Muttermilch (Edward St. Aubyn)

Dumont (August 09)
Originaltitel: Mother’s Milk
Hardcover, Seiten: 320
€ 19,90 [D]
ISDN 978-3-8321-8023-2

Genre: Belletristik


Klappentext

Ein Rabensohn über seine Mutter

Dieses schneidend witzige Porträt einer Familie verhalf Edward St Aubyn zum internationalen Durchbruch. Wie er die wechselnden Allianzen zwischen Eltern und Kindern, Männern und Frauen beschreibt, das ist schlichtweg brillant und steckt voll trauriger Wahrheit. Patrick ist ein von Versagensängsten und Existenznöten getriebener Familienvater, dessen Frau Mary zu allem Überfluss auch noch den Sex aufgegeben hat. Mary geht ganz in ihrer Mutterrolle auf und wird beinahe aufgefressen von der Sorge um die Kinder. Aber erst als Patricks eigene schreckliche Mutter sich entschließt, das Zuhause der Familie ihrem New-Age-Guru zu vermachen, zerreißt das Netz der falschen Hoffnungen endgültig. Kinder, Ehe, Ehebruch und Sterbehilfe – es sind die großen Themen, die St Aubyn mit Hilfe seiner strahlenden Prosa ohne Narkose seziert. Kein Zweifel: Für den, der von dieser Muttermilch getrunken hat, bekommt der Begriff »postnatale Depression« eine ganz neue Bedeutung …


Rezension

In den 90ern erregte Edward St Aubyn in England Aufmerksamkeit mit seiner Romanreihe um Patrick Melrose in der „Some Hope“ Trilogie. Ein junger Mann aus einer adligen Familie, körperlich misshandelt und sexuell missbraucht von seinem Vater, später dann drogenabhängig. Die Aufmerksamkeit steigerte sich, als bekannt wurde, dass St Aubyn seine Romane mit autobiographischem Hintergrund verfasst hatte und somit Patricks Erfahrungen auch seine eigenen waren. Mit „Muttermilch“ greift er nun einige Jahre später seinen Protagonisten wieder auf, allerdings unabhängig von den anderen Büchern.

Unterteilt ist der Roman in vier Teile. Diese entsprechen jeweils einem Sommerurlaub zwischen den Jahren 2000 bis 2003. Gleichzeitig werden in jedem Teil die Erzählperspektiven gewechselt. So beginnt es aus den Augen Roberts, dem Erstgeborenen. Die Unbedarftheit und kindliche Naivität lässt einen noch im Unklaren, wie betrübt die familiäre Stimmung ist. Sein Gehirn arbeitet aufmerksam und clever wie ein Computer. Er beobachtet die Welt und vor allem seine Eltern, deren Verhaltensmuster und Diskussionen er wie ein Schwamm aufsaugt. Er beneidet bereits seinen kleinen Bruder Thomas, der sich noch nicht auf die vorgegebene und beschränkte Anzahl an Wörtern zur Artikulierung begrenzen muss.
Erst im Folgejahr bekommt man die Sicht von Patrick zu sehen und bekommt einen klaren Umriss der offenbar ausweglosen Situation. Sein Medikamentenproblem und die fehlende Zuneigung seiner Frau treiben ihn zum Alkohol und lassen ihn Zuflucht suchen im Schoß einer anderen Frau. Seine Versuche, sein Leben in die richtigen Bahnen zu lenken, sind kraftlos und nicht von Erfolg gekrönt. Zusätzlich macht ihm seine Mutter das Leben schwer, weil sie ihr ganzes Hab und Gut einem Möchtegern-Guru vermachen und ihren Sohn enterben will.
Anschließend werden sowohl die Beweggründe der Mutter Mary und ihrer schlafenden Libido ins Auge gefasst als auch dem Neugeborenen Thomas auf seiner Erkundungstour durch die Welt über die Schulter geschaut.
Die Figuren sind tragisch und dennoch alltäglich, haben sie doch mit beinahe normalen Familienproblemen zu kämpfen.
Die Übergänge zwischen den einzelnen Personen sind unglaublich gut gelungen. Sie sind fließend und kaum wahrzunehmen und erlauben einen Einblick in die deprimierende Gefühlswelt aller Beteiligten. Auf diese Art gibt es nicht nur eine Wahrheit. Jeder hat seine Motivationen, jeder seine Prinzipien und jeder seine Gefühle. Mitleid hat man aber mit allen, denn der Teufelskreis, in den sich die Familie manövriert hat, scheint keinen Lichtblick und schon gar kein Happy End zu bieten.

Die Melancholie, die durch diese Geschichtskonstellation entsteht, wird durch die geniale Wortgewandtheit von St Aubyn untermauert. Besonders die gedanklichen Monologe der Charaktere sind gespickt mit scharfen Beobachtungen, Metaphern und Zynismus und erzeugen eine fast greifbare Atmosphäre, die sich wie ein Schleier auf die gute Laune legt. Ein Wohlfühlbuch ist Muttermilch nämlich nicht. Die Gefühle des Lesers seiner Familie gegenüber könnten aber schlagartig eine ganze Stufe nach oben korrigiert werden. Dennoch ist auch ein wenig Raum für Humor, speziell am Anfang.

Muttermilch“ ist einiges: Es ist eine Aufarbeitung des Lebens des Autors und eine gestochen scharfe Studie über die Probleme von Familien, die am Ende an der Ausweglosigkeit zerbrechen. Es ist eine Beobachtung der generationenübergreifenden Weitergabe von schlechten Angewohnheiten und letztendlich auch eine Abhandlung über das Recht seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen oder setzen zu lassen.


Fazit

"Muttermilch" führt die Tradition der „Some Hope“ Trilogie weiter. Edward St Aubyn versteht es zu beobachten und das Beobachtete bildreich, scharfsinnig und zynisch auf Papier zu bringen. Eine bedrückende und zur selben Zeit amüsante Geschichte, die die eigenen Problemchen vergessen lässt.


Pro und Kontra

+ alle Familienmitglieder werden betrachtet
+ unglaublich wortgewandt
+ melancholisch, zynisch und humorvoll
+ scharf beobachtete Familienwidrigkeiten

Beurteilung:

 

Handlung 4/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5