2. Dezember

Heute darfst du die zweite Schachtel öffnen. Sie ist tannengrün, die Kanten entlang kleben rote Papierstreifen. Wenn du daran schnupperst, riechst du einen Hauch von Harz. Diesmal bist du etwas vorsichtiger - schließlich hast du dir gestern kalte Finger geholt - und wirfst erst einen Blick hinein, als du sie aufgezogen hast, anstatt gleich hineinzugreifen. 

 

2. Schachtel: Eine Adventsgeschichte 

 

Die Schachtel ist mit rotem Filz ausgeschlagen, darauf liegt ein Tannenzweig, wieder leicht von Schnee bestäubt. Daneben ein Umschlag, pergamentfarben und verheißungsvoll. Du öffnest ihn und ziehst zwei eng beschriebene Papierbögen heraus. Setz dich, beginn zu lesen und begleite einen Mann durch einen scheinbar ganz gewöhnlichen Vorweihnachtstag ... 

 

Tannenzweige

 

Advent


Müde lehnte sich der ältere Mann im Sessel zurück. Er seufzte wohlig, als er ein wenig in das weiche Polster einsank, die warmen Kissen lösten die Verspannungen, die seinen Rücken schmerzen ließen.
Seine rechte Hand tastete vorsichtig nach einem Drehschalter, der in die Armlehne eingelassen war, und stellte die Temperatur noch höher. Dann räusperte er sich.
„Über den Weihnachtsmann wollt ihr etwas wissen?“ Aufgeregt nickten die Kinder, die es sich auf dem Teppich bequem gemacht hatten. Schauten ihn aus großen Augen an.
Der Mann lächelte und rieb sich mit einer Hand über das Kinn.
„Hm, was soll ich euch denn erzählen?“
Ein kleines Mädchen mit zwei langen Zöpfen sah ihn ernst an.
„Gibt es den Weihnachtsmann denn überhaupt? Mein Bruder hat gesagt, den hätten sich die Erwachsenen ausgedacht!“
Was für ein grausames Kind. Direkt am Anfang so eine Frage! Der Mann musste schmunzeln. Dann setzte er sich seine Brille auf, die ihm an einer Schnur um den Hals baumelte, und legte den Kopf schief. So machte er mehr Eindruck auf die Kleinen.„Wie kann dein Bruder so etwas nur erzählen? Wenn der Weihnachtsmann das gehört hat, dann kann er sich aber auf was gefasst machen!“ Das Mädchen gluckste vergnügt, anscheinend gefiel ihr die Vorstellung, ihr Bruder könnte auf einen zornigen Weihnachtsmann treffen.
„Warum bringt der Weihnachtsmann uns überhaupt Geschenke?“, fragte ein Junge, der hauptsächlich damit beschäftigt war, sich lange Haare aus dem Gesicht zu streichen.
Der Mann hob die Schultern.
„Warum schenkst du deinen Eltern denn etwas zum Geburtstag?“
Der Junge wirkte sichtlich verwirrt, scheinbar waren Gegenfragen noch nichts für sein Alter.
„Er hat euch eben sehr lieb, alle Kinder, schließlich ist Weihnachten auch das Fest der Liebe, oder?“
Eifrig nickten die Kleinen.
Nur das Mädchen mit den Zöpfen wirkte nicht überzeugt. Nachdenklich sah sie ihn an. Der Mann fragte sich, woher sie soviel Scharfsinn nahm.
„Aber wie kommt er hier her? Wie kommt er herein zu uns?“
Er hob die Augenbrauen. Was für ein aufgewecktes Mädchen … und wie verdammt naseweis sie war. Wer wohl ihre Eltern sind? Die Armen! Wieder schmunzelte der Alte in sich hinein.
„Er hat doch seinen Rentierschlitten, der kann fliegen, damit kommt er überall hin. Und rein -“ Kurz überlegte der Mann, bis sein Blick auf einen Gitterrost knapp unterhalb der Decke in der Wand fiel.
„Rein kommt er durch den Lüftungsschacht!“
Überrascht sahen die Kinder auf, beobachteten misstrauisch das Gitter.
„Echt?“
„Echt.“
Was für eine Schnapsidee! Der Alte schüttelte den Kopf. Ich muss wohl schon ziemlich müde sein!
„Aber … wie findet er uns denn dann?“
Wieder das Mädchen mit den Zöpfen. Er schloss die Augen.
„Der Weihnachtsbaum -“ Er deutete in eine Ecke des Raumes, in der eine kleine Tanne stand. Einige bunte Lämpchen leuchteten darauf, glänzende Kugeln und Süßigkeiten hingen daran.
„Er führt ihn. Äh … er ist wie ein Leuchtturm, ein Signalfeuer. Versteht ihr?“
Ehrfürchtig standen die Kinder auf und näherten sich vorsichtig dem geschmückten Baum.
„Wie ein Positionslicht?“
Der Mann nickte.
„Genau!“
Dann wandte er sich zu den Kindern um.
„Wollt ihr was von den Süßigkeiten? Aber lasst etwas übrig.“
Er begann zu lachen, als die Kleinen sich förmlich darauf stürzten.



