"Literatur ist mein Leben" - Reich-Ranicki wird 90 Jahre alt!

Streitlustig ist Marcel Reich-Ranicki auch in hohem Alter geblieben. Vor knapp zwei Jahren sorgte er bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises für einen Eklat, als er die Auszeichnung ablehnte. Und erst vor wenigen Wochen verweigerte er die Versöhnung mit dem Schriftsteller Martin Walser, dem er Antisemitismus vorwirft. "Ich habe mit ihm nichts zu tun - Schluss!" sagte er der Illustrierten "Bunte". Heute, am 02. Juni 2010, wird der Literaturkritiker, der mit seiner Frau Tosia 1943 aus dem Warschauer Getto flüchtete und im Untergrund überlebte, 90 Jahre alt. Vier Tage später erhält er als erster Preisträger überhaupt die Ludwig-Börne-Ehrenmedaille.

Die Veranstaltung in der Frankfurter Paulskirche wird wohl so eine Art verspätete Geburtstagsparty. Der Moderator Harald Schmidt wird Reich-Ranicki ein Ständchen bringen, der Publizist Henryk M. Broder und "FAZ"-Mitherausgeber Frank Schirrmacher wollen eine Ansprache halten - ebenso wie Thomas Gottschalk, der im Herbst 2008 die legendäre Fernsehpreis-Gala in Köln moderierte und dem schimpfenden Reich-Ranicki spontan anbot, mit ihm öffentlich über die Qualität des Fernsehens zu diskutieren.

"Ich nehme den Preis nicht an", polterte Reich-Ranicki damals - Millionen zuschauer verfolgten den Auftritt vor dem Fernseher. Er habe die Auszeichnung abgelehnt, weil er die Veranstaltung furchtbar gefunden habe, sagte er später. Er habe das Fernsehen nicht grundsätzlich verurteilen wollen. Ihm war vorgehalten worden, er kritisiere eben das Medium, das ihn selbst berühmt gemacht hatte.

Denn hätte es die ZDF-Sendung "Das Literarische Quartett" nicht gegeben, würde die breite Öffentlichkeit seinen Namen vermutlich nicht kennen - als Literaturkritiker der "Zeit" und später der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" war er vor allem einem intellektuellen Publikum bekannt. Von 1988 bis 2001 diskutierte Reich-Ranicki mit Kollegen wie Hellmuth Karasek oder Sigrid Löffler im Fernsehen über Literatur - leidenschaftlich, polemisch, boshaft. Die Sendereihe, bei der es manchen Eklat gab, war ein Quotenhit.

Reich-Ranicki kann aber auch auf andere zugehen: Mit Günter Grass und Walter Jens hat er sich versöhnt. Der Streit mit Grass geht bis ins Jahr 1995 zurück: Damals verriss Reich-Ranicki Grass' Roman "Ein weites Feld". Der Literaturnobelpreisträger nahm ihm die Kritik übel; jahrelang herrschte Funkstille zwischen den beiden. Dann sprachen sie sich aus. Auch den Konflikt mit dem Rhetorik-Professor Jens beendete Reich-Ranicki 2004. Die langjährigen Freunde hatten sich nach der Wiedervereinigung Anfang der 90er Jahre zerstritten. Außerdem war es ausgerechnet Jens' Sohn, der Journalist Tilman Jens, der 1994 in einer Fernsehsendung als erster über Reich-Ranickis Tätigkeit im polnischen Geheimdienst (MBP) in der Nachkriegszeit berichtet hatte.

Die Diskussion darüber ließ Reich-Ranicki lange Zeit nicht los. In seiner Autobiografie "Mein Leben", die 1999 erschien, beschrieb er seine Arbeit für die Staatssicherheit des kommunistischen Polen als harmlos. Er habe weder jemandem geschadet noch jemandem genutzt, erklärte er.

Für den MBP war Reich-Ranicki nach der Befreiung Polens im September 1944 tätig geworden: Er meldete sich zusammen mit seiner Frau zur polnischen Armee und wurde der militärischen Postzensur zugeteilt. 1946 gehörte er - inzwischen Mitglied der Kommunistischen Partei - der Polnischen Militärmission in Berlin an, 1947 arbeitete er in der Zentrale des polnischen Geheimdienstes in Warschau. Von 1948 und 1949 war Reich-Ranicki polnischer Konsul in London - dort nahm er den Namen "Ranicki" an, da "Reich" zu deutsch klang. Im Herbst 1949 bat er um seine Abberufung und kehrte nach Warschau zurück, wo er sofort sowohl aus dem Geheimdienst als auch aus dem Auswärtigen Dienst entlassen, aus der KP ausgeschlossen, inhaftiert und einige Wochen in einer Einzelzelle gefangen gehalten wurde.

Er wandte sich wieder der deutschen Literatur zu - sie hatte ihm schon einmal Zuflucht geboten: Der Sohn eines in Wloclawek geborenen polnischen Juden und einer Deutschen war Anfang 1929 im Alter von neun Jahren nach Berlin gekommen. Nur in der Beschäftigung mit der deutschen Literatur und Musik empfand er Glück. Zu den größten damaligen Erlebnissen zählt er die Lektüre des Thomas-Mann-Romans "Tonio Kröger", und "das Theater in Berlin war mein Schutz vor der Welt". Denn im "Land der Kultur" herrschte auch Gewalt.

1938 wurde er nach Polen deportiert und ab 1940 im Warschauer Getto eingesperrt. "Jeder Deutsche, der eine Uniform trug und eine Waffe hatte, konnte mit einem Juden tun, was er wollte", schrieb er in seiner Autobiografie. Nachdem er 1943 an einer Widerstandsaktion teilgenommen hatte, gelang ihm die Flucht. Ein polnisches Paar versteckte ihn und Tosia viele Monate lang.

1958 kehrte er nach Deutschland zurück und knüpfte vor allem in der "Gruppe 47" Kontakte zu Schriftstellern. Bei der "Zeit" machte er sich hauptsächlich mit Literaturkritiken, aber auch mit Theater- und Opernrezensionen einen Namen. 1973 wechselte er als Literaturchef zur "FAZ".

"Literatur ist mein Leben", sagte Reich-Ranicki einmal. Und Karasek beschrieb seinen Kollegen vom "Literarischen Quartett so: "Er hat nur einen Glauben, den an die Überlebenskraft der Literatur und Kultur. Dieser Glaube ist frei von falschen Illusionen, aber er ist schön und stark."


Quelle: stern.de