9. Dezember

Du bist so gespannt, wie die gestrige Geschichte weitergeht, dass du die Schachtel eigentlich gleich aufreißen möchtest, aber dann siehst du sie dir doch genauer an. Weiß ist sie, schneeweiß, und von kleinen Fußstapfen überzogen, dazwischen seltsame Linien, die immer breiter werden und sich in Schlangenlinien und willkürlichen Kringeln winden. Was soll das denn sein? Als hätte hier jemand ... und plötzlich begreifst du: Es sind die Spuren, die entstehen, wenn man einen Schneeball durch die Flocken wälzt, bis er zu einer Schneemannkugel geworden ist. Das erinnert dich wieder an die Geschichte und du hebst neugierig den Deckel.  

 

9. Schachtel: Gefährte in Weiß  

 

Diesmal musst du fast lachen, als du siehst, was dich erwartet: In hellen Samt gebettet liegt ein Marmeladenglas, und das enthält – einen Schneemann! Ja, einen kompletten kleinen Schneemann, mit Mütze, Schal und einem Tannenzweig als Gesellschaft. Ein Zettel hängt am Deckel, ein Etikett, das mit „Schneemann für die Tasche“ beschriftet ist. Auf der Rückseite verspricht es: „Schmelzungsresistent!“ Fasziniert nimmst du das Glas in die Hand. Es ist so kalt, wie es sein muss, aber sein Inhalt beginnt tatsächlich auch in deinen warmen Händen nicht zu schmelzen.Nun aber möchtest du endlich wissen, wie die Geschichte um Meryl endet. Du fischt einen weiteren mitternachtsblauen Umschlag unter dem Samt hervor, ziehst den zweiten Teil des Papierbogens heraus und beginnst, erneut in die Welt aus weißen Buchstaben zu tauchen ...  

 

 

