Der WELT-Literaturpreis 2010 an Claude Lanzmann

Claude Lanzmann feiert mit unbändiger Lebensenergie das Glück des Geistes. Ausgezeichnet wird die Autobiografie "Der patagonische Hase".

In einem der schönsten und verschattetsten Gedichte Gottfried Benns heißt es: "Im Weingeruch, im Rausch der Dinge –: dienst Du dem Gegenglück, dem Geist." Aber wer sagt eigentlich, dass der Geist ein Gegenglück, das Gegenteil von Glück ist? Haben wir es hier am Ende wieder einmal mit der der deutschen "otherness", dem deutschen Sonderbewusstsein zu tun? Bei dem Franzosen Claude Lanzmann jedenfalls liegen die Dinge gänzlich anders. Der bald 85-Jährige, der mit seiner Autobiografie "Der patagonische Hase" das großartigste Buch über eine Intellektuellenvita des 20. Jahrhunderts geschrieben hat, das je veröffentlicht wurde, ist weit entfernt vom "Gegenglück". Er ist vielmehr mitten drin, im Glück, dieser Hans, der ja da Claude heißt.

Er, der noch heute von sich sagt: "Vergangenheit ist ganz entschieden nicht meine Sache", er stand "im Weingeruch, im Rausch der Dinge" nicht eine Sekunde lang abseits. Er suchte vielmehr und fand das Hochgefühl, die Ekstase sogar. Er schöpfte selbst in den gefährlichsten Situationen, in die er als französischer Jude und als Mitglied einer kommunistischen Widerstandsgruppe im Zweiten Weltkrieg wahrlich mehr als einmal geriet – er schöpfte immer aus dem Vollen.

Lanzmanns unbändige Lebensenergie

Ob er mit der Waffe in der Hand gegen die Nazi-Besatzer kämpfte, ob er als Segler, Kletterer, Taucher, Reiter, ob als Pilot in einem israelischen Kampfjet seine körperlichen Grenzen auslotete – er tat’s mit Lust, tat’s mit der gleichen unbändigen Energie, dem gleichen unstillbaren Lebenshunger, mit denen er sich den Frauen näherte, sich auf die Philosophie warf, aufs Schreiben sowie, last but not least: aufs Filmen. Denn als Filmemacher, vor allem als Schöpfer jenes neunstündigen Dokumentarfilms über die Vernichtung der Juden ("Shoah"“, nach zwölf Jahren Arbeit 1985 vollendet) ist er ja dann zurecht eine Weltberühmtheit geworden.

Und jetzt folgt auch noch, den Ida auf den Ossa wälzend, um es mit Kleists Achill zu sagen, die Autobiografie "Der patagonische Hase", die in der Literarischen Welt bereits in einer hymnischen Besprechung von Peter Stephan Jungk vorgestellt worden ist (zum Text kommen Sie hier.) "Dem Leser wird klar sein", heißt es im "Hasen" bereits auf Seite 35, "dass ich das Leben geradezu verrückt liebe, auch jetzt noch, da der Abschied von ihm nahe ist" – und Lanzmann vermag diese Liebesspannung tatsächlich bis zur finalen Seite 667 aufrechtzuhalten.

Nein, vom Benn’schen Gegenglück, vom deutschen Pathos der Entbehrung, des Verzichts, ist dieser Mensch äonenweit entfernt. Aber das bedeutet nicht, dass er darüber zum Hedonisten geworden wäre, zum behaglich im Wohlleben schwelgenden Genießer, verpuppt und verzierratet in einem Gehäus’, das mit ästhetischem Glamour prunkt.

Auf Pariser Lanzmann-Pilgerfahrt

Wer sich dieser Tage in Paris auf Pilgerfahrt zu Claude Lanzmann begibt, wird staunen. Sinnvollerweise beginnt die Pilgerfahrt in St. Germain des Prés, in jenem Viertel, wo der Ruhm der frühen Jahre für Lanzmann begann – an der Seite Sartres, vor allem aber an der Seite jener Simone de Beauvoir, mit der er, als einziger je, wie er betont, in einem eheähnlichen Verbund lebte. Damals in den Fünfzigerjahren.

