16. Dezember

Über und über ist das Geschenkpapier, das die heutige Schachtel verziert, mit Bildern verschiedenster Kekse übersät – Zimtsterne, Linzer Augen, Vanillekipferl, Schokoladenplätzchen, Lebkuchen, Gebäck, dessen Namen du nicht einmal kennst, beinah ist dir, als würde es dir entgegenduften aus diesem Meer an Köstlichkeiten. Du hoffst, innen ähnliches vorzufinden, doch als du die Schachtel hebst, klimpert und klingelt es, als würde Glas an Glas schlagen. Das hört sich nicht nach Weihnachtsbäckereien an. Vorsichtig stellst du sie wieder ab und entdeckst, dass sie anders zu öffnen ist – statt dem Deckel musst du die Vorderseite beiseite klappen ...  

 

16. Schachtel: Weihnachtsfeiertage  

 

Du kannst für einen Moment deinen Augen nicht trauen: Von der Decke der dunkelrot ausgekleideten Schachtel hängen Kaskaden schimmernder Christbaumkugeln, die das einfallende Licht reflektieren, tanzende Flecken an die Wände und auf deine Hände malen. Du streckst behutsam die Finger aus, streichst darüber, bringst sie zum Klingen, als sie leicht aneinander stoßen. Entdeckerlust keimt in dir auf und du fährst tiefer in diesen Vorhang, tastest dich hindurch und stößt auf einmal auf einen Teller – tatsächlich mit Weihnachtskeksen gefüllt! Und daneben ein dampfender Becher mit Punsch. Du ziehst beides heraus und entdeckst auf dem Teller auch einen Umschlag. Du entnimmst ihm einen Papierbogen, um den sich ein Muster aus Weihnachtsmannmützen und Flügeln zieht, und während du an einem Keks zu knabbern beginnst, folgst du der spöttelnd knappen Schrift ...  

 

.

Modern Business – (k)ein Weihnachtsmärchen


Die alten Scharniere knarrten protestierend, als sie den schweren Torflügel aufschob, gerade weit genug, um hindurchschlüpfen zu können. Hastig ordnete sie ihre von der Arbeit zerzausten Goldlocken und strich über das knisternde Kleid aus Schneekristallen. Auf diese Art salonfähig gemacht, trat sie in die große Produktionshalle. Der Duft von Zimt, Punsch und Kerzen hüllte sie warm ein. Es war ein wohlig vertrautes Gefühl. Und doch erkannte sie sogleich, dass etwas ganz und gar nicht war, wie es sein sollte.
Die Halle lag in düsterem Zwielicht. Nichts regte sich. Keine der riesigen Spielzeugmaschinen war in Betrieb. Von der für diese Jahreszeit üblichen, mitreißenden Hektik war nichts geblieben. Fast hätte das Christkind glauben können, es wäre mitten im Sommer hierher gekommen und nicht wenige Tage vor der Weihnacht.
Nur in einer Ecke waren glitzernde Sternenketten kreuz und quer gespannt, laute Musik drang dazwischen hervor.
Das Christkind rannte eilig zum anderen Ende der Halle. Seine nackten Füße wirbelten kleine Staubwölkchen vom Boden auf, der wirkte, als wäre er seit einem Jahr nicht gefegt worden – und blieben mit einem Ruck stehen, als es einen Blick auf das erhaschte, was vor sich ging.

