Juniper Song. Denn verdient es dieses Stück Geschichte nicht, erzählt zu werden, und zwar egal von wem? Aber nun muss June ihr Geheimnis hüten. Und herausfinden, wie weit sie dafür gehen will.
Rezension
June ist Absolventin einer Elite-Uni wie ihre Freundin Athena Liu, hat jedoch anders als diese keinen Erfolg mit ihren Büchern. Als Athena durch einen bizarren Zufall in ihrer Anwesenheit stirbt, stiehlt June ihr neuestes Manuskript, beendet/überarbeitet es, und gibt es als ihr eigenes aus. Das verhilft ihr schließlich zum ersehnten literarischen Durchbruch. In dem Buch, „Die letzte Front“, geht es um die vergleichsweise wenig bekannte Geschichte chinesischer Arbeitskräfte in den USA während des ersten Weltkriegs. Das Buch thematisiert Ausbeutung und Rassismus und die Frage, ob sich June Hayward als weiße Autorin an den Stoff hätte heranwagen sollen, beschäftigt das Internet noch bevor die ersten Zweifel an ihrer Urheberschaft laut werden. Und natürlich droht alles ans Tageslicht zu kommen, was June in eine Abwärtsspirale schickt, die auch auf die Lesenden einen machtvollen Sog entwickelt.
„Yellowface“ ist eine Geschichte über kulturelle Aneignung, Rassismus und Ignoranz. Zahlreiche Gedanken Junes und ihre Unkenntnis über die Lebensrealitäten vieler asiatisch-amerikanischer Menschen laden zum Fremdschämen ein. Gleichzeitig wird die Thematik „Wer sollte welche Geschichte erzählen?“ durchaus facettenreich und nuanciert behandelt. Mit einiger Häme stellt June zum Beispiel fest, dass die richtigen Vorfahren keine Recherche ersetzen, und es stellt sich heraus, dass auch Athena teilweise auf grenzwertige Weise an Material für ihr Schreiben gekommen ist. Wie sich langsam ein komplexeres Bild von Athena ergibt, das zu Kritik, aber auch Mitgefühl einlädt, gefiltert natürlich durch den Blick von unzuverlässigen Erzählenden, ist eine der Stärken des Buches.
Fragen nach kultureller Aneignung und Repräsentation sind ein großes Thema. Aber eine große Stärke von „Yellowface“ liegt auch in seiner Auseinandersetzung mit dem Thema, dass auch die Autorin selbst hervorhebt, wenn sie über den Roman redet: Einsamkeit in der Buchbranche. Sie fängt die Gefühle der Figuren von Einsamkeit und Neid und Frustration ausgezeichnet ein, und auch ihre Auseinandersetzung mit Schreibprozessen fühlt sich sehr authentisch an.
Kuang schildert die Prozesse hinter der Veröffentlichung und Vermarktung eines Buches. „Yellowface“ konzentriert sich weitestgehend auf Kreise, in denen sich Autor*innen mit privilegierten Hintergründen und kommerziellem und kulturellem Erfolg aufhalten. An einer Stelle jedoch beleuchtet sie mit der Figur einer Lektorin jedoch auch Prekarität und Armut in der Branche. Auch wie Figuren auf Social Media klingen und wie sich Diskurse dort entfalten, ist gut einfangen. Das Buch ist eine überzeugende Momentaufnahme der Literaturbranche und -bubble, die nicht an Kritik an ihren Strukturen und Dynamiken spart und neben individuellen Charakterschwächen auch strukturelle Probleme und Diskriminierung aufzeigt.
„Yellowface“ hat satirische Elemente. Es ist ein Buch über Menschen, die unsympathische Dinge tun. Trotzdem ist da ein starker emotionaler Kern. June ist mit dem Großteil davon, was sie sagt, tut und denkt im Unrecht, aber es ist trotzdem gut möglich, sich in sie hineinzuversetzen und ihre Handlungen und Gedanken nachzuvollziehen. Ihre Wünsche und Träume, ihre Wissenslücken und Rechtfertigungen, Momente kleinlicher Rachsucht und Krisen fühlen sich absolut überzeugend an und irgendwie ist vielleicht nicht ihre Vorgehensweise, aber die Hartnäckigkeit, an die sie sich an ihren Traum von einer literarischen Karriere klammert, bemerkenswert. Sie ist auch als Vertreterin eines bestimmten Milieus weißer, gebildeter, nur oberflächlich progressiver Personen sehr überzeugend. Andere Figuren fungieren als Faktencheck für sie.
Junes Stimme kann auch in der Übersetzung überzeugen. Ich habe in einigen anderen Rezensionen Kritik am „Denglisch“ des Buches gesehen, aber bin nicht darüber gestolpert und finde die enge Anlehnung ans Englische angesichts dessen, wie sehr der Roman im US-Amerikanischen Buchmarkt verwurzelt ist, eigentlich sehr passend.
Fazit
Ein Buch über Autor*innen und ein Manuskriptdiebstahl als Ausgangspunkt für einen Plot hört sich erstmal ausgelutscht an. Es gelingt Kuang jedoch, diesen sehr vertrauten Elementen eine spannende Auseinandersetzung mit verschiedenen Themenkomplexen zu entlocken.
Pro und Contra
+ June wirkt absolut authentisch
+ Schilderung der Buchbranche und Aufmerksamkeit für die Strukturen, innerhalb derer sich die Geschichte entfaltet
+ Gute Schilderung von Neid und Einsamkeit
+ Facettenreiche Auseinandersetzung mit der Thematik Aneignung
+ Clevere Aufmachung der Hardcover-Ausgabe
o erfordert die Bereitschaft, eine unsympathische Figur zu begleiten
-Erfordert wie viele „durchschlagender und sofortiger Erfolg mit einem gestohlenen Manuskript“-Plots ein bisschen Aussetzung von Unglauben
Wertung:
Handlung: 4/5
Figuren: 4,5/5
Lesespaß: 4/5
Preis-Leistungs-Verhältnis: 3,5/5