Der Schlund (Stefan S. Kassner)

der schlund

Ashera Verlag (Februar 2025)
eBook Ausgabe, 56 Seiten, 3,99 EUR
ASIN: B0DYVMQHDW

Genre: Horror-Novelle 


Klappentext

Das Leben hat es nicht gut gemeint mit Adelheid. Schien ihr als junge und schöne Frau die Welt zu Füßen zu liegen, zwang die Liebe zu ihrem Mann Elmar sie in eine Ehe und schließlich Mutterrolle, mit der sie sich nie richtig anfreunden konnte. Elmar, der stets versucht, seine Frau zufriedenzustellen, kommt bei einem Unfall ums Leben. Adelheid bleibt mit den achtjährigen Zwillingen Joseph und Karl zurück, überfordert mit der Aufgabe, sich selbst und ihre Söhne zu versorgen.

Unter den Wurzeln eines abgestorbenen Baums im Wald entdeckt sie ein Loch, aus dem verführerische Stimmen zu ihr sprechen. Alles, was sie in den Schlund werfe, würde sie verbessert zurückerhalten.

Adelheid folgt der Aufforderung, und tatsächlich erhält sie die Dinge verbessert zurück, die sie in den Schlund wirft. Was wäre, wenn sie nicht nur Dinge so verbessern könnte?

In Adelheid reift eine unheilvolle Idee heran.


Rezension

Ich bin ein großer Fan von Geschichten, die zwischen den Zeilen mehr erzählen, als es das eigentliche Buch tut. Stefan Kassners Novelle „Der Schlund“ ist genau so ein Buch. Sie bietet nicht nur eine fesselnde Erzählung, sondern auch zwischen den Zeilen grundlegende Überlegungen zu menschlicher Gier, Unzufriedenheit und dem ständigen Streben nach mehr. Kassner schafft es meisterhaft, eine beklemmende Atmosphäre zu kreieren, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in ihren Bann zieht.

Inhalt und Erzählweise

Im Zentrum der Geschichte steht Adelheid, eine Frau, die in ihrem Leben immer wieder mit Enttäuschungen und Einschränkungen konfrontiert war. In ihrer Jugend schien ihr die Welt offen zu stehen, doch ihre Ehe mit Elmar und die damit verbundene Rolle als Mutter schränkten ihre Freiheit erheblich ein. Sie bleibt nach dem unerwarteten Ableben ihres Mannes mit den achtjährigen Zwillingen Joseph und Karl zurück – überfordert, ohne Perspektive und gefangen in einer Rolle, die sie niemals wirklich ausfüllen konnte und wollte.

Eines Tages jedoch entdeckt Adelheid unter den Wurzeln eines abgestorbenen Baumes ein mysteriöses Loch – den titelgebenden Schlund. Eine dunkle, verführerische Stimme spricht zu ihr: Alles, was sie in den Schlund wirft, wird verbessert zurückgegeben. Anfangs testet sie die Wahrheit dieser Behauptung mit kleineren Gegenständen, und tatsächlich funktioniert es. Doch die Versuchung wächst. Was wäre, wenn sie nicht nur Dinge, sondern auch Menschen „verbessern“ könnte? Ein gefährlicher Gedanke beginnt, sich in ihr festzusetzen.

Der Autor erzählt die Geschichte mit einer Intensität, die an klassische Horrornovellen erinnert. Seine Sprache ist dabei schlicht und direkt, aber voller Subtext. Er stellt dabei keine plakativen moralischen Fragen oder hebt den Zeigefinger; Kassner lässt die Leser:innen selbst entscheiden, warum Adelheid der Versuchung erliegt und weshalb sie nie zufrieden mit dem Erreichten ist. Gerade diese unaufdringliche Erzählweise macht die Novelle so erschreckend realistisch.

