Das Leben kleben (Marina Lewycka)

Verlag: dtv, April 2010
SC, 458 Seiten, € 14,90
ISBN: 978-3423247801

Genre: Belletristik


Klappentext

„Als ich Wonder Boy zum ersten Mal sah, pinkelte er mir ans Bein. Vermutlich sollte es eine Warnung sein. Ziemlich vorausschauend von ihm, wenn man bedenkt, wie die Geschichte ausging.“

Georgie Sinclair hat gerade ihren Mann vor die Tür gesetzt, ihr Sohn entwickelt eine beunruhigende Vorliebe für Weltuntergangs Websites, und ihren Job bei einem Klebstoff Fachmagazin findet sie auch nur bedingt faszinierend. Da trifft sie eines Tages Mrs. Shapiro, die allein in einem halb verfallenen Haus lebt. Die verschrobene alte Dame ist Jüdin und kurz vor dem Zweiten Weltkrieg nach London geflohen. Allmählich erfährt Georgie mehr über ihre bewegende Lebensgeschichte. Als Mrs. Shapiro ins Krankenhaus muss, bittet sie Georgie, sich um das baufällige Haus zu kümmern. Gleich mit ihrer ersten Tat setzt sich Georgie gehörig in die Nesseln. Der Handwerker, den sie mit Reparaturen beauftragt, ist keineswegs Pakistani, wie sie dachte, sonder Palästinenser. Eine potenziell heikle Konstellation. Zusätzliche Komplikationen ergeben sich durch zwei geldgierige Immobilienmakler, eine arglistige Sozialarbeiterin und Georgies Ehemann


Die Autorin

Marina Lewycka wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Kind ukrainischer Eltern in einem Flüchtlingslager in Kiel geboren und wuchs in England auf. Sie lebt in Sheffield und unterrichtet an der Sheffield Hallam University.


Rezension

Wieder nur ein weiterer Frauenroman? Oder was möchte uns Marina Lewycka mit diesem Titel nur sagen? Passen Abhandlungen aus der Welt der Klebstoffe in einen Roman? Sie passen – wie die Faust aufs Auge und ihre kurzen Einführungen sorgen für eine ganz besondere Note in dem neuesten Werk der Autorin. Genauso wie die ganzen herrlich skurrilen Personen, die in das Leben von Georgie Sinclair treten, plötzlich und unvorbereitet.

Georgie hat ihren Mann vor die Tür gesetzt, jetzt ist sie alleine mit ihrem Teenager Sohn Ben, der ihrer Meinung nach viel zu häufig vor seinem Computer klebt. Eines Tages lernt sie ihre alte schrullige Nachbarin Naomi Shapiro kennen, die alleine mit ihren Katzen in einer riesigen, verwahrlosten Villa haust. Als sie nach einem Unfall im Krankenhaus landet, tritt der Sozialdienst auf den Plan, der sie am liebsten enteignen und die Villa auf nicht ganz koscheren Wegen gewinnbringend verkaufen möchte. Georgie kommt hinter die Machenschaften und versucht mit allen Mitteln, sie zu enttarnen und Naomi zu helfen. Die beiden Immobilienmakler Mark Diavollo und Nick Wolfe sind ihr dabei – wenn auch nicht ganz uneigennützig – eine große Hilfe. Genauso wie Miss schlechter Aal vom städtischen Sozialdienst, die sich dafür einsetzt, dass Senioren so lange wie möglich in ihren eigenen vier Wänden bleiben können. Und dann gibt es noch Mr. Ali, einen All-Round Handwerker mit seinen beiden nichtsnutzigen Neffen. Sie alle wirken wie Karikaturen, völlig skurril und überzogen und eigentlich nicht von dieser Welt. Aber wenn man dann einen Blick hinter ihre Masken wirft, erkennt man Geheimnisse, Verzweiflung und vielschichtige Charaktere, die das Leben geprägt hat.

Wann genau haben sich eigentlich die vielen ernsten Töne eingeschlichen? Davon gibt es eine Menge, denn Marina Lewycka spielt die Melodie des Lebens nicht nur an, sie vertieft sie und bringt den Leser zum Nachdenken und vor allem dazu, Blicke hinter Fassaden zu werfen. Ben, der glaubt, die Endzeit ist nah und sich auf diversen obskuren Websites erkundigt, kommt mit der Trennung seiner Eltern eigentlich ganz gut zurecht. Aber er weiß nicht, was er glauben soll – können sich denn Millionen von Menschen wirklich so irren? Einfühlsam beschreibt die Autorin die verwirrenden Gefühle eines Teenagers, der sich mit allen möglichen Glaubensrichtungen beschäftigt und einfach nicht das Richtige findet. Wer ist Naomi Shapiro wirklich? Auf der Suche nach Papieren stößt Georgie auf einige Ungereimtheiten und merkwürdige Photos und Briefe. Sie reichen weit in die Vergangenheit und enthüllen erschütternde Schicksale im Nationalsozialismus. Besonders schockierend ist der Lebensbericht von Mr. Ali, der aus Palästina fliehen musste, als der Staat den vertriebenen Juden des Zweiten Weltkriegs versprochen wurde. Unfassbar auch die Ignoranz den Senioren gegenüber und deren Hilflosigkeit, sich skrupellosen Geschäftemachern entgegenzusetzen, die ihre wertvollen Besitztümer gewinnbringend für sich ausnutzen wollen. Ein Fünkchen Wahrheit ist bestimmt enthalten in der Art und Weise, wie Naomi Shapiro im Krankenhaus und anschließend im Altersheim behandelt wird.

Marina Lewycka bringt uns all diese ernsten Themen näher, oft mit einer Spur Ironie und Alltagswahnsinn. Ihr Stil ist flüssig und man merkt kaum, wie die Seiten fliegen. Selbst die trockenen Abhandlungen über die verschiedenen Klebstoffarten schildert sie einprägsam und absolut fesselnd. Ihre Sprache ist recht bildhaft und nicht zu übertrieben, wenn die Situationskomik mal wieder zuschlägt. Ihr sprachliches Spiel mit Namen ist sehr gelungen und sorgt für so manchen Schmunzler. Sie beschönigt nichts und mehr als einmal steigen einem beim Lesen nicht nur angenehme Düfte in die Nase. Insgeheim fragt man sich, ob Menschen wirklich so leben wie Naomi Shapiro, aber davon wird es bestimmt mehr geben, als man glaubt.


Fazit

Ein unheimlich vielschichtiges Buch hat uns Marina Lewycka hier präsentiert. Sie schafft es, ernste Themen in einen skurrilen Roman zu verpacken, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen. Ein Buch, was den Leser zum Lachen bringt, zum Nachdenken anregt und einfach nur unheimlich gut unterhält. Diese Mischung ist der Klebstoff, der den Leser an das Buch fesselt und ihn auffordert, doch einmal genauer in die Gesichter seiner Nachbarn zu schauen.


Pro und Contra

+ Situationskomik
+ bildhafte Sprache
+ ernste Themen
+ vielschichtige Charaktere
+ fesselnder Erzählstil
+ regt zum Nachdenken an
+ skurrile Personen
+ berührende Lebensgeschichten

Wertung: 

Handlung: 4/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5