*           *           *


Gemächlich schritt der Mann durch den Gang, immer eine Hand an der metallenen Wand. Seine Schritte hallten. Jemand kam ihm entgegen, eine Frau mit langem blondem Haar.
Ihre hellen Augen funkelten vergnügt, als sie ihn sah.
„Na, Großväterchen? Hast du den Kindern wieder Flausen in den Kopf gesetzt?“ Sie klopfte ihm im Vorbeigehen auf die Schulter, dann war sie wieder verschwunden. Er lächelte, als er weiterschlenderte. Ihm war nicht bewusst, wohin ihn seine Füße trugen, während er an sein erstes Weihnachtsfest dachte. Es war schon so lange her. Nicht nur ihm käme es wie Äonen vor.
Weihnachten, das war Frieden.
Seine Eltern legten ihm die Hände auf die Schultern, während er strahlend sein Geschenk auspackte.
Er begann, eine Wendeltreppe empor zusteigen. Das Geländer zitterte leicht.
Der Weihnachtsbaum, geheimnisvoll und schön, thronte über allem und draußen fiel der Schnee. Ganz leise, ganz sanft.
Vor ihm schob sich eine Tür auf und er betrat einen großen Raum, in dem es einige Sitzgelegenheiten gab.
Keine Sorgen. Nicht an Weihnachten, nicht an Heiligabend.
„Keine Probleme“, flüsterte er traurig. Dann trat er an die große Panoramascheibe, die eine ganze Wand des Raumes ausmachte. Er war nicht sonderlich überrascht, dass es ihn hierher verschlagen hatte.
Er kam oft auf die Aussichtsplattform. Zum Nachdenken. Zum Erinnern.
Erschöpft lehnte er seine Stirn an die kühle Scheibe und sah hinaus.
Warum sollte der Weihnachtsmann nicht auch hierher kommen? Wenn er durch Schornsteine kommen konnte, warum dann nicht auch durch ein Belüftungssystem?
Betrübt betrachtete er den Planeten, der sich kaum merklich vor ihm drehte. Fast zum Greifen nah und doch so weit entfernt. Der Planet, der einst seine Heimat gewesen war. Einst blau und jetzt nur noch von schmutzig-braunen Wolken bedeckt.
Auf der Erde standen sicher keine Weihnachtsbäume mehr.   

 

 


Die Geschichte wurde von Weltenwanderer aus unserem Forum eingesandt.

Malou Vogt von www.fotocommunity.de hat uns das dazu passende Tannenzweig-Foto zur Verfügung gestellt – das Copyright verbleibt selbstverständlich bei ihr.

Allen beiden herzlichen Dank!