8. Dezember

Die Schachtel heute ist durchsichtig – aus Glas? Eisblumenranken übersäen sie und machen es schwer, den Inhalt zu erkennen. Du betrachtest sie lang, ohne sie anzufassen, weil du das gefrorene Muster nicht zerstören willst, folgst den Linien mit deinen Augen. Dann bemerkst du, dass drin etwas weiß zu wirbeln scheint. Eine bewegte Schachtel? Das ist neu! Nun musst du sie doch öffnen.

 

8. Schachtel: Schneesturm  

 

Sobald du den Deckel gehoben hast, stäuben dir winzige Flocken ins Gesicht, dann beruhigt sich das Miniaturschneetreiben. Langsam sinkt alles Weiß zu Boden und bedeckt eine kleine Holzhütte, die mittendrin steht. Die Fenster scheinen dir verlockend warm, auch wenn wohl unmöglich ein Kaminfeuer darin brennen kann. Oder? Hinter dem Haus ist jedenfalls ein Stapel aus Holzsplittern aufgeschichtet, als wäre er bereit, die imaginären Flammen zu nähren. Darunter bemerkst du auf einmal einen Papierzipfel, der aus dem Schnee ragt. Du ziehst daran und hältst einen mitternachtsblauen Umschlag in der Hand, in dem ein langer Papierbogen derselben Farbe steckt, mit weißer Tinte beschrieben. Du faltest ihn auseinander und musst erkennen, dass das untere Ende abgerissen zu sein scheint – eine unvollständige Geschichte? Doch bevor du dir darüber den Kopf zerbrichst, machst du dich lieber daran, in die Bilder einzutauchen, die diese kleinen, runden Buchstaben in deiner Vorstellungskraft zu zeichnen beginnen.

 

 

