Der Kinderdieb (Brom)

PAN (Februar 2010)
Hardcover, Seiten: 654
Preis 16,95€
ISBN: 978-3-426-28329-5

Genre: Fantasy


Klappentext

Leise wie ein Schatten streift ein merkwürdiger Junge durch die dunklen Straßen von New York. Er nennt sich Peter und ist auf der Suche nach Kindern und Teenagern, die in einer aussichtslosen Situation nicht mehr weiterwissen. Peter rettet sie ... und bietet ihnen an, sie in sein magisches Reich zu führen, in dem niemand je erwachsen werden muss. Doch Peter verrät ihnen nicht, dass dort nicht nur magische Geschöpfe und das Abenteuer ihres Lebens auf sie warten, sondern auch größte Gefahr

Vor 99 Jahren schuf James M. Barrie mit Peter Pan einen Mythos des 20. Jahrhunderts, der jede Generation aufs Neue begeistert. Nun ist es an der Zeit, Peters wahre Geschichte zu erzählen, und von einem Land voller Magie und Gewalt, Lügen und Abgründe, großer Liebe, falscher Freunde und echter Helden.


Rezension

Nick ist eines jener Kinder, deren Leben nicht eben das schönste ist. Sein Rucksack ist mit Drogen gefüllt, die er einem Dealer geklaut hat, der Nick bevorzugt mit glühenden Kippen quält. Sein Diebstahl jedoch wird schnell entdeckt und der Junge gestellt. Er weiß, dass er diese Nacht nicht überleben wird, aber dann taucht er auf. Der Junge, der sich ihm als Peter vorstellen wird. Er überwältigt die Drogendealer ganz alleine. Eine Mischung aus Zu- und Abneigung gegenüber seinem Retter überkommt Nick. Die warnende Stimme in seinem Hinterkopf ignorierend folgt er Peter in die Nacht und schließlich nach Avalon. Einem verzauberten Ort, an dem ein Junge nie zu einem Mann werden muss und sich seine Kindheit bewahren kann. Was Nick nicht weiß, Avalon wird von etwas Bösem bedroht und ein Kampf ist unausweichlich.

1902 erblickte der Junge, der nie erwachsen werden wollte – Peter Pan – in dem Buch „The little white bird“ das Licht der Welt. 1911 schreibt James Metthew Barrie die Geschichte, die alle Welt als „Peter Pan“ kennen lernen durfte. Seitdem wurde die Erzählung in vielfacher Form adaptiert. Größtenteils handelte es sich um Bühnenstücke oder Verfilmungen. Während Steven Spielberg mit „Hook“ eher ein Sequal kreiert hatte, war P.J. HogansPeter Pan“ im Jahre 2003 die wohl originalgetreuste Verfilmung. Den meisten wird Peter Pan allerdings aus der Walt Disney Produktion bekannt sein. Ungleich der Disney typischen Verniedlichung, ist die Ursprungsgeschichte von Peter recht brutal. In der heutigen Zeit, in der Blut und Gewalt offen auf Papier gebracht werden können, fällt es kaum auf. Zwischen den Zeilen zeigt sich jedoch, dass Peter Pan die Kinder ins Nimmerland aus egoistischen Gründen mitnimmt und dass es dem Jungen nicht schwer fällt seinen Gegner eiskalt zu töten. Diese Erkenntnis war es, die Brom dazu brachte, diesen Roman zu verfassen. Brom stammt in erster Linie aus der Computerspiel- und Filmbranche, in der er als Illustrator arbeitete und Konzepte entwickelte. Mit „Der Kinderdieb“ besteht nun eine sehr gute Chance, als Autor einen Durchbruch zu erleben.

Der Prolog erinnert stark an die kindgerechten Einstiege. Peter landet auf dem Fenstersims und nimmt die Mädchen und Jungen mit. Während die Motive zu fliehen meist nur Neugierde und Abenteuerlust waren, sind es in diesem Buch nachvollziehbare Gründe, die Flucht anzutreten. Es sind misshandelte Kinder, sowohl psychisch als auch körperlich, die zwischen all den ungerechten Erwachsenen keiner schönen Zeit entgegensehen. Mädchen, die es ertragen müssen, dass der eigene Vater sich an ihnen sexuell vergeht, Jungen, die Hänseleien und Schlägen ausgesetzt sind. Dieses Szenario ist bedrückend und frustrierend, was besonders an der Tatsache liegt, dass es alltäglich ist. Umso schlimmer ist es, dass sich Peter, der Retter in der Not, nicht als Freund herausstellt. Stattdessen erkämpft er sich das Vertrauen der Opfer und nimmt sie mit nach Avalon, wo sie mehr Schmerz und Angst erwartet.
Das erste Drittel des Buches lässt den Leser im Unklaren, was die Absichten von Peter sind. Eine unangenehme Vorahnung macht sich breit, denn Peter scheint alles andere als vertrauenswürdig zu sein. Leider wird Peter so geheimnisvoll beschrieben, dass dessen schlussendlichen Absichten zwar überzeugend sind, aber auf eine gewisse Art und Weise enttäuschend harmlos. Nach dem Lesen des Klappentextes und dem ersten Drittel hätte man hinter dem Protagonisten eine Kinder verschlingende Bestie erwartet. Einerseits bleibt Brom der Figur im Original treu, andererseits hätte die Geheimniskrämerei nicht so aufgeplustert werden dürfen. Tatsächlich ist dies aber das einzige Manko, das Brom vorgeworfen werden kann.
Aus Nimmerland ist Avalon geworden. Der Name ist kein Zufall, denn es handelt sich um den aus der Arthussage bekannten magischen Ort. So gelingt es dem Autor die Geschichte noch näher an den Leser zu bringen. Denn obwohl Avalon ebenfalls ein erfundener Ort ist, so ist es dennoch tief verwurzelt in den Hinterköpfen der Menschen. Auch hier ist Avalon umgeben und versteckt vom Nebel und nur Eingeweihte können den Weg dorthin finden.
Die Mischung der zwei Geschichten gelingt sehr gut. Anleihen aus der Arthussage sind allgegenwärtig, aber wichtige Elemente wie der Kapitän, der Erzfeind von Peter, bleiben erhalten. Besonders erfreulich hierbei ist die stetige Nähe zu einer realistischen Erklärung. Brom bemüht sich zu jeder Zeit, eine Motiv für die Geschehnisse zu finden, die trotz der fantastischen Rahmenhandlung nachvollziehbar bleiben.

