Selfpublishing / Tredition (März 2024)
Paperback, 400 Seiten, 20,00 EUR
ISBN: 978-3384427373
Genre: historische Urban Fantasy / Science Fantasy
Klappentext
Ende der 1920er-Jahre ist der Physikerin Nike Wehner eine bahnbrechende Entdeckung geglückt: Durch die Vereinigung von Naturwissenschaft und Kunst ist es möglich, Magie zu wirken. Diese neuentdeckte Wechselwirkung erfordert keine angeborene Begabung, sondern ist erlernbar – in Berlin hat ein Wettrennen um die Herrschaft über die Magie begonnen.
1930 zeichnet sich ein Sieger ab: Während die Schwarzen Scharen, denen Nikes früherer Magiepartner Sandor Černý angehört, den Kampf um die Straße verliert, unterwandern die Nazis alles von Armenküchen bis hin zu Behörden und Infrastruktur mit Magie. Nike, die als Kriminalassistenz magische Verbrechen aufklärt, muss erkennen, dass die Polizei längst Teil des Problems ist. Was könnte ein Haufen desillusionierter Queers, Künstler, Jüdinnen und Anarchisten gegen eine solche Übermacht ausrichten?
Rezension
„Die Welt behauptete mit einem solch unwissenschaftlichen Starrsinn, dass es nur eine vorgesehene Art zu leben gab. Beinahe hätte sie es ihr abgekauft – selbst in einer Stadt wie dieser, wo sie hätte nur links und rechts schauen müssen, um zu erkennen, dass sie nicht die Erste und ganz gewiss nicht die Einzige war, deren Zahnrad nicht in diese Maschinerie passte …“ (Seite 40)
Die Büchse der Pandora wurde geöffnet – Magie ist nun Teil der Welt. Während Nike Wehner den Titel Doktor der Physik erhält, stürzt das Land in eine schwere Wirtschaftskrise. Die Linken – Anarchisten und Kommunisten – bekämpfen sich gegenseitig auf den Straßen, während die Nazis Menschen mit magischer Suppe manipulieren und Kriminelle Magie für Einbrüche nutzen. Nike hat sich entschieden, weiterhin als Beraterin bei der Polizei zu arbeiten, um zu sehen, wofür ihre Entdeckung genutzt und missbraucht wird. Die Polizei greift gerne auf ihre Expertise zurück, doch ihr werden auch Informationen vorenthalten – weil sie nicht aussieht, wie eine Frau aussehen sollte, weil sie mit einer Frau zusammen ist, die die Gesellschaft nicht als Frau akzeptiert, und weil sie als Tochter einer ägyptischen Muslima als semitisch wahrgenommen wird. Anfangs ist man unhöflich zu ihr, zuweilen respektlos, doch viel zu schnell wird es gefährlich für Nike, während die Polizei das Treiben der Nazis wohlwollend übersieht.
Der Künstler Sandor Černý hat sich mit seiner versteinerten Hand arrangiert und nutzt Magie, um deren Form zu ändern, sodass er Gläser und Zigaretten halten kann und eine steinerne Faust ballen, um Nazis zu verprügeln. Er träumt davon, mit den Anarchisten die Welt zu verändern und unterstützt sie bei der Erstellung und Verteilung von Flugblättern, die Magie allen Menschen zugänglich machen soll. Dabei bewegen sie sich in einem gesetzlichen Graubereich – Ärger mit der Polizei ist vorprogrammiert. Nazis greifen die Druckerei der Anarchisten an und zusätzlich machen ihnen die Kommunisten das Leben schwer, da sie der Meinung sind, Magie wieder aus der Welt schaffen zu müssen. Doch auch unter den Anarchisten gibt es Streit, umso mehr, je gefährlicher das gesellschaftliche Klima für sie wird. Dabei müssen die Linken gerade jetzt zusammenhalten, wo die Nazis eine Möglichkeit gefunden haben, auf magische Weise in die Köpfe der Menschen einzudringen …
„Anarchie Déco 1930“ legt den Fokus stärker noch als der erste Band auf die gesellschaftspolitischen Verwerfungen wenige Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, die in diesem Roman eine allgegenwertige Bedrohung im Hintergrund sind. Die Protagonist*innen halten sich von den Nazis fern, da sie als Marginalisierte längst als Feinde ausgemacht wurden. Gleichzeitig wollen Nike und Sandor ein Auge auf die Faschisten haben. Vor allem Nike glaubt zunächst noch, wenn sie Beweise für die Verbindungen zwischen Polizei und SA findet, könnte sie etwas dagegen tun. Und Sandor glaubt zu Beginn des Romans noch, dass er mit seinen anarchistischen Idealen die Welt verändern könnte. Beide werden schmerzhaft enttäuscht, denn die Gesellschaft kippt unaufhaltsam Richtung Faschismus und der Feind scheint ihnen mindestens zehn Schritte voraus zu sein.
