Die Stille nach dem Schrei (Isolde Sammer)

Verlag: rororo, September 2010
TB, 400 Seiten, € 9,95
ISBN: 978-3499253706

Genre: Psychothriller


Klappentext

Irenes Leben wird zum Albtraum, als ihr Sohn Jonas gewaltsam ums Leben kommt. Der Täter: ihr neunzehnjähriger Stiefsohn Martin. Die Tat: im Affekt. Angeblich wurde Martin Zeuge, wie Jonas einen kleinen Jungen ermordete. Zudem behauptet er plötzlich, von seinem eigenen Vater missbraucht zu worden zu sein. Das Gericht spricht Martin frei, doch Irene zweifelt. An Martins Aussage. Und an ihren eigenen Erinnerungen. Sie will die Wahrheit herausfinden, um jeden Preis. Erst recht, als Martin die Abiturientin Tina in seinen Bann zieht. Denn Irene ahnt, wozu ihr Stiefsohn fähig ist...


Rezension

Hat er, oder hat er nicht? Wer hat wirklich wen ermordet? Jonas den kleinen Joey, nachdem er ihn gefoltert und missbraucht hat? Oder hat vielleicht Martin beide ermordet, als Jonas ihn bei dem Missbrauch überrascht hat? Dem Gericht und Martins Aussage nach, hat Martin Jonas dabei überrascht und ihn im Affekt erschlagen. So ein Kinderschänder verdient ja nichts anderes. Aber Jonas war zu dem Zeitpunkt gerade einmal 15 Jahre alt. Er war der geliebte Sohn von Irene und Joachim, bis dahin überhaupt nicht auffällig gewesen. Martin allerdings schon. Er ist der Sohn von Joachim, seine Mutter brachte sich nach seiner Geburt wegen postnataler Depressionen um. Irene versucht, auch ihm eine liebevolle Mutter zu sein, hat der Kleine doch schon einiges hinter sich. Aber Martin hat seinen eigenen Kopf und seine eigene Vorstellung von seinem Leben, auch schon als Kind. Irene zweifelt auch nach dem Freispruch des Gerichtes an dem angeblichen Tathergang und unternimmt ihr Möglichstes, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Sie zweifelt an ihrer eigenen Wahrnehmung, denn sie hat Jonas und Joachim nie als besonders gewalttätig oder mit absonderlichen Neigungen empfunden. Martin ist allerdings sehr gewitzt und abgebrüht, bisher konnte ihm auch keiner irgendetwas anderes nachweisen, als das, was er freiwillig zugibt.

Relativ früh ist eigentlich klar, wie die Sache mit Joey, Jonas und Martin in der Scheune gelaufen ist. Nicht nur versteckte Hinweise sondern ganz offen lässt die Autorin den Täter über seine Taten nachdenken und immer mehr kommen dessen perverse Neigungen zur Sprache. Eigentlich ist es nach dem Anfang, der noch einen Psychothriller vermuten lässt, eine Studie über die Gedankengänge und Hintergründe eines Pädophilen und Sadisten. Schonungslos geht Isolde Sammer auch dem kleinsten Gedanken nach, sie beschreibt, wie Martin auf seine Umwelt wirkt und wie intelligent er seine wahren Neigungen verschleiert und mit welch perfiden Maßnahmen seinen Willen durchsetzt. Tina Mahlbach, eine junge Abiturientin mit einem Brandmal im Gesicht, hat sich in ihn verliebt, als er ihr schon als Dreizehnjährige geholfen hat, ein paar übermütige Jungen in die richtigen Schranken zu weisen. Seitdem war er ihr Held, besonders da er sie auch noch in aller Öffentlichkeit geküsst hat, trotz ihrer Narben im Gesicht. Nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde, nimmt sie Kontakt zu ihm auf und ist ihm schnell physisch wie psychisch verfallen. Irene versucht sie noch zu warnen und über Martins Charakter aufzuklären, aber gegen Tinas Vernarrtheit kommt sie nicht an. Martin allerdings kann ihre Besessenheit sehr gut zu seinem Vorteil lenken. Um mit ihm zusammen zu bleiben muss sie ihre Skrupel und ihre Moral über Bord werfen.