Wie der Schneemann entstand II 


Zwei Tage suchten die Männer bereits nach ihrer Schwester, aber mittlerweile hatte Kaina das unbestimmte Gefühl, dass sie Meryl nie wieder sehen würde. Weinend vergrub sie den Kopf in ihrem Kissen und hörte, wie sich die Türe zu ihrem Zimmer öffnete. Schritte erklangen, jemand setzte sich auf die Bettkante und eine Hand strich zärtlich über ihre Haare. Sie kannte diese alten, sanften Finger, die mahnend und weisend zugleich sein konnten.
„Großvater“, flüsterte Kaina. Sie richtete sich schniefend auf und wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleidchens über die Nase.
Seit Meryl verschwunden war, hatten sich die Falten in seinem Gesicht in Gräben verwandelt. In den grauen Augen schimmerte nun Trauer und Mitleid. Ohne ein weiteres Wort zog sie ihr Großvater in die Arme und ließ zu, dass sie ihren Kopf an seine Schulter schmiegte.
„Kommt Meryl nicht wieder?“, fragte sie. Sie hatte versucht, sich einzureden, dass Meryl einfach auf eine Reise gegangen war, aber irgendwie spürte sie, dass das nicht stimmte. Sie würde nicht zurückkehren … Um das zu wissen, brauchte sie nur in das Gesicht ihrer Mutter zu blicken. Trostlos und von Kummer geplagt war es geworden.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, Liebes. Selbst wenn man sie findet, wird sie der Herr zu sich genommen haben. Niemand überlebt in diesem Schneesturm.“
Shun liebte seine Enkelinnen, eine davon verloren zu glauben, raubte ihm bereits seit Tagen den Schlaf. Er hatte Kaina einfach die Wahrheit sagen müssen. Sie war bereits zwölf Jahre alt, aber irgendeine Krankheit ließ sie seit ihrem siebten Lebensalter geistig nicht mehr wachsen. Gedanklich musste sie also in dem Gewand eines Kleinkindes stecken, körperlich jedoch nicht. Manchmal verwirrte ihn das immer noch. Für gewöhnlich hätte sie begreifen müssen, dass ihre Schwester nicht wiederkommen würde. Und auch er hatte vergessen, dass er nicht ein normales Kind in den Armen hielt.
Er schimpfte sich einen törichten, alten Narr, immerhin hätte er einer Siebenjährigen niemals so direkt gesagt, dass ihre Schwester tot sei, aber einer Zwölfjährigen, die auf demselben Niveau stehen geblieben war, schon. Die Trauer hatte ihn blind gemacht.
Kaina hatte sich in seinen Armen versteift. Es gab seltene Momente, in denen sie gedanklich eine grausame Klarheit erlangte, als könne sie in diesen Augenblicken ihre Krankheit von sich streifen. Leider war es nun wohl auch so.
Sie hob ihren Kopf und starrte ihn mit feuchten Augen an. Dieser Blick raubte ihm seine letzte Kraft. „Sie ist tot?“
Shun schloss die Augen und nickte. „Dann ist sie jetzt im Himmel?“ Er nickte erneut und strich ihr unentwegt übers Haar. „Ja.“ Seine Stimme zitterte.
Das Klopfen an der geöffneten Zimmertüre riss ihn ruckartig aus seiner Betäubung. Shun wandte mit einem flauen Gefühl den Kopf und sah eine Gestalt im Rahmen stehen, die mit einem Nicken zu ihnen hereintrat. Es war Moris, ein guter Freund von ihm, den er schon seit seiner Kindheit kannte.
Wenn er ihm begegnet war, hatte stets ein Lächeln auf seinen Lippen gelegen. Nun las er lediglich Trauer und Bedrückung auf seinem Gesicht. Die Art, wie er den Blick gesenkt hielt, sagte Shun, dass die Suche und auch die quälende Ungewissheit ein Ende hatten.
„Moris?“, fragte Shun leise, nur um das Schweigen, das sich wie eine erdrückende Last auf seine Brust gelegt hatte, zu brechen. Moris betrachtete weiterhin stur den Boden und schüttelte matt den Kopf. „Es tut mir Leid, Shun. Sie …“ Wieder schüttelte er den Kopf; langsam und mit gesenkten Lidern.
Stille verbreitete sich im ganzen Haus; eine unheimliche, nicht fassbare Stille, die kälter war als der tiefste Winter.
Shuns Gesicht hatte sich in eine ausdruckslos fahle Maske verwandelt. Er löste sich von Kainas bebendem Körper und verließ mit mechanischen Schritten das Zimmer. „Warte hier“, sagte er mit leerer Stimme zu ihr. Das Mädchen sah ihm für einen Lidschlag verstört hinterher, dann schüttelte sie sich und sank weinend zusammen.

