Psyche mit Zukunft - Sieg über die Finsternis in mir (Hrsg. Jol Rosenberg)

psyche mit zukunft

ohne ohren (2024)
Paperback, 312 Seiten, 14,99 EUR
ISBN: 978-3-903296-16-9

Genre: Science Fiction


Klappentext

Fortschritt?
Neue Technologien?
Künstliche Intelligenz?
Wohnen im Weltraum?

Egal, was sie bringen mag, auch in der Zukunft geht der Alltag weiter. Menschen und andere Lebewesen essen, schlafen, lieben und leiden. Und einige von ihnen haben psychische Erkrankungen. Wie wird deren Umgang damit von neuen Behandlungsmethoden berührt? Bleiben sie Einzelkämpfer*innen oder gibt es Hilfe? Und was ist, wenn doch die sogenannte Normalität die Regeln festlegt – immer begleitet vom Flüstern des Scheiterns und Schiefgehens?

Von den regennassen Straßen der Städte bis zur kalten Einsamkeit des Weltraums – Science-Fiction ist Abenteuer. Im Kopf und zwischen den Sternen.


Rezension

Bei Psyche mit Zukunft – Sieg über die Finsternis in mir bekommen Leser*innen genau das, was der Titel verspricht: In unterschiedlichsten Zukunftsvisionen bestreiten Menschen mit unterschiedlichsten psychischen Erkrankungen sowie neurodiverse Personen ihren Alltag, überwinden sich, retten Raumstationen oder legen sich mit ungerechten Systemen an. Die 19 Geschichten widmen sich Themen wie Depression, ADHS, Phobien, Hypersensibilität, Posttraumtische Belastungsstörung, Zwänge, Burnout und Psychosen – und setzen diese überwiegend authentisch und sensibel um. Man merkt, dass hinter den Texten Expertise und Recherche stecken und dass das Lektorat gründlich war, denn auf die üblichen Vorurteile trifft man glücklicherweise nicht. Dafür erlebt man ganz unterschiedliche Protagonist*innen, die alle ihre eigenen Kämpfe kämpfen und dabei mal mehr und mal weniger Unterstützung erhalten.

In manchen Texten steht Inklusion im Vordergrund, die SF-typisch auch mit technologischen Hilfsmitteln ermöglicht wird. Andere Texte sind eher dystopisch und zeigen Diskriminierung und wie Menschen mit ihren Problemen allein gelassen werden. Für viele dürften Texte in dieser Anthologie triggernd sein – dafür gibt es vor jedem Text Content Notes. Außerdem werden stichwortartig die Themen der jeweiligen Geschichte genannt, sodass man sich beim Durchblättern schnell einen Überblick verschaffen kann. Zwischen den Geschichten finden sich außerdem drei kleine Einschübe wie die Beschreibung eines Medikaments, ein Nachrichtenverlauf und eine Kleinanzeige – eine coole Idee, allerdings wirken die drei Einschübe etwas verloren zwischen den Texten.

Wie in fast jeder Anthologie gibt es herausragende Texte, gute Texte und weniger gelungene, die hier in der Minderheit sind. Letztere fallen vor allem durch einen geringen SF-Anteil negativ auf und weil es ihnen nicht gelingt, über das Thema „Psyche“ hinaus „Zukunft“ zu zeigen. Manche Texte sind eher Alltagsbeschreibungen, die sich zwar gut lesen, aber Originalität und Spannung und manchmal auch eine richtige Handlung vermissen lassen. Es handelt sich dann eher um Zustandsbeschreibungen, in denen die Science Fiction höchstens den Hintergrund bildet. Aber kommen wir zu den guten und sehr guten Geschichten, denn davon gibt es hier einige:

Das Highlight der Anthologie ist „Ein Schritt ins Leere“ von Aiki Mira. Eine wunderschöne, melancholische Geschichte über Hypersensibilität, eine große Liebe und Trauer, die geradezu beiläufig eine komplexe Zukunftsvision zwischen Cyberpunk und Space Opera entwirft, in die man gerne einen ganzen Roman lang eintauchen würde. Ebenso beiläufig eingebunden sind queere und trans Identitäten. Neue Technologien machen es möglich, dass Körper sich ständig verändern. Dennoch ist Hypersensibilität ein Stigma, ein Defizit, das auf der Erde behandelt wird, während Menschen, die das Sonnensystem bereisen, diese als Bereicherung sehen. Aiki Mira schreibt auf einem eigenen Level, die Sprache hat einen hohen Wiedererkennungswert und wie so oft wird man von dem Text völlig absorbiert.

