Robert Menasse schreibt an Science-Fiction-Roman

Letzter KZ-Überlebender im Jahr 2030 und 80-Jahr-Jubiläum der Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Mittelpunkt der Handlung

Der Schriftsteller Robert Menasse hält sich derzeit wegen Recherchen für ein Buch in Brüssel auf. Wie er am Dienstag im Gespräch mit dem flämischen Philosophen Geert van Istendael im Brüsseler Internationalen Literaturhaus Passa Porta sagte, soll die Handlung im Jahr 2030 angesiedelt sein. Seine eigene Sicht habe sich im Zuge der literarischen Suche verändert, so Menasse. Anfangs sei er von Kritik an der EU-Bürokratie geprägt gewesen, mittlerweile sehe er darin "eine neue Qualität des europäischen Josephinismus".

Die Handlung des Zukunftsromans skizzierte Menasse so: Die EU-Institutionen bereiten sich auf das 80-Jahr-Jubiläum der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl - dem Vorläufer der heutigen EU - vor. Durch Zufall entdeckt ein Mitarbeiter des EU-Kommissars für kulturelle Angelegenheiten, dass es weltweit nur noch einen Menschen gibt, der aus einem Konzentrationslager der Nazis befreit wurde. Der EU-Kulturfunktionär will diesen Mann in den Mittelpunkt der geplanten Feiern stellen, da ja die Gemeinschaft auf dem Grundkonsens "Nie wieder Auschwitz" gegründet worden sei.

"Letzter Zeitzeuge der Hölle"

Dies führe der Welt aber auch vor Augen, dass mit dem "letzten Zeitzeugen der Hölle" auch die ideologische Grundlage der EU in weite Ferne rücke. "Damit ist Auschwitz so weit entfernt wie die Punischen Kriege" - und diese würden auch nicht als Grundlage einer Wirtschaftsgemeinschaft herhalten, so Menasse.

Der österreichische Schriftsteller hat - wie er in der vom Österreichischen Kulturforum organisierten Diskussionsrunde erklärte - die vergangenen zwei Wochen im EU-Beamtenapparat verbracht. Sein Eindruck: "Aufgeklärte Beamte, die niemand gewählt hat, produzieren eine gesamteuropäische Rationalität." Diese werde im Prinzip nur von zwei "Störfaktoren" durchkreuzt, nämlich von gewählten Politikern und der öffentlichen Meinung - beides Grundprinzipien der Demokratie. Mit dem Lissabon-Vertrag habe die EU die Gewaltenteilung "definitiv aufgehoben", meint Menasse. Doch dies gelte nur unter Voraussetzung des klassischen Demokratiebegriffs. Über die Demokratie in ihrer heutigen Ausprägung zu sprechen sei damit so etwas wie "der letzte Tabubruch" geworden.


Quelle: derstandard.at