Die Beerdigung fand bereits am nächsten Tag statt.
Während Kaina an der Hand ihrer Mutter hing und die Krähen auf der kahlen Linde beobachtete, lauschte sie der monotonen Stimme des Priesters. Sie hatten ihre ganzen Ersparnisse für diese Zeremonie ausgegeben, doch davon wusste Kaina weniger, als von dem Krächzen der pechschwarzen Vögel. Aus ihren Knopfaugen heraus taxierten sie den Kreis von Menschen, die mit gesenkten Köpfen und betretenen Gesichtern an einem ausgehobenen Grab standen und darauf warteten, dass man Meryls Körper der Erde übergab.
Die Gedanken der Trauernden waren dunkel, doch die Erde wurde von einem strahlenden Weiß überzogen. Das Weiß, das ihrer Schwester mit seiner Kälte letzten Endes das Leben genommen hatte …
Kaina runzelte die Stirn und schniefte, doch der Laut ging unter dem Schluchzern ihrer Mutter unter, die ihre Hand nur noch weiter presste, bis Kaina fürchtete, ihre Finger würden zerquetscht. Ihr Großvater hingegen starrte unentwegt auf die Holzkiste, die man nun in das Grab herabsenkte. Er hatte ihr gesagt, darin schliefe nun ihre Schwester. Irgendwie konnte sie nicht glauben, dass Meryl nun in diesem Kasten lag und nie wieder mit ihr draußen herumtollen würde.
Der Priester endete mit einem Zeichen des Kreuzes und forderte die Anwesenden auf, etwas Erde in das Loch zu werfen. Ihre Mutter ließ ihre Hand los, schritt als erste nach vorne und ließ statt der Erde eine Handvoll Schnee auf den Kasten fallen. Ab und zu blinzelte sie heftig, um ihre Tränen zu verscheuchen. Dann nahm auch ihr Großvater etwas von den weißen Flocken und schließlich auch all die anderen. Der Priester nickte zufrieden. Er reichte den Angehörigen der Toten die Hand und verabschiedete sich mit einem knappen Lächeln. Als er ging, wollten auch die restlichen Menschen den Weg vom Grab hinab ins Dorf antreten.
Ihre Mutter hielt Kaina die Hand hin, doch das Mädchen schüttelte den Kopf.
„Ich will noch mit Meryl reden.“ Sie sah, wie ihre Mutter die zitternden Lippen aufeinander presste, beinahe so blass wie der Schnee wurde und schließlich ein Nicken andeutete. „Gut, aber beeil dich. Wenn du nicht bald kommst, werde ich nach dir suchen lassen!“
Kaina nickte und rannte hinüber zu dem Loch, in dem ihre Schwester jetzt schlief.
„Schade … ich wollte noch einmal mit dir im Schnee spielen. Jetzt bist du ganz allein und hast keinen mehr zum Spaß haben.“ Stirnrunzeln blickte sie auf die weiß bestäubte Kiste hinab. „Weißt du noch, wie wir die Bälle aus Schnee gemacht haben? Warte … ich lasse dir welche hier und wenn du wieder aufwachst, werden wir damit spielen, so wie immer.“ Kaina bückte sich, um ihre Hände in die Flocken zu tauchen, wie es auch vorher ihre Mutter und die Anderen getan hatten. Ihre Finger bohrten sich in die kalte Substanz und formten sie zu einem kreisrunden Ball, den das Mädchen vor das Grab legte. Doch durch den leichten Hang rolle die Kugel ein Stück herab. Verwundert hob Kaina die Brauen.
Der Ball war größer geworden! Noch mehr Schnee hatte sich daran festgesetzt. Vielleicht …
Sie nahm die Kugel und rollte sie weiter durch den Schnee. Tatsächlich wurde der Ball immer größer. Lachend machte sie ihn so groß, bis sie ihn nicht mehr bewegen konnte. Dann begann sie, einen zweiten, etwas kleineren zu formen und stapelte ihn auf den ersten.
Nun hatte ihre Schwester auch zwei Bälle zum Spielen! Als sie ihr Werk betrachtete, dachte sie bei sich, dass die zwei gestapelten Kugeln wie ein Mann wirkten. Von einem plötzlichen Einfall beseelt, lief sie hinüber zu dem selbst geschaffenen Spielzeug und malte mit den Fingerkuppen zwei Augen, eine Nase und einen Mund hinein. Zum Schluss nahm sie noch etwas Schnee und bastelte der Figur zwei Arme.
Jetzt war Meryl auch nicht mehr allein. Kaina wirbelte im Kreis herum, lief hinüber zum Grab und sagte: „Ich komme wieder, dann baue ich dir mehr Freunde.“ Und sie eilte ihrer Mutter hinterher. Der Schneemann aber blieb wie ein Mahnmal am Grabe von Meryl zurück. Einsam und verlassen wirkte er neben dem Loch wie ein kindliches Kreuz, ein Symbol für das, was Meryl ihr Leben genommen hatte – Schnee und Kälte. Für Kaina war jedoch war es einfach nur ein Wächter, den sie für ihre Schwester erschaffen hatte und der nun ihr Spielgefährte sein sollte. 

 


 Auch der zweite Teil der Geschichte stammt von bianca aus unserem Forum.

Der Taschenschneemann wurde von Thantalas, ebenfalls einem anonymen Bildspender, zur Verfügung gestellt.

Der schneebedeckte Zweig am Ende stammt wieder aus der Fotosammlung von Ichigo, die wie bianca ein Mitglied unseres Forums ist.

Allen dreien herzlichen Dank!