Das Gleiche findet sich bei der Charakterdarstellung. Der Roman ist aufgeteilt in zwei Erzählperspektiven. Die meiste Zeit ist es die Sicht von Nick, die die Geschichte voranbringt. Seine Ängste und Gefühle sind ohne Ausnahme nachvollziehbar und die daraus resultierenden Handlungen ebenfalls. Zwischen all den anderen Kindern ist er derjenige, der Peter nie gänzlich vertraut, was vermutlich auf sein Alter zurückzuführen ist, das wiederum zunehmend seine eigenen Probleme mit sich bringt. Zwischendurch wird aus Peters Perspektive geschrieben. In diesen Kapiteln passiert das genaue Gegenteil. Erinnerungen bringen den Leser weit zurück in eine Zeit, in der die Menschen noch an Feen und Elfen glaubten. Als die Menschen noch Eins mit der Natur waren. Dadurch bekommt Peter eine besondere Charaktertiefe. Keine Frage bleiben offen und vor allem ergeben sich keine Logiklöcher, die den Lesespaß trüben würden.

Brom belässt es aber nicht bei zwei wichtigen Figuren. Zahlreiche Charaktere werden eingeführt und bleiben nie blass. Allen voran sind es die Neuzugänge bei den geflohenen Kindern, aber auch die Widersacher wie der Kapitän und der Priester werden nicht vernachlässigt. Dadurch ergibt sich keine Schwarz-Weiß Malerei. Wie im echten Leben haben alle ihre Sicht auf die Dinge und die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters.

Einigen könnte, trotz der sehr gelungenen Story und den Charakteren, „Der Kinderdieb“ sauer aufstoßen. So erwachsen wie die Geschichte ist auch die Sprache. Für Zartbesaitete und Freunden von Harmonie und schönen Dialogen ist dieser Roman nur schwer zu verdauen. Die Dialoge sind brachial und voller Ausdrücke. Und hier handelt es sich nicht um harmlose Versionen wie verflucht oder verdammt. Ein ganzes Magazin an Wörtern, die ihm Fernsehen mit einem schrillen PIEP ausgeblendet werden würden, findet sich hier. Es werden auch keine Kinderspiele gespielt. Krieg herrscht in Avalon und die Kinder sind gnadenlose Krieger. Von der Magie des Landes profitierend sind sie so flink und zielsicher wie Peter und so fliegen konstant Gliedmaßen durch die Luft. Die radikalste Bande seit „Der Herr der Fliegen“ von William Golding. Wer sich an solchen Dingen nicht stört, sollte beherzt zugreifen. Es gibt keine Rechtschreibfehler, keine Längen und keine holprigen Passagen.

Was „Der Kinderdieb“ zusätzlich zu einer unbedingten Kaufempfehlung verhilft, ist die beeindruckende Aufmachung. In dem schmalen Buch verbergen sich satte 654 Seiten. Das Cover ist eines der beeindruckendsten seit langem und machen den zeichnerischen Fähigkeiten Broms alle Ehre. Sein Talent darf dann in zahlreichen Abbildungen vor jedem Kapitel bestaunt werden. Auch wenn sich der Leser gerne sein eigenes Bild von den Charakteren macht, das Charakterdesign hemmt keinesfalls den Spaß. Vielmehr erlaubt es einem nah an die Vision des Künstlers zu kommen. Ein echtes Schmuckstück.


Fazit

Peter Pan wird nicht erwachsen, seine Geschichte schon. Brom gelingt es mit einem enormen Ideenreichtum, einen fantastischen Roman abzuliefern, der keinesfalls ein Geheimtipp bleiben darf. Die Story ist durchdacht, kurzweilig und nichts für Kinder, die Charaktere lebendig und in sich stimmig, die Aufmachung des Buches mit den zahlreichen Illustrationen herausragend. "Der Kinderdieb" ist jetzt schon ein Anwärter auf das beste Buch des Jahres.


Pro und Kontra

+ erwachsene Version des Peter Pan Mythos
+ Charaktere sind durchdacht und nachvollziehbar
+ realitätsnah
+ herausragende Aufmachung mit Illustrationen
+ Preis
+ Elemente aus der Artussage

o sehr brutal
o viele Ausdrücke

- Peters Absichten werden unnötig aufgebauscht

Beurteilung:

Handlung 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5