Der Schlund als Symbol für menschliche Gier

Zwischen den Zeilen entfaltet sich eine tiefere Bedeutungsebene, die Leser:innen ganz unterschiedlich für sich entschlüsseln können. Der Schlund ist dabei nicht nur ein übernatürliches Phänomen der Fantastik, sondern steht als Symbol für die reine Gier des Individuums. Immer mehr besitzen zu wollen, nie zufrieden zu sein mit dem, was man hat – diese Gedanken treiben nicht nur Adelheid an, sondern sind auch in unserer modernen Gesellschaft omnipräsent.

Das Buch hält uns dabei gnadenlos den Spiegel vor: Wann sind wir wirklich glücklich? Wann haben wir genug? Oder sind wir am Ende immer auf der Suche nach einem „besseren“ Leben, das uns vielleicht nur noch weiter ins Verderben stürzt? Besonders eindrucksvoll ist, wie subtil Stefan Kassner mit diesen Fragen spielt. Er zwingt uns diese Themen nicht auf, sondern lässt uns selbst darüber nachdenken. Adelheids Entwicklung ist beklemmend und gleichzeitig erschreckend nachvollziehbar. Jeder kann sich in ihre Versuchung hineinversetzen – genau das macht den wahren „Horror“ dieser Novelle aus. Wir alle könnten Adelheid sein. Wir alle könnten dem Schlund verfallen.

Zeitlose und gesellschaftskritische Thematik

"Der Schlund" liest sich nicht nur als spannende Geschichte, sondern auch als Kommentar auf unsere Konsumgesellschaft. Die Novelle mahnt uns in einer Welt, die ständig nach „mehr, besser, schneller“ strebt, dass ein solcher Perfektionsdrang fatale Folgen haben kann. Kassner skizziert ein finsteres Gedankenexperiment: Was geschieht, wenn wir die Kontrolle über unsere eigene Unzufriedenheit verlieren? Wenn wir glauben, dass ein äußeres „Mehr“ unser inneres „Weniger“ ausgleichen kann?

Die Geschichte hat dabei fast schon etwas Märchenhaftes, erinnert aber auch an dystopische Erzählungen über den menschlichen Drang nach „Optimierung“. Die Frage bleibt offen: Gibt es irgendwo eine Grenze? Oder verschlingen wir uns irgendwann selbst in unserer Rastlosigkeit?


Fazit: Eine tiefgründige, eindringliche Novelle

Stefan S. Kassner ist mit „Der Schlund“ eine außergewöhnliche Novelle gelungen, die weit über ihre Handlung hinausgeht. Die Geschichte ist spannend erzählt, aber es sind die Zwischentöne, die sie so lesenswert machen. Es ist ein Buch, das nicht loslässt, sondern noch lange nach dem Lesen nachwirkt. Man ertappt sich immer wieder dabei, über Adelheid und ihre Motive nachzudenken – und über die eigenen. Gerade weil der Autor keine einfachen Antworten liefert, sondern zum Nachdenken anregt, hebt sich „Der Schlund“ von typischer Genreliteratur ab. Die Geschichte ist nicht nur eine unheimliche Erzählung, sondern auch ein Spiegel unserer Gesellschaft und ihres Strebens nach Mehr. Ist Adelheid dabei Täterin oder Opfer ihrer eigenen Unzufriedenheit? Ist der Schlund eine Chance oder eine tödliche Falle? Eine Novelle, die in ihrer Kürze eine unglaubliche Tiefe entfaltet und für Leser:innen, die gerne zwischen den Zeilen lesen, eine echte Perle ist.


Pro & Contra

+ Spannende und tiefgründige Geschichte
+ Gesellschaftskritische Botschaft ohne erhobenen Zeigefinger
+ Atmosphärisch dicht und beklemmend erzählt
+ Symbolik regt zum Nachdenken an

- manche Fragen bleiben bewusst offen, was nicht jedem gefallen wird

Bewertungsterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis / Leistung: 5/5