Zwischen Cyberpunk und Solarpunk bewegt sich „Seelenruh“ von Marie Meier, die eine Zukunft mit enormem Leistungsdruck entwirft und in der Depression ein Stigma ist. Menschen unterziehen sich heimlich einer Therapie, müssen ständig um ihre Jobs fürchten. Green hat eine Kammer entwickelt, die er Seelenruh nennt und die Depressionen für kurze Zeit auslöscht. Leider hält die Wirkung nicht lange an und häufige Anwendungen führen zu fatalen Nebenwirkungen. Green hat sich mit den Grenzen der Technologie arrangiert, während seine neuste Besucherin Door mehr daraus machen will. In dieser Geschichte steckt wahnsinnig viel – vor allem viel Cozyness in einer dystopischen Welt, Kapitalismuskritik und Widerstand.

Thorsten Küper widmet sich in „Hesitation Marks“ dem aktuellen Thema Künstliche Intelligenz und schreibt über Militärdrohnen, die sich seltsam verhalten und Militär und Presse in höchste Aufregung versetzen. Jahre zuvor verzweifelt KI-Entwicklerin Isa daran, dass aus ihrer Technologie eine Waffe gemacht wurde und will dagegen vorgehen. Thorsten Küper baut die Story sehr geschickt auf, wirft der Leserschaft immer nur so viele Informationen hin, wie es braucht, um die Spannung hochzuhalten und reflektiert dabei KI, die zum Töten eingesetzt wird – und sich dagegen entscheidet. Ein wirklich coole, vielschichtige Story mit amüsanter, nachdenklich stimmender Auflösung.

Auch Alessandra Reß widmet sich in „Götter des verschobenen Teppichs“ Künstlicher Intelligenz – auf eine äußerst humorvolle Art. Protagonistin Olivia hat Probleme mit ihrer Haus-KI, da ihre Zwangsstörung zu einem Verhalten führt, das für die KI nicht nachvollziehbar ist. Olivia versucht, ihr Verhalten zu erklären und erfindet eine Religion, um die KI dazu zu bringen, sich nach ihren Zwängen zu richten – was natürlich schiefgeht. Ein leichter, unterhaltsamer Text, über den man schmunzeln kann.

Eine ähnlich humorvolle KI-Geschichte ist „KI-ne Panik!“ von An Brenach, allerdings hat diese ein völlig anderes Setting in einem Wanderladen, der durch die Galaxie reist, immer auf der Suche nach kaufwilliger Kundschaft. Mr. K und KI Kaila sind ein eingespieltes Team, doch als plötzlich jemand eine Waffe im Laden zieht, reagiert Kaila über und Chaos bricht aus. In der Folge der Ereignisse entwickelt die KI psychische Probleme, quasi die KI-Variante einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Gut, dass Mr. K den richtigen Umgang mit seiner traumatisierten KI findet.

In „HHH“ erhält Protagonist*in Luan eine 3-H-Einheit (ähnlich einem Androiden) zu Testzwecken. Die Einheit soll dafür sorgen, dass Luan rundum glücklich und zufrieden ist, doch Luan ist depressiv. Die Einheit funktioniert perfekt, Luan hätte von außen betrachtet allen Grund, glücklich und zufrieden zu sein, doch so funktionieren Depressionen nun einmal nicht. Schließlich verzweifelt die 3-H-Einheit zunehmend daran, Luan nicht glücklich machen zu können, dabei bewirkt sie viel mehr, als Luan jemals zu hoffen wagte. Jol Rosenberg zeichnet hier ein facettenreiches Bild von Depressionen und thematisiert zudem die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz hin zu einem denken und fühlenden Wesen.

„Toter Winkel“ von Lena Richter ist ein Krimi in einem Near-Future-Setting, in dem es um die Aufklärung einer Diebstahlserie in einem MentalHealth-Hub geht, der auf Suchterkrankungen spezialisiert ist. Protagonist*in ist eine Pflegekraft, bei der mitten in der Nachtschicht Ermittler aufschlagen und die nun sicherstellen muss, dass diese ihre Arbeit machen können, aber die Patient*innen nicht gestört werden. Schließlich wird die Pflegekraft verdächtigt. Eine auf den ersten Blick simple Handlung, in der sowohl die Bedürfnisse erkrankter Menschen als auch die Belastungen der Arbeitenden im Gesundheitswesen thematisiert werden.

