Liebe Leser*innen,
was für ein Jahr ... für viele in meiner Bubble war es ein anstrengendes, oft deprimierendes Jahr voller Momente, in denen man sich fragt, ob man in einem absurden Paralleluniversum gelandet ist. Ich hatte öfter das Gefühl, in einem Science-Fiction-Roman zu leben - leider nicht in einer Utopie, sondern in einer Dystopie. Immerhin gab es auch in diesem Jahr gleich mehrere Bücher, die mich tief beeindruckt und aus denen sich viele Szenen in meine Erinnerung gebrannt haben:
"Anahita" hat mich ähnlich begeistert wie "Niemandes Schlaf" und ich kann gar nicht sagen, welches Buch mir letztlich besser gefällt, da sie einerseits viele Parallelen haben und zugleich völlig andere Geschichten erzählen. Sven Haupt hat einen wunderbaren, humorvollen und nachdenklich stimmenden Stil und "Anahita" bietet als Space Fantasy traumhafte Bilder, die man zu gerne auf der Kinoleinwand sehen würde. Der Roman spielt überwiegend auf einem Wasserplaneten, der ebenso viele Wunder wie tödliche Gefahren bereithält und handelt im Kern von Krieg und Macht und einer matriarchalischen Gesellschaft, die sich voller Leidenschaft, Kreativität und Verzweiflung einer aggressiven Übermacht entgegenstellt. "Anahita" ist Space Opera, Steampunk, Fantasy und New Weird, erinnert an James Camerons "Avatar", ist aber vielschichtiger und hat zwei starke Protagonist*innen, deren Wege sich miteinander verflechten, die sich aufeinander zu und voneinander weg bewegen und die sich auf völlig unterschiedliche Art verwandeln, um in diesem Krieg zu bestehen.
"Ich, Hannibal" von Judith und Christian Vogt
Auch "Ich, Hannibal" handelt von Krieg und widmet sich insbesondere weiblichen und queeren Perspektiven. Der Fantasyroman spielt in einem antiken Setting und ist eine phantastische Neuerzählung des legendären Feldzuges über die Alpen, allerdings ist hier Feldherr Hannibal tot - ermordet von seiner Frau, die seinen Platz einnimmt und auf einer gigantischen Elefantenbestie das Heer gegen Rom führt. Sie versucht, einen gerechten Krieg zu führen und Zivilisten, insbesondere Frauen, zu schonen. Ihr zur Seite steht die Bestienjägerin Tamenzut, die die phantastischen Kreaturen der Antike unterwirft und sie als Waffen in Hannibals Heer einfügt. Währenddessen leidet die Römerin Fulvia unter der Ungerechtigkeit des Patriarchats und wird zur Verräterin. Und so geht es auch hier um Macht, die meist Männern vorbehalten ist und die Hannibal versucht, zu ergreifen, um zu überleben. Sie erweist sich als brillante Stratega, führt ihr Heer von einem Sieg zum anderen und muss doch immer um ihre Position fürchten. In einer Welt voller Bestien erweisen sich Menschen, meist Männer, als die wahren Bestien.
"Proxi" spielt in der gleichen Welt wie "Neongrau" und "Neurobiest", allerdings weiter in der Zukunft (der Roman lässt sich wie die beiden Vorgänger gut als Einzelroman lesen). Die Polykrise (Klimakrise, Umweltverschmutzung, ...) hat den Planeten stark verändert: die Menschen leben in wenigen Megastädten wie Europolis und verbringen ihre Leben zu einem großen Teil in virtuellen Welten wie Proxi, in denen die Vergangenheit konserviert ist. Währenddessen breitet sich in Europa Proto, eine gigantische Wüste aus Müll, immer weiter aus und formt eine neue, bizarre Landschaft mit Dünen aus Mikroplastik und Plastiglomeraten, die wie verkrüppelte Bäume in den trüben Himmel ragen. Als Proxi zerstört wird, brechen Tell/Monae, Kawi und Dion in einem Solarcamper auf, um den geheimen Server mit dem Backup zu finden. Proto erscheint ihnen zunächst lebensfeindlich, doch je weiter sie in die fremdartige Landschaft vordringen, desto mehr Leben entdecken sie. "Proxi" ist ein dystopischer Roadtrip, der sich zu einer Utopie wandelt und in beeindruckenden Bildern erzählt, wie es nach der Katastrophe weitergehen könnte. Zugleich müssen sich die Protagonist*innen mit ihren persönlichen Katastrophen auseinandersetzen und finden in der Fremde zu sich selbst. Der bisher beste Roman von Aiki Mira.