Da schlendere ich also die Rue Jacob entlang. Ich komme an der Hausnummer 26 vorbei, wo Sartre jenes 180-Quadratmeter-Liebesnest für seine Zweitgeliebte Evelyne Rey gemietet hatte – es war die Schwester Claude Lanzmanns, es sollte ja in der kleinen erotischen Philosophengemeinschaft schön symmetrisch zugehen. Ich biege in die Rue Bonaparte. Dort, im vierten Stock der Nr. 42, mit Blick auf den Turm von St. Germain des Prés, wohnte Sartre.

Hier leitete er im ersten Nachkriegsjahrzehnt die Redaktionssitzungen von "Les Temps Modernes". Heute ist Lanzmann ihr Herausgeber, seit rund 25 Jahren. Diese Zeitschrift lancierte wirklich, wonach heute immer alle lechzen: Debatten. Doch jetzt berührt einen an dieser Stelle kaum ein Anhauch der heroischen Zeit des Existenzialismus. Alles ist aufgehübscht und edelblinkend, wie es zwar dem fortgeschrittenen Kapitalismus entsprechen mag, aber nie und nimmer jener Zeit, in der die französische Gesellschaft nach der Libération ganz langsam und unter vielen materiellen Entbehrungen wieder zu sich kam.

Lanzmann will nichts besitzen

Der lange Weg die Rue de Rennes und dann den Boulevard Raspail hinunter bis nach Montparnasse ist da schon angemessener für die Reise in eine Epoche, als Wohlstand wenig, das Versprechen von einem Leben in Aufrichtigkeit und Emanzipation jedoch alles galt. Da kommt auch schon die Rue Schoelcher. Hier kaufte sich im Hause 11 die Beauvoir von jenem Geld, dass ihr der Prix Goncourt für "Die Mandarins von Paris" einbrachte, 1955 jene Atelierwohnung, in der sie bis zu ihrem Tode 1986 lebte. Wäre da nicht eine Plakette, die an sie erinnert, man würde dieses in unauffälligem Art Déco gehaltene Gebäude glatt übersehen.

Verlängerung der Rue Schoelcher ist aber nun die Rue Boulard. Und dort ist Claude Lanzmann zu Hause. Eben kommt er mir, begleitet von seiner Sekretärin, zwei Plastik-Einkaufstüten in der Hand, entgegen. Auch sonst ist das Ambiente wenig "résidentiel". Aus der nahegelegenen Fußgängerzone quillt Krach; auch auf dem Pausenhof der Grundschule gegenüber geht es nicht eben leise zu. Und oben bei Lanzmann? Herrscht das produktive Chaos eines Arbeitsmenschen. Von Biederbürgermeier nicht die Spur.

Die Wohnung gehört ihm aber natürlich? "Mais non", knurrt Lanzmann, er sei nur Mieter hier. Immerhin nicht mehr Untermieter, was er anfangs, in den Siebzigerjahren, noch war. Und fügt im Ton, als solle ich mir dieses ein für alle Mal jetzt merken, hinzu: "Ich habe nie etwas besessen. Ich habe kein Eigentum. Nun gut, ein Auto, und, ich geb’ es zu, ein Fahrrad." Sowie, wage ich eine Ergänzung, jede Menge Fotos vor der Bücherwand. Denn die sind wirklich eindrucksvoll: Aus allen Phasen seines Lebens, vom Kleinkind, über den schon in der Résistance aktiven Gymnasiasten in Clermond-Ferrand sowie die gemeinsame Zeit mit Sartre und Simone bis hin zu den Ehrungen durch Mitterrand und Chirac: Alles ist da, alles hat sich erhalten – und wird einmal ein schönes Pléiade-Album abgeben, hoffentlich!

