Verlag Kiepenheuer & Witsch 2008
272 Seiten
ISBN 978-3-462-04043-2
Preis: € 18,90 (D)
Genre: Belletristik
Rezension:
Ein später Novembernachmittag. Auf dem Berliner Invalidenfriedhof haben sich, zwischen den verwilderten Gräbern und zerborstenen Grabplatten, umgeworfenen Grabsteinen, zwei Männer eingefunden. Der eine ist der namenlose Stadtführer, der mehr als jeder andere über den Friedhof und seine Toten weiß, der andere ist der Erzähler des Romans, der sich für Marga von Etzdorf interessiert, eine der ersten deutschen Pionierfliegerinnen, die hier begraben liegt: eine einsame Frau unter lauter Männern.
Was ist in der Nacht in Tokio geschehen, in der sich Marga, nach einem spektakulären Langstreckenflug, ein Zimmer mit dem deutschen Diplomaten von Dahlem teilte, nur getrennt durch einen Vorhang? Was machte diese junge Pilotin aus? Warum hat sie sich, nur 25 Jahre alt, nach einer Bruchlandung in Syrien erschossen?
In der winterlichen Kälte beginnt ein Aufklärungsversuch, eine Spurensuche, die sich bald verselbstständigt, denn die Toten des Invalidenfriedhofes beginnen, sich einzumischen, ihre Geschichte selbst zu erzählen. Vom hochdekorierten Offizier, der in den Kriegen gegen Napoleon fiel, bis zu den namenlosen Toten des zweiten Weltkrieges in ihren Massengräbern, von ermordeten Widerstandskämpfern bis zum Erfinder der Gegnerkartei, sie alle melden sich zu Wort.
Heraus kommt ein seltsamer, vielstimmiger, manchmal ein wenig verwirrender, teilweise erschütternder Canon von Details, Erlebtem und Persönlichkeiten, der die blanken Fakten der Geschichte mit Sichtweisen und Erinnerungen füllt. Margas Geschichte ist dabei die Konstante, auf die alles immer wieder zurückkommt. In die Erzählungen der Toten mischt sich dann auch immer wieder die Realität des Novembernachmittags, der zerschossenen Grabfiguren in der ehemaligen Todeszone, des symbolisch wiedererrichteten Mauerrestes und so erhält die Leserin eine umfassende und lebensnahe Darstellung der älteren und neueren deutschen Geschichte aus der Sicht der Zeitzeugen, ohne dem gewohnten Staub des Geschichtsunterrichts.
Es ist dabei wirklich bemerkenswert, wie es dem Autor gelingt, die Toten wieder lebendig zu machen, wie er das Überlieferte mit Details zum Leben erweckt, wie er charakterisiert. Sieht man von einer kleineren Durststrecke im Mittelteil ab, wo sich die Erzählung ein bisschen verläuft, sich die Stimmen der Toten vielleicht ein wenig zu zusammenhangslos melden, gelingt es Uwe Timm so, den Leser bei der Stange zu halten und auf der Suche nach der angekündigten Verknüpfung der Erzählungen weiter den Friedhof zu erforschen, gemeinsam mit dem Erzähler.
Praktisch ein Friedhofspaziergang mit detailgenauem Hintergrundwissen, eine Darstellung, die neugierig macht auf die ganze Lebensgeschichte der Toten, auf die Umstände ihres Todes, auf die Zusammenhänge ihrer Erinnerungen; die schlussendlich auch Margas Geschichte und die Umstände, möglichen Gründe ihres Todes dem Leser zugänglich macht, die Persönlichkeit dieser jungen Frau aufleben lässt.
Ein Buch, das allgemeine Geschichte über den äußerst originellen Zugang des Autors mit persönlicher verbindet, für das man sich ein wenig Zeit nehmen sollte, das man wohl am besten mit Pausen liest, und wenn auch nur, um die angeschnittenen Lebensgeschichten mittels Internet oder Lexikon für sich selbst zu vervollständigen.
Fazit:
Lesenswert. So, wie der Berliner Invalidenfriedhof ein geradezu perfekter Ausgangspunkt für die Beschreibung der neueren und älteren deutschen Geschichte ist, so ist dieses Buch ein Ansatzpunkt, der Interessierten einen persönlichen Zugang zum Faktengerüst der Geschichte bietet. Spannend, im konventionellen Sinne, ist es nicht, und doch liest man meistens gerne weiter, um mehr zu erfahren. Ein wenig ruhiger, doch nach der letzten Seite legt man das Buch weg mit dem Gefühl, es hat sich gelohnt.
Pro und Contra:
+ Originelle Idee
+ Guter Schreibstil
+ Lebendige Charaktere
- Manchmal ein bisschen langatmig
Bewertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5