18. Dezember

Das Geschenkpapier, das die heutige Schachtel einhüllt, ist verblasst und ein wenig zerknittert, du bemerkst den einen oder anderen Riss in den altmodischen Druckbildern von Weihnachtsmännern in ihren roten Mänteln. Du fragst dich, was los ist – hatte niemand Zeit für eine vernünftige Verpackung? Oder ist der Schachtelstapel einmal umgefallen und hat dabei diese Schachtel in Mitleidenschaft gezogen?  Trotzdem, du ärgerst dich nicht. Vielleicht hat gerade dieser ramponierte Eindruck etwas, das dich vorsichtig die Finger ausstrecken und den Deckel heben lässt ...  

 

18. Schachtel: Perspektive  

 

Der Geruch abgebrannter Wunderkerzen und trockenen Reisigs steigt dir in die Nase, als du in die Schachtel siehst – sie ist mit Teppichbodenbelag ausgekleidet, schon ein bisschen fleckig und verwaschen. Ein Tannenzweig liegt darauf, schon angetrocknet, daneben eine erloschene Kerze und eine leere Einwegspritze, schon gebraucht, auf einem Rest Verbandsmull. Beinahe hast du eine gewisse Scheu davor, hineinzugreifen, doch du überwindest dich und ziehst den Umschlag heraus, der in einer Ecke lehnt – entnimmst ihm einen Papierbogen, der seltsamerweise etwas von einem Formular hat, die Zeilen sind eng mit Kugelschreiber beschrieben. Du beginnst zu lesen und verlierst dich in einer ungewohnten Perspektive ...  

 

 

- Sieben, acht, neun, dreißig.
- Lasst's es gut sein.
Anne hob den Kopf, um Jakob einen ihrer Blicke zuzuwerfen. Herbert verharrte in der Bewegung, kniend und noch halb geduckt wusste er, dass er hassen würde, was jetzt kommen musste, und war noch nicht bereit, alles an seine vorgesehene Stelle zurückzulegen. Gucki sah verstohlen auf die Uhr. Eine Stunde und zwanzig Minuten waren vergangen, noch wagte er nicht, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.
Jakob nickte, fast unmerklich und doch energischer, als man es von ihm gewohnt war. Ohne hinzusehen, drückte er einen Knopf zu seiner Linken, bis das ohrenbetäubende Piepsen verlosch. Kurz streckte er seinen Rücken durch.
Mit zittrigen Fingern strich Anne über die Lider des alten Mannes, dessen wasserblaue Augen ganz trüb geworden waren.
- Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand. Es tut uns sehr leid.
Herbert legte seufzend die Spritze beiseite, auf den verwüsteten Teppichboden, und begann, das gröbste Chaos zu beseitigen. Aufgerissene Verpackungen, zerbrochene Ampullen, hastig griffbereit gelegtes Material – es war nicht das erste Mal.
Gucki nestelte an seinem Hosenbein nach einem Kugelschreiber, in der anderen Hand hielt er die große Mappe. Auch wenn die Zusammenarbeit reibungslos funktioniert hatte, war die Dokumentation naturgemäß hintan gestellt worden. Einzig Name und Anschrift waren auf das Protokoll gekritzelt worden. Wortlos notierte er im angegebenen Feld: 20:37 – NACA 7.
- Ich geh' dann mal funken.
- Ist in Ordnung, wir kommen zurecht.
Anne drückte einen der vielen Knöpfe auf einem der vielen Geräte.
- Stillhalten bitte, keine Artefakte!
Während die Maschine einen breiten Papierstreifen ausspie, war sie mit ihren Gedanken im Nebenzimmer, froh, nicht Jakobs Rolle übernehmen zu müssen. Sie riss den Streifen ab, doch die Betrachtung bestätigte ihr nur, was sie eigentlich schon seit Betreten des Einsatzortes gewusst hatte. Nulllinie. Keine irgendwie geartete Tätigkeit des Herzens mehr, das sie so lange nach allen Regeln der Kunst wieder zum Schlagen zu überreden versucht hatten.
Nach einem kurzen Kontrollblick drehte sie das Ventil der Sauerstofflasche zu, bis es zischte. Sie drehte an der Arretierung des dicken Schlauchs, entfernte die Verbindung zur Beatmungsmaschine. Mit ein paar Handgriffen löste sie die Fixierungen, dann konnte sie den Tubus aus dem Rachen ziehen. Ein Speichelfaden hing noch an den blauen Lippen, Anne wischte ihn mit Verbandsmull weg. Herbert hatte einen Müllsack bereitgelegt.