Doch das ist eigentlich schon viel zu repräsentativ gedacht für diesen Mann, der nichts weniger als repräsentieren will. Natürlich weiß er, dass er so etwas wie der letzte Überlebende einer Epoche ist, in der die Intellektuellen ihre Erfüllung in der selbstbestimmten Arbeit fanden – und in sonst gar nichts. Mit kaum einem Sous in der Tasche – für seine Mitarbeit bei "Les Temps Modernes" hat er nie ein Honorar, geschweige ein Gehalt gesehen – ging er an seine Projekte, für die er sich soviel Zeit nahm, wie er brauchte.

Lanzmanns Verhältnis zu Sartre

Seine Reportagen und Porträts französischer Kulturgrößen, die ihn in den Sechzigerjahren bekannt machten, kosteten ihn oft Monate, denn er verwendete dieselbe Sorgfalt darauf wie auf seine philosophischen und politischen Aufsätze. "Ich bin ein Mann von totaler Kohärenz", versichert Lanzmann mehrmals bei unserer Begegnung und betont, dass diese "Kohärenz" ihm wichtig war (und nicht, was sie ihm materiell einbrachte). Zur "Kohärenz" gehörte auch, dass er den Journalisten in sich nie verleugnet hat. "Ich bin Schriftsteller, weil ich ein formidabler Journalist bin", kann er ausrufen, denn nur die Lumpe sind bescheiden, wie wir ja seit Goethe wissen.

Wir sitzen bereits bei seinem Lieblingsitaliener am Boulevard Magenta, als wir endlich auf Lanzmanns Verhältnis zu Sartre zu sprechen kommen. Ohne diesen "Meisterdenker" ist auch Lanzmanns Werdegang nicht zu verstehen. Allerdings wird der Begriff "Meisterdenker" sogleich von Lanzmann moniert. "Das entsprach seinem Selbstbild nicht. Sartres Ruhm in der Nachkriegszeit, den sich heute kein Mensch mehr vorstellen kann, beruhte gerade auf der Abwesenheit jeder bourgeoisen Attitüde. Das war kein autoritärer Typ, der die intellektuelle Unterwerfung verlangte."

Wir sprechen allerdings vom frühen Sartre, der sich noch nicht als politischer Narr zu erkennen gegeben hatte. Und Lanzmann, im Auftreten selber eher das, was die Amerikaner "casual" nennen, präzisiert: "Sartre hasste, was man in Frankreich das ,mondäne Leben’ nennt, diese ganze aufgedonnerte Geselligkeit, Diners, Empfänge und dergleichen. Für ihn stellte das Zweiergespräch die ideale Form der Kommunikation dar. ,Jedem sein eigener Empfang’ lautete die Devise. Das hielt Simone de Beauvoir nicht anders. Und mir leuchtete es auch ein." Übrigens, schaltet Lanzmann einen kleinen Exkurs ein, indem er auf seine Erfahrungen im Tübingen und im Berlin der späten Vierzigerjahre zu sprechen kommt, "übrigens waren solche Einstellungen in Deutschland damals auch verbreitet: Die Menschen wollten nach dem Krieg endlich wieder wahrhaftig sein. Das war die große Sehnsucht einer ganzen Epoche."

Aus dieser Epoche ragt Claude Lanzmann als einer der letzten Überlebenden in unsere Zeit hinein. Die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, nach der Befreiung von angemaßten Autoritäten, nach einer "totalen Kohärenz" im Man-selber-Sein prägt denn auch in hohem Grade sein Jahrhundertbuch "Der patagonische Hase". Für diese Autobiografie erhält Claude Lanzmann den WELT-Literaturpreis des Jahres 2010. Weil es so intelligent wie anmutig, so historisch aufschlussreich wie persönlich lustvoll vom Glück erzählt, ein Leben im Zeichen des Geistes zu führen.


Quelle: welt.de