„Welche Hoffnung gab es noch, dass sich wieder Arbeit finden würde? Dass Nahrung und ein Dach über dem Kopf wieder eine Selbstverständlichkeit wurden, und die Sorgen nicht mehr Tag um Tag verschlingen würden? Und generell: Welche Hoffnung gab es, dass die Machtlosen je etwas anderes sein würden als das?“ (Seite 235)
In „Anarchie Déco“ hat Nike für sich erkannt, dass sie weder Frau noch Mann ist, sondern etwas dazwischen. Und durch Georgette, eine trans Frau, hat sie Einblick in eine queere Welt erhalten, in der sie sie selbst sein kann und zugleich herausfinden, was das für sie bedeutet. Doch alte Ressentiments und das Erstarken der Nationalsozialsten zwingen Nike zurück in die Deckung, es ist zu gefährlich, öffentlich sie selbst zu sein. Sogar ihre eigene Mutter, die sie zuvor noch in ihrer Selbstfindung unterstützt hatte, drängt sie zunehmend, sich anzupassen – aus Angst und Irritation über Georgette und die Beziehung, die Nike mit ihr führt. Georgette wird einerseits von Nikes Mutter toleriert, andererseits ist es ein Tabu, über die Art ihrer Beziehung zu Nike zu sprechen. Doch während die Mutter Probleme hat, ihre anerzogenen Denkmuster zu überwinden, herrscht bei den Faschisten blanker Hass auf Menschen wie Nike und Georgette.
Auch Sandor setzt sich im zweiten Band mit seiner queeren Identität auseinander, liebt er doch seinen besten Freund und will so vieles von ihm, was über Freundschaft hinausgeht. Aus Bewunderung für seine anarchistischen Träume wird eine schwere Verliebtheit, während die beiden permanent der Bedrohung durch Nazis, durch die Polizei oder die Kommunisten ausgesetzt sind. Sandor muss im Verlauf der Handlung erkennen, dass die Gesellschaft nicht bereit für ihre anarchistischen Utopie ist und dass nicht alle Menschen dafür geeignet sind. „Anarchie Déco 1930“ ist eine Geschichte über zerbrechende Träume, die Protagonist*innen erfahren immer wieder Enttäuschungen und eine Zunahme der Feindseligkeit ihnen und anderen marginalisierten Gruppen, vor allem den Juden, gegenüber. Trotzdem sind es gerade diese Marginalisierten, die zwar nicht den Faschismus aufhalten können, aber den Nazis einen schweren Schlag versetzen.
„Entweder würde alles anders, radikal neu, eine Art des Zusammenlebens, ohne einander zu beherrschen, zu beneiden, zu berauben, radikaler noch als die Idee vom zusammengekoppelten Wohnen und Leben (…) Oder es würde das Gegenteil, und eine Herrschaft würde sich aus dem ebenso magischen wie weltlichen Chaos, dem Elend, der Unsicherheit erheben und alles zermalmen, was sich ihr entgegenstellte.“ (Seite 261)
Wie bereits im ersten Band treten in „Anarchie Déco 1930“ historische Figuren auf: namhafte Physiker wie Albert Einstein oder auch Konrad Lorenz, der Mitarbeiter bei des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP war und im Roman den Nazis die Vorlage für eine magische Waffe liefert. Auch die Schwarzen Scharen, die Anarchisten, gehen auf reale Gruppierungen zurück, wobei Sandor und seine Freunde fiktive Figuren sind. Historische Fakten und Fiktion verschmelzen zu antifaschistischer Phantastik, der es gelingt, die komplexe und unheilvolle politische Gemengelage der damaligen Zeit abzubilden und um den Faktor Magie zu erweitern. Im ersten Band wurden noch stärker die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Magie herausgearbeitet, im zweiten Band erscheint sie zunehmend als das, was sie letztlich ist: Fantasy. Judith und Christian Vogt es gelungen, die unterschiedlichen Reaktionen auf die magischen Phänomene zu zeigen so wie die Begehrlichkeiten, die entstehen: Magie wird zur Waffe und zum Propagandawerkzeug.