Schwer zu sagen, ob die Wölkchen, die aus Guckis Mund herausdampften, durch die eisige Nachtluft bedingt waren oder doch durch den Rauch seiner eilig angesteckten Zigarette. Mit klammen Fingern hielt er das Funkgerät.
- Leitstelle für 11/503, kommen.
- Hört!
- Schickst du uns bitte das KIT, so bald wie möglich!
- NACA 7?
- Ja.
- Ohje ... ich schau mal was ich tun kann, die sind heute auch unterbesetzt und außerdem drüben in Föhrstadt stationiert.
- Mach schnell, bitte, da sind Kinder ...
- Natürlich. Wie geht’s euch?
- Soweit okay, der Doc redet gerade mit der Familie und wir räumen auf. Das NEF ist so bald wie möglich wieder EB, wir bleiben vor Ort, bis das KIT da ist.
- Verstanden. Meldet euch, wenn ihr noch was braucht. Leitstelle Ende.
Gucki warf den Zigarettenstummel auf die Erde, trat wütender darauf als er es beabsichtigt hatte. Sie hatten versagt, ausgerechnet heute versagt!

Der Arm des alten Mannes war ganz schwer geworden, bemerkte Anne, als sie ihn anhob um die Kanülen zu entfernen. Nur kurz musste sie den Tupfer in die Ellenbeuge drücken, das Blut war schon versiegt, bald würden sich die ersten Livores bilden. Sie nahm eine Decke vom Sofa, eine flauschiggrüne, breitete sie über den Toten, dessen Namen sie sich nicht gemerkt hatte und auch nicht merken würde, von dem sie vor kurzem noch als Patient gesprochen hatte. Die Füße, die in Tennissocken und ausgelatschten Birkenstocksandalen steckten, lugten noch hervor.
- Gibst du mir die Psychopax, bitte?
Herbert reagierte schneller, er warf die Packung dem Notarzt zu, der diese geschickt auffing, dann machte er sich weiter daran, den Koffer wieder in Ordnung zu bringen. Jakob ging zurück ins Nebenzimmer, nahm das Fläschchen aus der Verpackung. Hoffend, dass sein Gesichtsausdruck als mildes Lächeln interpretiert werden konnte, schüttelte er zwanzig Tropfen in das bereitgestellte Wasserglas. Er legte seine Hand auf den zitternden Arm der Frau.
Trinken Sie das, Frau Sonnbichler. Das ist ein leichtes Beruhigungsmittel, es wird Ihnen gut tun.
Als Gucki leise das Zimmer betrat, hob er kurz den Kopf.
- Hast du die KIT-Leute verständigt?
- Ja. Fahrt ihr schon mal zurück auf die Dienststelle, das KIT ist in zwanzig Minuten da. Wir bleiben so lange, der Herbert und ich, von der Dispo aus ist das okay, Alberbach hat ja auch noch ein freies Auto.
- Du, Doktor, was hat denn der Opa?

