23. Dezember

Von außen ist die Schachtel für den 23. Dezember in ganz unauffälliges, anthrazitfarbenes Papier gepackt; fast ein wenig enttäuschend schlicht. Du hebst sie auf und dreht sie ein bisschen, vielleicht ist ja doch irgendwo eine Schleife versteckt oder ein Muster; doch du findest nichts, nur das steingraue Papier. Du setzt sie ab, unzufrieden – einen Tag vor Weihnachten so etwas ... Da hörst du etwas von innen - Stimmen? Füßegetrappel! Du runzelst die Stirn, legst behutsam die Hände auf den Deckel, als würdest du dich anschleichen wollen, und reißt ihn dann mit einem Ruck auf.   

 

23. Schachtel: Wege  

 

Da, tatsächlich Spuren, Spuren im Schnee – bewegt sich in der Ecke etwas? Du beugst sich weiter über die Schachtel und siehst überrascht, dass du auf etwas wie einen Dorfplatz hinunter schaust: Ein großer Christbaum in der Mitte und rundherum säumen Türen die Schachtelwände! Beschneite, eisverkrustete Türen, Türen, vor denen Schlittschuhe hängen, Türen mit winzig kleinen Weihnachtskränzen und Mistelzweigen geschmückt, Türen mit Fensterchen aus Glas, durch die du warmes Licht siehst, Türen, zu denen tief verschneite Stufen hinaufführen. Fast bist du versucht, eine von ihnen aufzumachen, hinein zu schauen, da entdeckst du unter dem Weihnachtsbaum, auf dem Lichterketten leuchten, ein Paket. Es steht auf einem winzigen Schlitten, damit es der Schnee nicht aufweicht. Du ziehst den Schlitten mit dem kleinen Finger hervor, schaust dich noch einmal um, aber das Dorf bleibt ruhig, und nimmt vorsichtig das Paket. Es ist in rotes, glänzendes Papier eingepackt, eine grüne-goldene Schleife wartet darauf, geöffnet zu werden. Fast willst du fast fragen "Darf ich?", aber dann kommst du dir lächerlich vor, das hier ist schließlich ein Adventkalender – außerdem überkommt dich die Neugier und du ziehst mit spitzen Fingern die Masche auf und hebst den kleinen Deckel. Ein eng zusammengefaltetes Stück Papier wartet darin auf dich, von rastlosen Buchstaben bedeckt, die ein wenig nach rechts geneigt sind, als würden sie vom Wind über das Blatt getrieben werden ... 

 

 

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Verstummter Vorweihnachtsregen. Gespiegelt auf dem nass-schwarzen Asphalt gleißend die Scheinwerfer, Auslagen, durchbrochen von hastenden Schatten, schwach die neue Weihnachtsbeleuchtung die Neubaugasse hinauf. Einkaufssamstag – hat es früher diesen Wahnsinn vor Weihnachten gegeben?
Du zuckst nicht einmal mit den Schultern, schaust dem 13A nach, der dröhnend und mit beschlagenen Scheiben eine dunkle Masse Richtung Mariahilferstraße befördert. Wahnsinn war hier immer, bleibt immer hier. Die Künstler und die Reichen; die Frau, die darauf bestanden hat, dass du den Mikrowellen verraten hast, wo ihr Wohnungsschlüssel liegt. Du drehst den Kopf weg vor den Erinnerungen, vertiefst dich in den Verkehrstumult auf der Burggasse, um nicht zu denken –
41 Jahre. Jahre, und davor die Lehrzeit. Hier ist mehr von deinem Leben, als irgendwo sonst, du trittst von einem Bein auf das andere. Sie haben dich gebeten, etwas trinken zu gehen mit ihnen, aber du wolltest noch nicht bereden, dich nicht befassen. Die Stille sein in den dunklen Nischen zwischen der Weihnachtshektik.

Nur noch vereinzelt die Autogeräusche, die Häuser wie große Laternen selbst. Normalerweise wärst du längst zu Hause; jetzt ist die Stadt Stille und nichts hält deine Gedanken, außer das Gehen – wenn es sein muss, bis in den zwanzigsten Bezirk von hier. Fast betäubend ist die Kälte; die Weihnachtslichter sehen so warm aus –
Nach 41 Jahren. Du hast kaum reagiert, als sie es ausgesprochen haben, kannst noch immer nicht reagieren: Wäre es nicht so real, es wäre unglaublich, unmöglich. Wohin sollst du jetzt noch?
Nicht nach Hause und nicht zurück. Weitergehen,
hilflos.

Punschtrubel, es riecht nach gebrannten Mandeln. Die Menge mit lachenden Gesichtern und abseits steht der Christbaum, lichtumrankt, hoch und ignoriert. Wunderschön und tot. Du starrst bewegungslos, ignoriert wie die alte Fichte, plötzlich, ahnungslos umgeschnitten. Zu schön, um weiterleben zu dürfen – und du? Unbegründet;
fort von den Leuten, lieber fliehen, über die immer noch nassen Straßen in die dunklen Nebengassen, heraus aus dem Zentrum. Die Straßenbahnen fahren fast leer, irgendwann lenkt dich deine Müdigkeit doch in einen der alten Wagons. Du könnest bis zur Endstation fahren und wieder zurück, bis sie den Zug einziehen, und steigst doch dort aus, wo du solltest.
..Wohin sollst du jetzt noch..

Die Donau spiegelt kalt und zerschabt die Straßenlaternen, auf der Brücke sitzt immer noch der alte Mann, dem beide Füße fehlen und sagt "Bitte!". Zu den Autos, den Tauben, den vereinzelt vorbeieilenden Beinen, "Bitte".
Hätte nichts genutzt, du hast es auch nicht gesagt; nicht einmal gedacht. Lieber gar nichts gedacht und mit den anderen geschwiegen, gestarrt und geschwiegen.
Du vergräbst das Kinn, bleibst vor einer Auslage stehen, um nicht mehr ihre Gesichter sehen zu müssen. Christbaumschmuck in glänzendem Stanniol, Schokoladenschirmchen "€ 1,50/ Stück". Dicht vor dem Glas hängt eine Weihnachtslaterne, durch das weiße Papier haben sie Sterne gestanzt und dahinter ist nur das Licht. Sternabdrücke auf deinen geöffneten Händen – Sterntaler;
leiser Schnee.
Durch die Flocken, deine eigene Erschöpfung, gehst du nach Hause, ignorierst den glänzenden Schmuck überall um dich: Es gibt kein Fest der Nächstenliebe und der Familie, kein Fest des Lichtes.
Gegen Gier kommt Weihnachten nicht an.
  

 


  Sowohl die Geschichte als auch die Bilder dazu und die Schachtelbeschreibung stammen von lu, Mitglied im Moderations- und Redaktionsteam.

Herzlichen Dank dafür!