„Anarchie Déco 1930“ ist ein politischer Roman und zugleich die sehr persönliche Geschichte junger Menschen, die von der Gesellschaft als „anders“ markiert, ausgegrenzt und angefeindet werden. Das Politische dringt bis in ihre Schlafzimmer, stellt in Frage, wen sie lieben und begehren dürfen. Die Bedrohung wird so groß, dass Nike zwischenzeitlich bereit ist, sich in der Öffentlichkeit zu verleugnen. Die Verbreitung faschistischen Gedankenguts verbaut ihr die Zukunft, auf die sie gehofft hatte, bedroht ihre Karriere, ihre Familie und ihre Liebe. Doch die Bedrohung, die sie beinahe entzweit, bringt Nike und Georgette einander noch näher. So gibt es neben all dem Schmerz in dieser Geschichte auch hoffnungsvolle Momente voller Nähe, wobei man sich mehr von diesen gewünscht hätte.
Noch ein paar Worte zur Entstehung dieses Romans, der von den Autor*innen selbst veröffentlicht wurde – dank eines Stipendiums und eines erfolgreichen Crowdfundings. „Anarchie Déco“ hat eine kleine Leserschaft so sehr begeistert, dass der Zielbetrag des Crowdfundings schnell erreicht war, wodurch „Anarchie Déco 1930“ charmanterweise auf ähnliche Art wie eine der anarchistischen Schriften im Roman entstanden ist. Das Cover stammt von Sameena Jehanzeb, die sich am Art-Déco-Stil des ersten Bandes orientiert hat, mit dem gewählten Farbschema jedoch mehr überzeugt. Die Laternen spielen eine wichtige, schaurige Rolle im Roman und passen damit perfekt aufs Cover.
„Ich habe gedacht, ich kann es herausfinden. Ich bin zum ersten Mal – ich bin die erste Generation, die es kann. Die es herausfinden kann. Die über die Zäune klettert. Die ihre Wahrheit nicht für sich behalten muss wie ein … Gefühl, das sich nicht gehört, das falsch ist, das verleugnet werden muss. Ich habe gedacht, dass es laut werden kann und real, wie Physik, wie Magie. (…) Das ist vorbei.“ (Seite 239)
Fazit
„Anarchie Déco 1930“ ist durch und durch politische Phantastik, die von den Kämpfen junger Marginalisierter im aufsteigenden Faschismus erzählt. Hier werden Träume zerschlagen und Hoffnungen zerstört, Anarchisten und Kommunisten bekriegen sich, während die Nazis die Straßen übernehmen und in die Köpfe der Menschen dringen. Dunkle Zeiten sind angebrochen, doch die Protagonist*innen finden Hoffnung in ihrem Zusammenhalt und leisten Widerstand.
Pro und Contra
+ Magiekonzept, das auf Wissenschaft basiert
+ marginalisierte, queere Figuren und ihre Kämpfe im aufsteigenden Faschismus
+ erfasst die komplexe gesellschaftliche Gemengelage Anfang der 1930er
+ Historik und Fiktion verschmelzen zu einer schmerzhaften Geschichte des Widerstands
+ kleine Hoffnungsschimmer und kreative Ideen
+ progressive, politische Phantastik
+ schickes Art-Déco-Cover
o funktioniert auch als Einzelroman
- dieses Mal kommt die Wissenschaft etwas zu kurz
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5
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