20. Dezember

Heute ist die Schachtel mit einer Kinderzimmertapete beklebt. Ja, tatsächlich, einer richtigen klassischen Tapete mit Teddymuster, und zuerst musst du beinah lächeln, doch dann erkennst du, dass mit den Bären etwas nicht stimmt. Dem einen fehlt ein Knopfauge, dem anderen ein Ohr, einem quillt ein wenig Füllung aus den Pfoten. Und sie sehen nicht fröhlich aus. Dir ist, als läge etwas Altes in ihrem gemalten Blick. Du scheust fast davor zurück, doch dann hebst du den Deckel ...  

 

20. Schachtel: Wunschzettel  

 

Leer ist die Schachtel innen, ganz schmucklos, nur in der Mitte liegt der Umschlag und darauf zwei, drei abgenutzte Buntstifte. Du tastest in die Ecken, fast ungläubig, dass dich wirklich nicht mehr erwartet, doch dann willst du wissen, was es mit allem auf sich hat – ziehst den Papierbogen heraus. Ein schlichtes weißes Blatt, bedeckt mit krakeliger Kinderschrift und ein paar hingekritzelten Bildern; ein Weihnachtsmann, ein Tannenbaum. Zögernd beginnst du, zu lesen ...   

 

 

 

Lieber Weihnachtsmann,


ich weiß, dass ich nicht brav war. Mama sagt das jedenfalls und Papa haut mich deswegen manchmal auf den Popo, oder ins Gesicht, aber ich versuche immer, ein lieber Junge zu sein. »Iss deinen Teller leer, sonst verhaut dich der Knecht Ruprecht!«, sagen sie immer zu mir. Oder: »Räum dein Zimmer auf, sonst bringt der Weihnachtsmann keine Geschenke!«
Dann esse ich immer ganz auf und putze mein Zimmer immer ganz gründlich, damit du mir nicht böse bist und mir vielleicht dieses Jahr etwas schenkst.
Dabei wurde ich doch noch nie von deinem Helfer, dem schwarzen Knecht Ruprecht mit dem langen Stock verhauen ... also bin ich vielleicht doch gar nicht so ein böser Junge, wie Mama und Papa immer sagen.
Ich versuche ja auch immer ganz lieb zu sein, aber wenn sie mich anschreien, dann fühle ich mich immer böse und weiß, dass ich etwas Falsches gemacht habe und dass es gerecht ist, dass ich keine Geschenke bekomme. Schließlich sollen nur die lieben Kinder Geschenke bekommen und wenn jetzt auch ein böses Kind ein Geschenk bekommt, dann würde ja ein liebes Kind dafür kein Geschenk bekommen können und das wäre dann ungerecht.
Das sagen Mama und Papa jedenfalls immer, aber die müssen das ja auch wissen, weil sie dich schließlich jedes Jahr fragen, ob ich ein lieber Junge gewesen bin und ob du Geschenke für mich hast. Letztes Jahr war ich wieder böse, aber ich habe mir dieses Jahr richtig Mühe gegeben. Ich habe immer aufgegessen, aber trotzdem hat es manchmal am nächsten Tag geregnet.
Mama und Papa sagen nämlich immer, dass es regnet, wenn ich meinen Teller nicht leer esse und dass dann irgendwo auf der Welt Menschen sterben müssen, weil der Regen ihre Häuser kaputt macht und dass sie dann nirgendwo mehr wohnen können.
Aber dabei will ich doch gar nicht, dass wegen meinem Regen Menschen kein Haus mehr haben und ich habe ja auch immer ganz aufgegessen. Sogar die Soße habe ich vom Teller gekratzt und manchmal danach freiwillig den Tisch abgeräumt.
Und mein Zimmer habe ich auch jede Woche ganz von selber aufgeräumt und Mama musste mich deswegen gar nicht anschreien, aber sie hat es trotzdem getan, weil ich so dumm bin, sagt sie immer.
Und Papa hat mal gesagt, dass ich ein Unfall bin, aber das habe ich nicht verstanden, weil ein Mensch doch gar nicht ein Unfall sein kann, oder lieber Weihnachtsmann?
Vielleicht bekomme ich ja auch deswegen keine Geschenke, weil ich ein Unfall bin. Vielleicht heißt Unfall, dass man böse gewesen ist. Aber dieses Jahr bin ich kein Unfall, denn ich war ganz brav und mutig. Ich habe sogar dann nicht geweint, als Papa mich mit dem Stock auf den Rücken geschlagen hat und der Stock dabei kaputtgebrochen ist. Ich hatte ganz fiese Splitter im Rücken, aber ich war mutig und habe nicht geweint und auch nicht geschrieen. Papa sagt nämlich immer, dass nur Mädchen weinen und dass aus mir ein richtiger Junge werden soll.
Nur nachts weine ich manchmal heimlich, wenn Mama und Papa sich wieder streiten und Sachen aus unserer Küche und aus unserem Wohnzimmer auf den Boden werfen.
Weil sie sich nicht lieb haben, sagt meine Oma immer wenn sie manchmal zu Besuch kommt. Aber warum macht man denn Sachen kaputt, wenn man sich nicht lieb hat?
Manchmal verstehe ich meine Mama und meinen Papa einfach nicht. Zum Beispiel, wenn sie mich in den Arm nehmen nachdem sie gesagt haben, dass ich böse war. Und dann riecht Mama immer nach dem Wasser, was man nur aus den kleinen Gläsern trinkt und redet so komisch, wie sie es sonst nie tut.
Aber vielleicht verstehe ich das ja nicht, weil ich so ein dummer Junge bin und so wenig kann. Papa sagt das jedenfalls immer, wenn ich ihn etwas frage.

Aber du weißt das ja bestimmt alles, denn du bist ja der Weihnachtsmann und ich wünsche mir dieses Jahr von dir, dass ich ein guter Junge sein werde.
Ich weiß, dass ich mir das jedes Jahr schon von dir gewünscht habe, aber ich habe es ja noch nie von dir bekommen und dieses Jahr habe ich mir so viel Mühe gegeben, nicht böse und ganz mutig zu sein, dass du mir den Wunsch vielleicht dieses Jahr erfüllen kannst.

Ich hab dich lieb, Weihnachtsmann.

Dein Peter  


Diese Wunschzettelgeschichte hat Literatopia-User Lars eingesandt.

Das Bild dazu stammt von Ichigo, ebenfalls einem Mitglied unserer Community.

Beiden herzlichen Dank!