11. Dezember

Die heutige Schachtel hast du erst für Dekoration gehalten, als du sie gesehen hast, und nur langsam begreifst du, dass darin die Überraschung für den elften Dezember wartet. Sie sieht aus wie eine Laterne, aus schwarzem Karton, in den Muster geschnitten sind, mit farbigem Buntpapier ausgeklebt. Dahinter flackert ein Licht. Ganz leicht sieht sie aus und scheint in einem See bunter Schatten zu stehen, ein Bildertanz, dem du fasziniert zusehen musst. Erst nach einer Weile kannst du deinen Blick abwenden und den Deckel heben. 

 

11. Schachtel: Kirchenkälte 

 

Trotz der Kerze, die darin brennt, ist die Schachtel innen ganz kühl; du erkennst, dass der Boden mit Stein gepflastert ist wie eine Kirche, und tatsächlich riecht es auch so: nach kühlem, altem Gemäuer. Du lässt deinen Blick darüber schweifen, siehst, dass die Steine ganz abgewetzt sind. Fährst sie mit dem Finger nach. Tatsächlich, als wären schon viele Füße darüber gelaufen ... Eine eigentümliche Stimmung geht davon aus, und als du den matten Umschlag entdeckst, bist du innerlich ganz still geworden. Du öffnest ihn, entnimmst ihm einen kaltblauen Papierbogen und folgst den Buchstaben, die sich in klaren Linien darüberziehen ...

 

.

Für ihn kann es kein Weihnachten geben


„Für ihn kann es kein Weihnachten geben. Er darf es nicht feiern. Niemals!“, knirschte Clara, während sie Laurin zusahen, wie er den Schmuck auf dem Altar neu arrangierte. Mit grinsendem Gesicht, ungeschickten, kleinen Fingern und zum fünften Mal, ein paar singende Laute auf den Lippen. „Du wirst ihn morgen nicht am Gottesdienst teilnehmen lassen. Ich würde es nicht überleben. Das weißt du.“ Kurzes Schweigen. „Ich will ihn morgen nicht sehen.“
Bernhard fuhr sich durchs Haar, den Blick weiter auf den Jungen gerichtet. „Er freut sich aber so. Die Geschenke sind ihm gar nicht so wichtig, aber seine Augen leuchten voller Vorfreude auf den Geburtstag des Erlösers. Und wer weiß, vielleicht irrt die Kirche mit ihren Auslegungen!“
„Er kann nicht erlöst werden. Das Fest wird ihm versagt bleiben wie immer.“
„Er weiß aber mittlerweile, was Weihnachten ist –  und ich kann ihm doch nicht verbieten, am Gottesdienst teilzunehmen ...“
„Tu es, Bernhard. Du bist der Pastor.“
„Ich weiß nicht. Hör nur, wie er vor Freude singt. Es wird sehr hart für ihn werden.“
Und für mich auch, fügte er im Geist hinzu.
„Tu es, Bernhard. Für mich und Julian.“

Clara drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ mit klappernden Schritten die Kirche. Er schaute Laurin noch eine Weile zu und genoss mit einem Kloß im Hals seine ehrliche, kindliche Freude, die nichts weiter brauchte als Gegenstände zum Ordnen und die Gewissheit, morgen den Geburtstag des Erlösers feiern zu dürfen.
Er ist gekommen, um die Menschen zu retten, dachte Bernhard und schluckte.
Es war zu putzig, wie der Kleine die Kerzen von den Ständern nahm, den Staub abwischte und sie zurückstellte. Und wie er jauchzte, wenn sich die Lampen im hellen Wachs spiegelten.
Laurin war etwas mehr als vier Jahre und quirlig wie eh und je. Er hatte einen wachen Verstand und sofort begriffen, dass der Herr am Heiligen Abend gekommen war, dass das arme Kind unter schlimmen Verhältnissen auf die Welt geboren wurde, um den Menschen Heil zu bringen.
Bernhard blinzelte sich eine Träne aus dem Auge. Für Laurin und seinesgleichen war der Erlöser nicht gekommen, ließ die Kirche ihn und die ganze Welt wissen.

Sein eigener Sohn, Julian, wäre jetzt neun Monate und ein paar Tage älter als Laurin. Wäre er nicht morgen, am Heiligen Abend vor fünf Jahren, kaum geboren, dem plötzlichen Kindstod zum Opfer gefallen.
Sein Blick trübte sich, als er sich seinen toten Julian neben dem nicht beseelten Laurin vorstellte. Zwei bedauernswerte Kinder und ein unglücklicher Vater.
Ob Julian auch ein so intelligenter, fröhlicher und herzensguter Junge geworden wäre? Mit genauso spitzbübischen Zügen, denen man ansah, dass er ein liebenswerter Rabauke war? Bestimmt, lächelte Bernhard in sich hinein und wischte noch eine Träne weg.

„Du wirst morgen nicht am Gottesdienst teilnehmen und nicht mit uns Christi Geburt feiern.“
Die mit ungewisser Angst gepaarte Verblüffung im sommersprossigen Gesicht des Jungen ließ Bernhard schwer schlucken. Warum konnte Clara es dem Jungen nicht selbst sagen? Sie hatte Laurin doch unbedingt haben wollen, um den Schmerz durch Julians Tod ertragen zu können, um etwas zu haben, das sie weinend in die Arme nehmen und hüten konnte.
Warum war Clara nun in diesem Punkt so gnadenlos?
Wegen den Erklärungen des Kirchenrates zu diesem Thema sicher nicht.
Weil sie Angst hatte, Laurin könnte doch mit Julians Seele erlöst werden und in das Reich Gottes einziehen? Julian seines Platzes im Paradies berauben? Das musste es wohl sein. Aber so etwas war nach Ansicht aller Führer der Christenheit nicht möglich. Laurin hatte laut ihnen keine Seele – auch wenn niemand Genaues wusste. In der Bibel stand nichts darüber und auch die Kirche konnte es nicht mit Sicherheit bezeugen. Hoffte er.
Laurin hob die Hände und die Bewegung riss Bernhard aus seinen Gedanken. Das immer etwas blasse Gesicht des Jungen war jetzt weiß wie die Unschuld geworden.
„Papa? Warum nicht, Papa?“ Laurin wich einen Schritt zurück und sah mit wässrigen Augen von unten zu ihm auf. „Christus ist doch auch für mich auf die Erde gekommen.“
„Eben nicht.“
Laurins blassgraue Augen schwammen plötzlich in Tränen. „Papa?“
„Lass es gut sein“, krächzte Bernhard und fuhr sich mit dem Ringfinger seitlich an der Nase entlang. Die aufgenommene Feuchtigkeit zerrieb er zwischen Finger und Daumen. „Lass es gut sein. Du wurdest erschaffen, nicht gezeugt. Du hast keine Seele, die erlöst werden kann.“
„Ich bin ein Kind Gottes!“, stammelte Laurin.
Lasset die Kinder zu mir kommen, dachte Bernhard, und es brach ihm beinahe das Herz, als er sich zu einer Antwort zwang: „Nein. Du bist nur Julians Klon.“
 

 

 

 


Diese Geschichte hat Literatopia-User Teja für den Adventkalender eingesandt.

Die beiden Bilder dazu sowie die Anregung zur Schachtelgestaltung stammen von lu, Mitglied des Moderations- und Redaktionsteams.

Beiden ein herzliches Dankeschön!