Nach der Lektüre wendet man sich voller Grauen wieder der alten Frage zu, was wohl eher da war, das Huhn oder das Ei. War es wirklich Martins Kindheit, dass er so geworden ist oder ist es ihm tatsächlich angeboren? Irene hat versucht, was in ihrer Macht stand, aber Martin hat konsequent alle Annäherungsversuche abgelehnt. Aus schlechtem Gewissen, da er anfangs nicht für sein Kind da sein konnte, hat sein Vater ihm alles durchgehen lassen. Falsche Erziehung oder Veranlagung? Nach dieser Geschichte neigt man doch anschließend zur Veranlagung, denn nicht überall ist Martin in seiner Kindheit auf Lieblosigkeit gestossen. Wurde er so, weil er einen schweren Start ins Leben hatte? Dieses widerlegt Kommissar Hanno Schneider mit einer anderen Lebensgeschichte, die sehr zu Herzen geht. Was bleibt, ist allerdings die Ohnmacht gegenüber der Gesetzgebung, die erst einschreiten kann, wenn das Kind tot oder verletzt wird. Präventivmaßnahmen ohne dringenden Tatverdacht gibt es nicht, man kann aber auch leider nicht alle Kinder vorsorglich überwachen und schützen. Pädophilie und Gewaltverbrecher werden leider immer wieder ihre Lücken finden, man kann lediglich versuchen, so viele wie möglich aus dem Verkehr zu ziehen.

Die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven geschildert. Zum einen ist es Tina, die in Ich-Form und wie ein Tagebuch die Ereignisse schildert. Man merkt beim Lesen, dass schon irgendetwas Schlimmes passiert sein muss, denn es ist ein Brief an Kommissar Schneider, in dem sie ihn bittet, auf ihren kleinen Bruder aufzupassen. Tina rechnet zu dem Zeitpunkt mit ihrem Tod, was aber passiert, erfährt man erst nach und nach. Ansonsten kommen noch Martin, Irene und Hanno Schneider zu Wort, Isolde Sammer hat hier sehr eindringliche Charaktere gezeichnet, die auch sehr viele Grauphasen haben. Gerade Irene ist sehr tiefgründig, mal nett, mal verzweifelt, aber anfangs nicht so wirklich fassbar. Über den Charakter von Martin gibt es keinen Zweifel, man fragt sich ständig, warum er nicht schon eher aufgefallen ist. Tinas Bedrängnis nimmt den Leser am meisten mit, konnte sie wirklich nicht schon früher eingreifen? Ihre Faszination ist einerseits zwar verständlich, andererseits auch wieder nicht. Sie ist einfach ein junges Mädchen mit Handicap, welches sich vom ersten jungen Mann, der sich für sie interessiert, völlig vereinnahmen lässt. Aus Angst, seine Liebe zu verlieren und vielleicht nie wieder eine neue zu finden, wird sie in wahre Abgründe hinabgerissen, bei denen sie den Absprung auf die rettende Seite verpasst. Die Geschichte hat einige Längen, man wartet von Anfang an auf die Eskalation. Isolde Sammer verliert sich schon mal gerne in Gedankengänge oder Abhandlungen über das menschliche Gehirn, immer auf der Suche nach einer Lösung für das Verhalten.


Fazit

Eindringlich, einfühlsam und sehr prägnant hat Isolde Sammer eine Studie über ein äußerst brisantes Thema geschrieben. Ein Einfühlen in alle Personen ist möglich, tiefgründige Charaktere erlauben ein Hineinziehen in eine abscheuliche Geschichte. Viel Stoff zum Nachdenken bleibt, nachdem der Leser eine emotionale Achterbahn gefahren ist.


Pro und Contra

+ hochbrisantes Thema
+ Suche nach Gründen für die Neigung
+ interessante, vielschichtige Charaktere
+ Einblicke in die Gedanken eines Sadisten
+ eindringlich geschrieben

o langatmige Gedankengänge und Abhandlungen über medizinische Studien
o kein Verurteilen der Charaktere
o mehr psychologische Studie als Psychothriller

- stellenweise ziemlich langatmig

Wertung:

Handlung: 3,5/5
Charaktere: 3,5/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 3,5/5