Es war eigentümlich still während der Rückfahrt. Nur aus den Augenwinkeln sah Anne den Notarzt an, von Zeit zu Zeit während eines Blicks in den Spiegel. Mehr als sonst konzentrierte sie sich aufs Steuern des Passat, während Jakob aufmerksam sein Protokoll schrieb. Jedes Medikament, jede Dosierung musste dort verzeichnet werden, so wie alle Uhrzeiten und Messwerte auch. Er hatte sich alles gemerkt. Zwischen ihnen hatte sich die erschreckende Gewissheit ausgebreitet, dass sie von Anfang an umsonst gearbeitet hatten, dass nichts mehr den alten Mann hätte retten können, dass sie mehr zu geben versucht hatten, als ihnen möglich gewesen war. Es gab einfach Tage im Jahr, an denen man sich besonders anstrengt.
Erst, als in der Mittelkonsole ein Handy klingelte – Ain't No Mountain High Enough – schreckten sie auf.
- Deine Mutter, Anne.
- Lass gut sein, ich ruf sie zurück.

Gucki und Herbert blieb nicht viel mehr übrig, als sich verzweifelt anzusehen. Die Tochter des Toten weinte noch immer, der Schwiegersohn erzählte den Kindern mit bebender Stimme etwas vom Himmel, der Hund winselte. Das Mädchen war ungefähr zwölf Jahre alt, der Bub vielleicht sieben – etwa so alt wie Herberts eigene Kinder. Plötzlich überkam ihn das Bedürfnis, sie anzurufen, auch wenn sie momentan bei seiner Ex-Frau waren. Später ...
Als das Garagentor in die Höhe ratterte, war Anne gerade mit einer Kiste voller Material beladen in die Fahrzeughalle zurückgekehrt. Umsichtig begann sie, Venflon um Venflon, Ampulle um Ampulle, nachzuschlichten.
- Ich hab euch Defi-Elektroden mitgenommen, der Rest ist eh von uns gewesen.
- Danke. Wir müssen nur den Sauger putzen, Defi-Akkus und Dosenluft austauschen.
- Ja, stimmt. War noch was?
- Nein, also, nichts was nicht dazugehört. Ich hasse diese psychische Betreuung, ich hab da kein Talent dafür.
- Zum Glück waren die vom KIT recht flott. Wollen wir dann endlich essen?
- Ja, sagt dem Doktor, er soll das Backrohr aufs Neue anwerfen. Schaun wir mal, wie lang wir wirklich Ruhe haben!
Keine zehn Minuten später saßen sie mit brennenden Zigaretten und dampfendem Kaffee um den kleinen Küchentisch. Drei Stunden waren vergangen, seit die Einsatzmeldung sie von ihrem liebevoll zubereiteten Festtagsessen weggejagt hatte. Alle waren sie müde, ihre schmerzenden Arme und Knie würden sie noch den Rest der Nacht an die Reanimation erinnern, an die sie nicht mehr erinnert werden wollten. Insgeheim hofften sie alle, nicht mehr hinaus zu müssen.
Herbert begann, das Fleisch anzuschneiden, Gucki lachte über seine Qualitäten als Hausmann, Anne hatte ihren Kopf an Jakobs Schulter gelegt, aus dem Radio tönten die lieb gewonnenen alten Lieder. Jakob schnallte den Pager von seinem Gürtel, legte ihn neben das Funkgerät auf den ausnahmsweise festlich gedeckten Tisch, nicht, ohne ihn vorher noch zu beschwören:
- Und du, mein Freund, gibst jetzt eine Ruh'. Bis auf weiteres ist Weihnachten.



Glossar: NACA 7 – Code der Todesfeststellung. Tubus – Schlauch, der zur künstlichen Beatmung in der Luftröhre eingesetzt wird. KIT – Kriseninterventionsteam. NEF – Notarzt-Einsatzfahrzeug. EB – Einsatzbereit. Psychopax – Beruhigungsmittel. Livores – Totenflecken. Venflon – Venenverweilkanüle, Markenbezeichnung.
 

Diese Geschichte ist rein fiktiv, Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Ereignissen sind zufällig und gänzlich unbeabsichtigt.

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  Diese titellose Geschichte wurde von Literatopia-Mitglied talblick eingesandt.

Das Bild dazu stammt vom anonymen Bildspender Thantalas.

Bei der Schachtelbeschreibung hat mir erneut lu hilfreich zur Seite gestanden.

Herzlichen Dank allen dreien!