"7 Sorten Schnee" von Juri Pavlovic
Mit Elfen kann ich eigentlich wenig anfangen, doch "7 Sorten Schnee" hat mich positiv überrascht und mir sehr schöne, cozy Lesestunden beschert. Der Roman spielt in einer Elfenstadt im hohen Norden der Fantasywelt, die Leser*innen von Juri Pavlovic bereits aus Büchern wie "Feuerjäger" und "Krieg und Kröten" kennen. Idalir liegt seit Jahrhunderten im Krieg mit Drachen, die vermehrt gesichtet werden, nachdem ein Fremder, der Südländer Raban, in der Stadt auftaucht. Er verfügt über magische Heilkräfte und wird fortan von den Elfen für den in ihrer Religion prophezeiten Lichtbringer gehalten. Auch Flores Tempeste glaubt daran, insbesondere da sein Schicksal eng mit dem des Lichtbringers verwoben sein soll. Flores ist der Ziehsohn einer Ritterfamilie und darf, da er mit seinem Vater nicht blutsverwandt ist, selbst nicht Ritter werden. So steht er dem Haushalt als Seneschall vor und kümmert sich unter anderem um Raban, der bei den Tempestes wohnt. Zwischen den beiden entsteht schnell eine Freundschaft - und bald mehr. Trotz oder auch wegen aller Unterschiede ergänzen sich die beiden perfekt und kommen gemeinsam einem uralten Geheimnis auf die Spur, das die Zukunft der Stadt bedroht. "7 Sorten Schnee" ist ein recht dickes Buch, dennoch fliegen die Seiten nur so dahin und es gibt viele schlicht schöne Momente voller Liebe, Freundschaft und Menschlichkeit.
"Wolfszone" von Christian Endres
"Wolfszone" ist quasi Cyberpunk in der brandenburgischen Pampa. In naher Zukunft wird Müll illegal im Wald entsorgt, unter anderem Nanotechnologie, die das hiesige Wolfsrudel infiziert und in riesige Cyborgwölfe verwandelt. Deutschland ist mal wieder gespalten: Die einen wollen die Wölfe vom Militär beseitigen lassen, während ProW@lf-Aktivist*innen für den Schutz der Tiere demonstrieren. Während in Berlin um eine Entscheidung gerungen wird, wird der Wald nahe dem Dorf Dölmov abgeriegelt. Privatdetektiv Joe Denzinger interessiert sich nicht für die Wölfe, doch sein neuer Auftrag führt ihn zum militärischen Sperrgebiet. Die Tochter eine der reichsten Frauen Deutschlands, der Chefin eines Rüstungskonzerns, soll dort im ProW@lf-Camp verschwunden sein. Also fährt Joe hin und latscht in brütender Hitze durch das Dorf, um Informationen zu sammeln. Es dauert, bis er eine richtige Spur hat, auch weil er sich ablenken lässt, doch dann wird es brandgefährlich ... "Wolfszone" ist ein höchst unterhaltsamer Thriller und zugleich Climate Fiction und Cyberpunk in einem zukünftigen Brandenburg, das austrocknet.
"Die Geißel des Himmels" von Ursula K. Le Guin
Gerade erst gelesen, Rezension folgt - aber hier schon mal: Wow, wieder ein großartiger Roman von Ursula K. Le Guin, der sich erschreckend modern liest und unter anderem die Klimakrise thematisiert. Im Kern geht es jedoch um Träume und einen außergewöhnlichen Mann, George Orr, dessen Träume die Realität verändern - und zwar rückwirkend. Er ist als Träumer der einzige, der sich erinnern kann, dass die Dinge eigentlich einmal anders waren. Orr will nicht immer wieder die Realität verändern und versucht, seine Träume mit Medikamenten zu unterdrücken. Nach einer Überdosis macht er eine Therapie und vertraut sich dem Psychiater und Schlafforscher Willam Haber an. Der glaubt Orr natürlich zunächst nicht, doch als er erkennt, dass dessen Träume tatsächlich die Realität verändern, nutzt er diese, um die Welt zu einem - aus seiner Sicht - besseren Ort zu machen. Er missbraucht Orr für seine Schöpfungsideen, doch dieser bemerkt bald, was Haber tut, weiß aber nicht, wie er ihn davon abbringen soll. Zudem führt jede Weltverbesserung auch zu Verschlechterungen (wie der Auslöschung von Milliarden Menschen) ... Ein sehr kreativer, bedrückender Roman über Träume, Schlaf und Realität und damit ein Klassiker der New Wave der Science Fiction.
Ich hoffe, ihr hattet ebenfalls einige ähnlich beeindruckende Leseerlebnisse. Zumindest von manchen weiß ich, dass hier genannte Bücher auch ihnen sehr gut gefallen haben. Ich werde jetzt mal in anderen Rückblicken stöbern, ob ich noch ein Must-Read fürs nächste Jahr entdecke - ansonsten ist in den Vorschauen bereits der eine oder andere spannende Titel in Sicht.
Ich wünsche Euch allen einen guten Rutsch und ein hoffentlich gutes neues Jahr - und natürlich viele schöne Lesestunden!
Viele Grüße
- Judith