Wie Reich-Ranicki seinen ersten Artikel schrieb

Die Entdeckung des Jahres: WELT ONLINE hat in der Krakauer Jagiellonen-Bibliothek den ersten journalistischen Text von Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki gefunden. Dabei handelt es sich um die Besprechung eines Konzerts im Warschauer Ghetto. Schon damals warfen ihm manche Leser vor, zu streng zu urteilen.

Das beliebte Kino "Femina" an der heutigen Solidarnosc-Allee in Warschau hat eine Vorgeschichte. In der Zeit des Gettos war in dem Gebäude unter gleichem Namen ein Konzertsaal mit 900 Plätzen, in dem Marceli Reich seine ersten Kritiken schrieb. Hier trat auch das im Getto gegründete Jüdische Symphonieorchester auf. Lange gab es keine Zeitung, in der man über die Konzerte hätte schreiben können.

Wie Reich-Ranicki in Polen die Zensur organisierte Erst Mitte 1940 riefen die deutschen Besatzungsbehörden die "Gazeta Zydowska" (Jüdische Zeitung) ins Leben. Sie erschien zwei Jahre, zwei- bis dreimal wöchentlich und in polnischer Sprache. Sie war in vielen Gettos in Polen zu kaufen.

Für diese Zeitung schrieb Marcel Reich-Ranicki, erst als "W.H.", dann unter dem Pseudonym "Wiktor Hart", seine Kritiken. In den Texten macht er anfangs stilistische Anleihen bei "L.O.", seinem journalistischen Mentor im Getto. Schon damals trat er als Anwalt des Publikums auf, lobte und tadelte gern in der ersten Person Plural: "Wir meinen, dass ..."

Jungen Musikern und Sängerinnen wie Marysia Ajzensztadt riet er gern, ihr Talent nicht in den Getto-Cafés zu vergeuden und auf eine solide Ausbildung zu achten. Einmal protestierte ein Musiker in der Konzertpause, die Zeitung urteile "zu streng" und ohne Verständnis für die Nöte der Hunger leidenden Musiker.

In seinem nächsten Text wies Wiktor Hart die Kritik zurück: Es sei doch sichtbar, dass ihn mit den Musikern eine "aufrichtige und tiefe Freundschaft" verbinde. Ein seriöses Orchester müsse "die volle Wahrheit hören, auch wenn sie nicht immer angenehm ist". Sein Pseudonym hatte für die Leser Bedeutung: Das polnische Wort "hart" bedeutet "Stärke, Abgehärtetsein".

Gerhard Gnauck, Korrespondent der WELT in Polen, kam den Rezensionen aus dem Getto auf die Spur, als er für ein Buch recherchierte: "Wolke und Weide. Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre" (Klett-Cotta, 2009). Erst jetzt stieß er in der Krakauer Jagiellonen-Bibliothek auf den allerersten Text des Kritikers.


Quelle: welt.de