Ashera Verlag (Februar 2025)
Print-Ausgabe, 42 Seiten, 2,99 EUR
ASIN: B0BM9W5VZN
Genre: Novelle
Klappentext
Die strengreligiöse Gruppe der ‚Children of God‘ lebt in einer fast vollständig von der Außenwelt abgeschirmten Gemeinschaft. Hat ein junger Mann mit einundzwanzig Jahren die Volljährigkeit erreicht, muss er den Gang über ein Drahtseil, das quer über eine Schlucht gespannt ist, absolvieren. So verlässt er seine Familie und seine Jugend auf der einen Seite der Schlucht, um auf der anderen Seite, die ihm zugewiesene Frau zu erreichen, mit der er eine neue Familie gründet. Als Jonas den Gang antritt, wird ihm bewusst, dass er auf ein Leben zugeht, das von einer schweren Sünde und Lüge geprägt sein wird. Er trifft eine folgenschwere Entscheidung.
Rezension
Die Novelle „Drahtseilakt“ von Stefan S. Kassner ist ein kleines literarisches Meisterwerk, verbindet sie doch auf hervorragende Weise Gefühl, Emotionalität und Relevanz auf nur wenigen Seiten. Das Thema des Buches betrifft nicht nur die LGBTQ+-Community, sondern die gesamte Gesellschaft, zeigt sie doch die Bedeutung von Identität, Glauben und Konventionen, die uns oft zurückhalten und daran hindern, uns frei zu entfalten.
Ein Ritual mit tragischer Konsequenz
Die Handlung der Novelle dreht sich um Jonas, einen jungen Mann, der in einer Art Sekte aufwächst, den „Children of God“. Diese Gruppe lebt abgeschottet und folgt festen Regeln und Ritualen, um ihre Mitglieder auf den „richtigen“ Weg zu bringen. Für Jonas bedeutet das, mit Erreichen seiner Volljährigkeit einen Drahtseilakt überwinden zu müssen – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Er soll über eine Schlucht gehen, über die ein Drahtseil gespannt ist. Dieses symbolisiert die Weiterentwicklung vom Kind zum jungen Erwachsenen. Auf der anderen Seite wartet bereits seine zugewiesene Frau, bereit, mit ihm eine Familie nach den strengen Regeln der Glaubensgemeinschaft zu gründen. Doch schon bevor Jonas das Drahtseil betritt, ist ihm klar: Das ist höchstwahrscheinlich nicht sein Weg. Denn in seinem Herzen trägt er eine Liebe, die in seiner Welt als Sünde gilt. Seine Gefühle für Phil sind echt. Doch diese Gefühle stehen im direkten Konflikt mit den Erwartungen seiner Familie, der Sekte und letztlich mit den Regeln, die ihm sein ganzes Leben lang diktiert wurden.
Die Kraft einer Entscheidung
Die Novelle erzählt dabei nicht nur vom waghalsigen Gang über ein Drahtseil, sondern auch von inneren Kämpfen und der Zerrissenheit, die vielen LGBTQ+-Personen nur allzu vertraut vorkommen dürfte. Jonas steht vor der schwersten Entscheidung seines Lebens: sich der Gesellschaft anzupassen, nach deren Regeln und Erwartungen zu leben, oder sein wahres Ich anzunehmen und damit alles zu riskieren, was er kennt. Stefan S. Kassner beschreibt Jonas' inneres Dilemma mit einer Feinheit, die wirklich sehr berührt. Die Angst vor dem Ausschluss, vor der Verurteilung, vor dem Unbekannten ist greifbar und überzeugend geschildert. Zugleich wird jedoch auch die starke Kraft der Selbstbestimmung deutlich. Jonas erkennt, dass er eine Wahl hat – dass jeder eine Wahl hat. Genau diese Entscheidung ist der eigentliche Drahtseilakt.
Sprachliche Meisterleistung in kompakter Form
Dem Autor gelingt es, auf wenigen Seiten eine Dichte an Emotionen und Botschaften unterzubringen, die viele Romane auf längeren Strecken nicht erreichen. Jeder Satz sitzt, und jedes Wort scheint genau ausgewählt zu sein. Die Sprache ist nicht überladen, sondern direkt und eindringlich. Sie führt uns mitten in Jonas' Gefühlswelt und lässt uns Ängste, Hoffnungen und verzweifelte Sehnsucht hautnah miterleben.
Dabei ist besonders die Authentizität hervorzuheben. Jonas ist ein durchschnittlicher Mensch, der um seine Gefühlswelt und seine Wahrheit kämpft – ein Kampf, den viele kennen und nachvollziehen können. Jonas' Unsicherheiten, die inneren Konflikte und die bedrückende Last der gesellschaftlichen Erwartungen sind universell und betreffen uns alle auf gewisse Weise. „Drahtseilakt“ zeigt, wie eng Religion, Identität und Selbstbestimmung miteinander verflochten sein können und wie schwer es ist, sich aus diesem starren System zu befreien.
Ein Ende, das zum Nachdenken anregt
Die Geschichte nimmt dabei eine finale Wendung, die anders verläuft, als man es erwarten würde. Doch sie erfüllt ihre Botschaft: „Du hast die Wahl.“ Sie zeigt, dass Entscheidungen Konsequenzen haben und dass nicht jeder Kampf ohne Verluste ausgeht. Doch die Botschaft dahinter ist klar: Jeder Mensch hat das Recht, seinen eigenen Lebensweg zu gehen, auch wenn dieser riskant und herausfordernd sein kann.
Fazit: Ein literarisches Kleinod mit großer Wirkung
„Drahtseilakt“ ist eine Novelle mit einer starken Botschaft im Kern. Sie ist weit mehr als eine Geschichte über religiöse Gemeinschaften oder die Schwierigkeiten eines jungen Mannes. Sie ist ein Plädoyer für Selbstbestimmung, für Mut und für die Freiheit, zu lieben, wen immer wir auch lieben. Stefan S. Kassner beweist mit diesem Werk erneut sein feines Gespür für zwischenmenschliche Konflikte und existenzielle Fragen. Die Novelle ist kurz, aber ihre Wirkung nicht. Sie berührt und regt zum Nachdenken an. Wer tiefgehende, bewegende Geschichten mag, die sich mit echten und greifbaren Problemen befassen, sollte „Drahtseilakt“ unbedingt lesen.
Pro & Contra
+ intensiv erzählte Geschichte mit großer emotionaler Tiefe
+ wichtige gesellschaftliche und LGBTQ+-relevante Thematik
+ sprachlich präzise und berührend
- teils schwere Thematik, die emotional belastend sein kann
Bewertung:
Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis / Leistung: 5/5