„Jingle bells, jingle bells, jingle all the way ...“, grölte der Weihnachtsmann wenig melodiös und schien  dabei das glockenhelle Stimmchen nicht zu hören, das aufgeregt versuchte, sich über die disharmonischen Klänge zu erheben, die aus vier Lautsprechern dröhnten, ringsum auf den Stapeln größerer und kleinerer Geschenkboxen aufgestellt. Der Weihnachtsmann selbst hatte es sich auf einem gepolsterten Lehnstuhl bequem gemacht, einen Teller mit Schokoladenkeksen auf den Knien und einen Krug mit einem dampfenden Getränk in der Hand, das ein intensives Rumaroma verbreitete. Nur in einen weiten Hausanzug aus royalblauem Nikiplüsch gewandet, war einzig der lange Bart vom typischen Weihnachtsmannoutfit geblieben, das die Cooperate-Identity-Richtlinien vorschrieben. Zu seinen Füßen, die in dicken Fellpantoffeln steckten, saß ein Rentier, den Kopf tief in einem Kübel, dessen Geruch ebenfalls Rückschlüsse auf einen nicht unerheblichen Alkoholgehalt zuließ. Zufriedene Schmatz- und Schlürfgeräusche drangen aus dem Behältnis, ebenso wie ein tiefrotes Leuchten.
Jingle bells, jingle bells, jing – Stille.
Das Christkind hatte den Stecker der Stereoanlage gefunden und gezogen.
Der Weihnachtsmann fuhr auf und beförderte dabei seine Schokoladenkekse in den Kübel des Rentiers, was dieses mit einem gedämpften „D’nke! Mmpf!“ quittierte.
Seine grauen Augen huschten umher und blieben an denen des Christkinds hängen, deren kristallenes Blau angriffslustig funkelte.
„Klaus! Was ist hier los?“ Mit vor der Brust verschränkten Armen baute sich das Christkind neben dem Lehnstuhl auf. Seine Flügel zuckten erregt.
„Wir feiern Weihnachten, Süße!“ Der Weihnachtsmann ließ sich behaglich zurücksinken und zeigte auf den Kübel. „Nimm dir auch einen Punsch, wenn noch einer übrig ist.“
Der Kopf des Rentiers tauchte aus den Tiefen des Punsches auf. Seine Nase leuchtete wie eine rote 100-Watt-Glühbirne. „Hallo Christa!“
„Rudolf! Bei Maria und Josef, seid ihr noch zu retten? Wo sind die Weihnachtselfen? Wieso stehen die Maschinen still? In wenigen Tagen ist Weihnachten! Die Geschenke müssen gefertigt werden!“
Klaus machte eine abfällige Handbewegung zu den Kisten ringsum. „Schon fertig! Alles bestellt per Onlineshopping!“
„Was?“ Christa schwirrte zu einem der Geschenkkartons und begutachtete ihn skeptisch. An der Seite war ein Zettel befestigt. „Zustellung per Expressbotendienst?“, las sie laut.
„Korrekt!“ Klaus hob seinen Krug, als proste er ihr zu. „Keine Schlittenfahrten mehr durch eisige Winternächte. Keine rußigen, engen Schornsteine. Kein bescheuertes Ho Ho Ho! Das, Süße, ist der modern way of business!“
„Genau!“, pflichtete Rudolf bei. „Keine Plackerei mehr! Stattdessen: Party!“ Sein Kopf verschwand wieder in dem Kübel.
Christa breitete in einer hilflosen Geste die Arme aus. „Ist euch klar, was das alles kostet? Ihr seid nach einer Saison pleite! Ihr könnt den Laden dicht machen und dann bekommen die Kinder keine Geschenke mehr – zumindest die amerikanischen und alle anderen, zu denen eben der Weihnachtsmann kommt und nicht ich!“ Sie schüttelte ihre Goldlocken. Eine Bewegung, der ihr Heiligenschein nur träge zu folgen bereit war.
Der Anblick ließ Klaus belustigt grunzen. „Im Gegenteil.“ Er legte demonstrativ die Beine übereinander. „Ich überlege bereits, mit einer angemessenen Abfertigung in die wohlverdiente Rente zu gehen. Ein kleines Häuschen in der Karibik ... Rudi kann den Laden alleine schmeißen. Hörst du, Rudi, du wirst der Chef hier!“ Als Antwort ertönte nur ein Glucksen aus dem Kübel. In gespieltem Ärger nahm der Weihnachtsmann einen Pantoffel vom Fuß und warf ihn nach dem Rentier. Das Glucksen ging in missgelauntes Brummen über.
„Schwing die Hufe und zeig ihr den Bescheid!“
Widerwillig trennte sich das Rentier von dem Kübel und stakste auf wackeligen Beinen zu einem Tisch, auf dem zwischen Glühweinflaschen und Tellern voll Vanillekipferln und Nussmakronen auch ein Blatt Papier lag. Den Brief im Maul wankte Rudolf zum Christkind hinüber, während Klaus erklärte: „Da steht, dass wir als Unternehmen von globaler Bedeutung für Öffentlichkeit und Wirtschaft förderungswürdig sind. Deshalb wird unserem Antrag auf Kredithilfe aufgrund der Folgen der Finanzkrise stattgegeben und ein einmaliger Zuschuss von fünfzehn Millionen US-Dollar aus den Mitteln eines Konjunkturpakets ausbezahlt.“
Und so nahm auch Christa von dem Glühwein und den Keksen und sie feierten bis ins neue Jahr.
  

.

 Diese Geschichte wurde von Forumsmitglied Silver Unicorn eingesandt. 

Das Bild dazu stammt von Michaela Mayer-Daniels, ebenfalls auf einem Christkindlmarktjagdzug geschossen. 

Herzlichen Dank!