4. Dezember

Heute wunderst du dich ein bisschen, denn Schachtel Vier ist mit bunt bedrucktem Geschenkpapier verziert, gar nicht so, wie du es von den bisherigen gewöhnt bist. Wenn du sie genauer betrachtest, siehst du lauter Rentiere, galoppierend vor rotem Hintergrund. Und - seltsam! - sie haben alle blaue Nasen ... Du schüttelst die Schachtel neugierig und hörst drinnen etwas klappern. Jetzt kannst du es nicht mehr an dich halten und öffnest sie.  

 

4. Schachtel: Von Rentieren und Bergwanderungen

  

Ganz dunkelblau empfängt dich das Innere diesmal, in einer Ecke klebt ein Berg aus Gehwegkieseln. Daneben steht eine halbe Nussschale, vor die eine Reihe winziger Rentiere aus Holz gespannt ist. Anstatt von Geschenken transportiert sie einen Wust an Buchstaben. Für einen Moment hast du das Gefühl, diese Miniaturszenerie könnte jederzeit zum Leben erwachen.

Du rührst mit dem Finger im Buchstabenchaos und merkst, dass es eine Schriftrolle ist, die immer länger wird, je mehr du daran ziehst. Und die schwarzen Zeichen sind gar nicht so durcheinander, sie formen sich zu Worten, Sätzen, einer Geschichte ...

 

 

  

  

 

 

Rudolf Nummer Siebzehn - oder: Wenn der Berg zum Propheten kommt
 


Verdammt, der Berg war doch letztes Mal noch gar nicht hier!
Frustriert stampfte Rudolf Nummer Siebzehn mit seinem rechten Vorderhuf auf und schnaubte in den Schnee, sodass einige Flocken aufgewirbelt wurden und auf seiner blauen Nase landeten.
Langsam beruhigte er sich und sah wieder hoch, drehte sich einmal im Kreis und musste schließlich zugeben: Er hatte sich verlaufen.
An alles hatte er gedacht, bevor er losgezogen war, um seinen Auftrag zu erfüllen, aber natürlich mussten sämtliche Pläne zunichte gemacht werden. Zuerst war seine rote Weihnachtsnase kaputt gegangen, weshalb er das Reserveexemplar verwenden musste – Blaulicht … Welcher Weihnachtsmann mit einem gewissen Verantwortungsbewusstsein fährt schon bei Blaulicht Geschenke aus?
Verschlafen hatte er natürlich auch. Und schlussendlich war ihm noch die Klimaveränderung in den Weg geraten: Der Pfad zu seinem Ziel hatte sich vollkommen verändert. Wie der Berg jedoch dorthin kam, wo keiner sein sollte, konnte Rudolf sich einfach nicht erklären. Außer ...
Nein, bisher hatte er sich nie verlaufen. Wie die Zugvögel besaßen alle seiner Art so etwas wie einen eingebauten Radar, mit dem sie ohne Probleme in den Vorweihnachtstagen zu ihrem Ziel finden konnte. Und noch nie hatte einer seiner Vorfahren ein Problem damit gehabt. Verirrt zu sein war also keine Option.
Blieb nur noch die Möglichkeit, dass irgendwo ein Prophet unterwegs war. Weshalb sonst sollte ein Berg von seinem Ursprungsort wegwandern, wenn nicht deswegen?
Dann suche ich jetzt also diesen Herrn Propheten und bitte ihn, dass er den Weg freiräumt.
Mit neu gewonnener Motivation trabte Rudolf Nummer Siebzehn los und suchte den Boden nach eventuellen Spuren ab. Dabei grübelte er, wie die wohl aussehen konnten. Er hatte ja noch nie einen echten Propheten gesehen. (Der Autor dieser Geschichte übrigens auch nicht, aber er wird sich in den nächsten Minuten etwas einfallen lassen müssen, sonst endet die Geschichte hier und der Leser wird frustriert Droh-PNs schreiben.)
Endlich kam er am Fuß des Berges an und überlegte, in welche Richtung er nun gehen sollte, als sich das Hindernis plötzlich mit mächtigem Grollen einen halben Meter nach links bewegte. Einfach so.
Entsetzt machte Rudolf Nummer Siebzehn einen Hechtsprung zurück, starrte zum Gipfel hoch und spürte, wie das Vibrieren des Bodens auch seinen Körper erfasste.
Was zum neonpinken Kobold …?
„Hau… ruck!“, erklang plötzlich dumpf und aus einiger Entfernung eine tiefe Stimme und lenkte Rudolfs Aufmerksamkeit nach links. Seine Augen verengten sich unmerklich und vorsichtig begann er, sich der Geräuschquelle zu nähern.
„Nicht schlapp machen, meine Lieben! Wir müssen ihn bis spätestens morgen abgeliefert haben“, erklang es erneut. „Hau… RUCK!“
Und wieder bewegte sich der Berg ächzend von seinem Platz.
Diese Stimme …!
Rudolf Nummer Siebzehn erkannte sie ohne Zweifel. Sein Vater und auch sein Großvater hatten ihm jahrelang Geschichten über diesen Mann erzählt und seit geraumer Zeit arbeitete er selbst für ihn. Verwirrt und glücklich zugleich trabte er los und beeilte sich, die Laute einzuholen. Endlich schlitterte er um einen Schneehügel und blieb mit offenem Maul stehen.
Vor ihm stand eine seltsame Mischung aus Eisbären, Rentieren, Polarfüchsen und Wölfen, die alle an den Berg gekettet waren und mit größter Anstrengung gemeinschaftlich daran zogen. Allen voran stand der Mann, mit dem er sich eigentlich am Weihnachtsflughafen hatte treffen wollen – der Weihnachtsmann, außerhalb der Saison auch Klausi genannt.
„Boss!“, wieherte Rudolf glücklich und stolperte in seiner Freude beinahe über die eigenen Hufe.
„Na, da bist du ja endlich“, schmunzelte ihm der Angesprochene entgegen, als er ihn entdeckte. Dann drehte er sich wieder zu den angeketteten Tieren und kommandierte: „Hau… ruck!“
„Was ist hier los, Boss?“, kam die zähneklappernde Frage von Rudolf Nummer Siebzehn, als der Berg ein weiteres Mal vorwärtsruckte und ihn durchschüttelte.
Der Weihnachtsmann drehte sich mit einem verschmitzten Lächeln zu ihm um und klärte ihn endlich auf: „Ein Spezialauftrag von ganz oben! Deshalb haben wir dieses Jahr schon ein wenig früher mit dem Geschenke ausfahren begonnen. Es gibt da nämlich einen Propheten, der meint, er würde erst an den Weihnachtsmann glauben, wenn der Berg sich zum Propheten bemüht … Das konnte ich nicht unbeantwortet lassen, oder?“

Ende

 


  Die heutige Geschichte stammt von schnecke, die in unserem Forum angemeldet ist.

Den Literatopia-Weihnachtsmann hat Ragnarion kreiert, ebenfalls ein Mitglied unserer Community.

Vielen Dank euch beiden!