Die Brücke über die Drina (Ivo Andrić)

andric brcke drina

dtv, 01.08.2013, 13. Auflage
Originaltitel: Na Drini ćuprija (1945)
Übersetzung von Ernst E. Jonas und Katharina Wolf-Grießhaber)
Mit einem Nachwort des österreichischen Schriftstellers Karl-Markus Gauß
Taschenbuch, 496 Seiten
€ 14,00 [D] | € 14,40 [A] | CHF 21,90
ISBN 978-3-423-14235-9

Genre: Historischer Roman


Verlagstext

In elf weit gespannten Bögen – 250 Schritte lang, 10 Schritte breit – schwingt sich die Brücke über die Drina. Bei Višegrad, einer bosnischen Stadt nahe der serbischen Grenze, führt sie über den Fluss. Seit Jahrhunderten ist sie ein Treffpunkt für Menschen von beiden Ufern, ist Trennlinie und Bindeglied zwischen Orient und Okzident. In seinem Meisterwerk entrollt Ivo Andrić ein gewaltiges Zeitpanorama vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg und erzählt von den vielfältigen Schicksalen der Menschen, die dort aufeinandertrafen.


Rezension

Der Autor

Ivo Andrić wurde geboren am 09.10.1892 in Dolac bei Travnik, im früheren Kaiserreich Österreich-Ungarn, heutigen Bosnien. Seine Grundschulzeit verbrachte er in der Kleinstadt Višegrad, der Hauptfigur seines Romans Die Brücke über die Drina. In Sarajevo war er Mitglied von Mlada Bosna (junges Bosnien), einer Vereinigung, die die Gründung eines jugoslawischen Staates zum Ziel hatte. Dies brachte ihn zu Beginn des Ersten Weltkrieges für ein Jahr ins Gefängnis.

Er studierte Slawistik und Geschichte in Zagreb, Wien, Krakau und Graz. Sein erstes Buch, Ex Ponto, veröffentlichte er 1918. 1924 wurde er an der Universität Graz promoviert („Die Entwicklung des geistigen Lebens in Bosnien unter der Einwirkung der türkischen Herrschaft“). Von 1920 bis 1941 arbeitete er im diplomatischen Dienst, von 1939 bis 1941 als jugoslawischer Botschafter in Berlin. Als Nazi-Deutschland Jugoslawien überfiel, zog er sich zurück und schrieb während der Besatzungszeit drei Romane: Na Drini ćuprija (Die Brücke über die Drina), Travnička hronika (Wesire und Konsuln) und Gospođica (Das Fräulein). 1961 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Er starb vor fünfzig Jahren, am 13.03.1975, in Belgrad. Auf Wunsch Andrićs vergibt seit 1975 die Ivo Andrić-Stiftung den Andrić-Preis (Andrićeva nagrada). Diesen Literaturpreis erhält jeweils am 13. März ein Autor der serbischen Sprache.

Die Brücke über die Drina

Mitte des 16. Jahrhunderts lässt Mehmed Pascha Sokolovic vom Baumeister Tosun Effendi eine Brücke über den Fluss Drina bauen. Während der Bauzeit gibt es zwei Hauptbeauftragte: den grausamen und korrupten Menschenschinder Abidaga und, als dieser abgelöst wird, den moderaten Arifbeg. In der Folgezeit bis 1914 ist die Brücke mit ihrer Umgebung ein Mikrokosmos, in dem die Welt sich spiegelt. Christentum und Islam existieren hier unter sich verändernden Bedingungen.

Die Brücke über die Drina trägt den Untertitel "Eine Chronik aus Višegrad", besteht aus 24 Kapiteln und erzählt von einer Kleinstadt und einer Brücke eine Abfolge von Geschichten, die sich von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ereignen. Zu Beginn wird die Region Višegrad beschrieben. Die Leser*innen erfahren, unter welch erschwerten Bedingungen sich das Leben der durch Armut geprägten Menschen gestaltete, als es noch keine Brücke gab. Mit dem Bau entstehen auch verschiedene Legenden um die Entstehung der Brücke. Als Einzelepisode den größten Umfang nimmt während der Bauphase die grausame Pfählung eines Bauern ein, die als Anlass genommen wird, einiges über das Menschsein zu vermitteln.

Die Brücke spielt eine zentrale Rolle im Leben der Bewohner*innen Višegrads. Sie verbindet zwei Ufer und zwei Kulturen und Religionen miteinander. Da sie ein Verkehrsknotenpunkt ist, findet auf ihr und um sie herum auch ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens statt. Nach einem Sprung von mehr als hundert Jahren verändert sich das Gesicht der Region mit wachsender Geschwindigkeit, während gleichzeitig in Abständen von zwanzig bis dreißig Jahren auftretende Hochwasser immer wieder Rückschritte erzeugen und das Leben der Generationen auf ähnliche Weise strukturieren.

Die Brücke über die Drina ist ein Roman ohne lebendige Hauptfigur oder ein durchgehendes Figurenensemble. Jede historische Episode der Chronik hat ihr eigenes Personal, gruppiert um das vereinende Motiv der Brücke. Diese kann als ein Bild für das Bestehen unter wechselnden Bedingungen bis hin zu Katastrophen gesehen werden. Sie überdauert die Generationen und wird so zur stillen Zeugin der Kontinuität und des Wandels von Kulturen über mehrere Jahrhunderte. Die Menschen leben und richten sich ein in wechselnden Systemen der Repression, der Brutalität und des Raubes, bis, wie es in Kapitel 14 zusammengefasst wird, diese Systeme abgelöst werden durch einen Staat, der mit seiner Verwaltung Steuern und Abgaben aus dem Volk presst.

Die Figuren sind weder abstrakt, noch bleiben sie blass. Im Gegenteil, sie finden schnell Zugang in das Innere der Leser*innen. Am Ende stehen die Leser*innen nicht erschöpft vor einem unübersichtlichen Personalbestand, sondern haben eine umfangreiche Porträtsammlung durchschritten, die dazugehörigen Geschichten gehört, und können nun über jede dieser porträtierten Personen Anekdoten erzählen. Episoden aus Alltag, Politik, Geschichte und gesellschaftlicher Entwicklung werden mit Mythen und Legenden verwoben zu einem Text von großer sprachlicher Schönheit.


Wertungsterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5