Wie der Schneemann entstand I


Flammen züngelten über die Holzscheite der Feuerstelle und verbreiteten eine angenehme Wärme in dem kleinen Raum. Der orangefarbene Schimmer fraß sich an der Decke empor und warf tanzende Schatten auf das Gesicht des alten Mannes, der sich in jenem Moment auf einen Stuhl fallen ließ und nach dem Lederbecher vor sich griff.
Eine etwas jüngere Frau, die genau die gleiche, etwas platte Nase und hohe Stirn des Mannes geerbt hatte, schenkte ihm mit einem Lächeln Wein aus der Karaffe ein. Ihr Blick glitt über seinen ergrauten Schopf hinüber zum Feuer. „Wir brauchen neues Holz“, murmelte sie und setzte die Karaffe wieder ab.
Der Alte nickte und lehnte sich mit dem Becher in der Hand zurück. „Soll Meryl etwas holen, aber pass auf, dass sich die Kleine dick einpackt, es hat angefangen zu schneien.“
Die Frau schmunzelte. Diesmal wanderten ihre Augen hinüber zu den Butzenscheiben, die von grazilen Mustern aus Eisblumen verhangen waren. „Meryl!“, rief sie und wartete, bis sich leise Schritte hinter ihr ankündigten, ehe sie sich zu ihrer Tochter umwandte. „Hol bitte noch etwas Holz, aber beeil dich und zieh dich warm an.“
Das Mädchen mit den blonden Zöpfen nickte und lief hinaus in den Flur, um sich dort ihren Wollmantel und die Mütze überzustreifen, die ihre Mutter im vergangenen Sommer gestrickt hatte. Als sie noch in ihre Stiefel geschlüpft war, öffnete sie die Tür und fühlte sich von eisigem Wind umhüllt.
Blinzelnd sah sie in die Finsternis. Hier und da schimmerten Kerzen hinter einem Fenster oder war eine Fackel in den Boden gesteckt worden, doch ihr Licht reichte nicht aus, um die dichte Schwärze zu vertreiben. Selbst der Mond hatte sich hinter den Wolken verborgen.
Meryl trat hinaus in die Kälte, die Tür schlug hinter ihr zu. Ein wenig schuldbewusst sah sie sich um, immerhin mochte es ihre Mutter nicht sonderlich, wenn sie die Türen fallen ließ. Doch etwas lenkte sie von dem Gedanken ab – etwas Weiches und Kaltes, das auf ihr Gesicht niedersank. Verwirrt sah sie hinauf in den Himmel. Zarte, weiße Flöckchen rieselten hinab zur Erde und Meryl lächelte, als ihr bewusst wurde, dass es angefangen hatte zu schneien.
Noch drei Tage, frohlockte sie innerlich, dann würden ihre Schwester und sie wieder unter einer Tanne sitzen und das Papier von Geschenken reißen. Und erst das Essen … Die Vorstellung einer dampfenden Gans ließ ihr das Wasser im Munde zusammen laufen.
Aber jetzt war erst einmal das Holz dran. Sie brauchte nur um die Hütte herum zu gehen und einige Scheite von dem Stapel an der Wand zu klauben, dann konnte sie auch schon wieder in die warme Stube zurückkehren. Aber ein Geräusch lenkte sie ab, ehe sie überhaupt dazu kam, einen Schritt zu tun.
Irgendwo erscholl das erbärmliche Jaulen eines Hundes. Meryl versuchte, die Dunkelheit mit ihren Blicken zu durchdringen und verengte ihre Augen zu Schlitzen. Nichts … Wieder ein Jaulen, diesmal um einiges klagender.
Das arme Tier war sicher verletzt! Irgendwo dort in den Treiben des Schnees musste es sich herumschleppen; hilflos und einsam. Sie konnte doch nicht einfach mit den Gedanken, dass in der Kälte ein Hund an seinen Qualen starb, ins Haus zurückkehren! Nein, sie würde ihn finden und gesund pflegen.
Mit ausgebreiteten Armen lief dorthin, wo sie die Quelle des Jaulens vermutete. Immer weiter und weiter rannte sie, bis auf ihrem Umhang bereits eine weiße Schicht lag und ihre Knie im Schnee der vergangenen Tage versanken. Sie bemerkte nicht einmal, in welche Richtung sie lief. Ihre Mutter hatte ihr stets verboten, diesen Weg einzuschlagen, doch in ihrer Eile und den Wirbeln aus Schneeböen hatte sie die Orientierung verloren.
Wieder sah sie sich suchend um. Nicht weit entfernt hörte sie den Hund.
Sie hastete weiter … und stolperte mit einem Mal über einen Stein, der sich unter der weißen Decke verbarg. Meryl strauchelte, fiel der Länge nach hin und fühlte plötzlich, dass der Boden unter ihrem Körper wegkippte, dass sie über eine Kante in die Tiefe stürzte. Haltlos, nur Dunkelheit. Der Aufprall kam völlig unerwartet. In ihren Ohren verstummte der Wind, doch dafür schoss glühender Schmerz durch ihr linkes Bein und ihre Schulter. Keuchend wurde die Luft aus ihren Lungen getrieben. Meryl rang um Atem und schloss zitternd die Augen. Das Stechen jagte ihren Körper hinauf und ließ ein warmes Prickeln in ihrem Bein zurück. Sie versuchte, es zu bewegen, aber sie hatte das Gefühl, keine Kontrolle mehr über ihre Gelenke zu haben.
Das Jaulen war verstummt.
Eiseskälte legte sich über ihr Gesicht und verwandelte ihren Atem in kleine Rauchwolken, die sich im Himmel verloren. Erst jetzt wurde sie sich ihrer Lage bewusst: Sie war in irgendeine Schlucht gefallen und lag nun mitten im Schnee, unfähig, ihr Bein zu rühren. An die anderen Blessuren mochte sie gar nicht erst denken. Obwohl der Boden vom Schnee wie ein weiches Bett wirken musste, spürte sie überall Schmerzen. Jetzt wusste sie, warum die Mutter nie gewollt hatte, dass sie in diese Richtung ging. Sie hatte sich stets die Sorge gemacht, ihr Kind könnte abstürzen - und sie hatte Recht gehabt …
Meryl begann zu weinen, Tränen hinterließen brennend kalte Spuren auf ihren Wangen und tropften ins Weiß. Wie sollte sie hier jemals wegkommen? Sie versuchte, irgendwie aufzustehen und sich vorwärts zu schleppen, aber es ging nicht – zwecklos. Sie hatte einfach keine Kraft mehr.
Und der Schnee senkte sich weiter auf die Erde herab ...
.
[Fortsetzung folgt morgen]
.
.
 .
.

.
Diese Geschichte hat bianca eingesandt, ein Mitglied unseres Forums.
. 
Das erste Foto stammt von Hakkenden, einem anonymen Bildspender.
.
Den Schneemann gebaut und in seinen beiden Stadien fotografiert hat unsere Moderatorin Libertine, der die Bilder hinterhältig von  Adventskalenderorganisatoren abgeluchst wurden.
.
Allen Beteiligten herzlichen Dank!

  
Außerdem ein besonderes Dankeschön an lu, ohne die der heutige Adventkalenderbeitrag überhaupt nicht in lesbarer Form existieren würde, sowie allen, die Verzweifelten in unserer Shoutbox gut zureden. lu, dafür schulde ich dir was!!