„Der Hobby-Friedhof“ von Lee Doubleu zeigt eine nahe Zukunft, in der ADHS-Defizite mittels Technologie ausgeglichen werden. Wohnungen sind auf die Neurodiversität abgestimmt: Herdplatten schalten sich automatisch ab, überall gibt es Displays mit piependen Erinnerungen – Medikamente gibt es allerdings nicht mehr, weil neurotypische Menschen diese zur Leistungssteigerung missbraucht haben. Während Protagonist*in Nino (genderfluid, mit wechselnden Pronomen) darunter leidet, dass es keine Medikamente mehr gibt, hat die Oma ihren ganz eigenen Weg gefunden hat, mit ihrer Neurodiversität klarzukommen. Ein bunter, quirliger Text, der Einblicke in den ADHS-Alltag gibt und zeigt, dass Problemlösungen nicht auf alle Menschen passen.

Marie Tères widmet sich in „Tulpenfarben“ unter anderem einer Zwangsstörung (Obsessive Compulsive Disorder), die einen enormen Leidensdruck erzeugt, der versteckt wird und den die meisten Menschen nicht sehen – was dazu führt, dass Betroffene falsch eingeschätzt werden. Jesa schätzt Leander falsch ein und empfindet ihn als abweisend und pedantisch. Dabei waren sie einmal Freunde, doch nun, da sie zusammenarbeiten und sie sich permanenter Kritik ausgesetzt sieht, empfindet sie Hass. Marie Tères zeigt, wie Missverständnisse zu Ablehnung führen, aber auch, wie diese Ablehnung überwunden wird und zwei Menschen zueinander finden. Nebenbei geht es um Gentechologie und das Zurückbringen verlorener Pflanzenzüchtungen.

Auch die Protagonistin in „Emmerich“ von Paula Velten leidet unter Zwangsstörungen, wobei es offiziell keine psychischen Erkrankungen in der Weltraumstadt gibt, in der Bruna lebt. Sie ist für die Kontrolle und Wartung der Technik zuständig und kommt mit ihren Zwängen und Ängsten meistens zurecht – besser als mit ihrem extrovertierten, aufdringlichen Kollegen. Während dieser sich ganz auf die Systeme verlässt, entdeckt Bruna mit ihrem Blick für Details eine Bedrohung für die Stadt. Eine gute Story, die in einem Weltraumsetting den Alltag mit Zwängen zeigt und in der die Protagonistin über sich hinauswächst.

„Retrospektive“ von Janika Rehak bildet den positiven Abschluss der Anthologie und widmet sich der Kunst und dem Kunstbusiness, das auch in der Zukunft noch ganz eigenen, undurchsichtigen Regeln folgt. Lorys van Beek blickt mit einer Ausstellung im Museum of Modern Art auf eine erstaunliche Lebensleistung zurück, die ohne eine besondere Begegnung wohl nicht möglich gewesen wäre. Dass Künstler*innen unter psychischen Erkrankungen leiden, ist zwar ein Klischee (das durchaus oft zutrifft), doch darüber sieht man im Anbetracht der gelungenen Darstellung unterstützender Strukturen hinweg.

Abschließend noch ein paar Worte zur Gestaltung der Anthologie: Das Cover im 70er-Jahre-Stil mit seinem knalligen Orange ist ein echter Eyecatcher. Die Innenseiten des Umschlags sind ebenfalls farbig und enthalten als gestalterische Elemente die Visitenkarte einer Therapeutin, eine Anzeige für ein Coaching und eine Dankeskarte an die Therapeutin. Die Autor*innenvitae finden sich jeweils vor den Geschichten, zusammen mit den bereits erwähnten Themen-Stichworten und den Content Notes. Wie bei eigentlich allen Büchern von ohne ohren sieht man auch hier, dass mit viel Liebe und Herzblut an dem Buch gearbeitet wurde. 


Fazit

Psyche mit Zukunft – Sieg über die Finsternis in mir erfreut mit einer sensiblen und authentischen Darstellung von Neurodiversität und psychischen Erkrankungen und enthält drei herausragende, sowie einige sehr gute und gute SF-Geschichten, die thematisch und stilistisch viel Abwechslung bieten und unterschiedliche SF-Subgenres bedienen.


Pro und Contra

+ „Ein Schritt ins Leere“, „Seelenruh“ und „Hesitation Marks“
+ sensible und authentische Darstellung von Neurodiversität und psychischen Erkrankungen
+ thematisch und stilistisch vielseitig
+ mehrere gelungene Texte zu Künstlicher Intelligenz
+ Diversität und casual queerness
+ tolle, originelle Gestaltung mit knalligem Cover

- teilweise zu geringer Science-Fiction-Anteil in den Geschichten
- teilweise nur Zustandsbeschreibungen

Wertungsterne4

Geschichten: 4/5
Gestaltung: 4,5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5

Tags: Cyberpunk, Space Opera, Künstliche Intelligenz, queere Figuren, nicht-binäre Autor*innen, Alessandra Reß, Aiki Mira, Kurzgeschichten, Near Future, Thorsten Küper, Jol Rosenberg