Cay Winter (15.10.2010)

Interview mit Cay Winter

Literatopia: Hallo Cay! Auf der Frankfurter Buchmesse konnte man bereits „Babel“ am Stand von Egmont Lyx bewundern. Mit seinem düsteren, eleganten Cover fällt es dem Leser direkt auf. Ist es auch innen so düster? Und könnte man Babel trotz ihrer kriminellen Energien als „gute“ Hexe bezeichnen?

Cay Winter: Der Roman ist mal leicht und mal schwer – wie das Leben eben – und genauso ist auch seine Hauptfigur Babel. Seien wir ehrlich, wer von uns würde magische Fähigkeiten nicht dazu einsetzen, ab und zu mal einen persönlichen Vorteil zu erlangen? Das macht Babel jedoch nicht grundsätzlich zu einem schlechten Menschen. Sie verfügt über moralische und ethische Prinzipien, aber sie ist auch nur ein Mensch, daher scheitert sie auch manchmal. Genau wie wir mit den guten Vorsätzen zum Jahreswechsel.

Literatopia: Zu Beginn des Romans erlebt der Leser Babel als Kind, Teenager und junge Erwachsene. Wie wichtig sind diese Lebensabschnitte für die Storyline und vor allem für das Verständnis des Charakters Babel? Nach welchen Kriterien hast Du die Szenen zusammengestellt?

Cay Winter: Bei Rückblenden und Erklärungen kann es leicht passieren, dass der Leser den Eindruck erhält, dass der Autor spricht und jetzt mal eben die Hintergrundinfos zu seinen Figuren los werden will, damit Story und Motivationen Sinn erhalten – und genau das wollte ich vermeiden. Babel ist, wer sie ist, weil sie bestimmte Dinge erlebt hat, daher habe ich die Rückblenden der eigentlichen Geschichte vorangestellt. Wenn der Leser dann auf Babel als Erwachsene trifft, wird er sie hoffentlich besser verstehen.

Die Eingangsszenen sind wichtige Wendepunkte in ihrem Leben: Marias (Babels Mutter) Erkenntnis, dass Babel als Hexe über fast furchterregende Macht verfügen wird, Babels Einsicht, dass sie ein Problem mit der Magie hat und ihr Geliebter Sam teil dieses Problems ist, und ihre erste Begegnung mit ihrem Geschäftspartner Karl, der ihr zu einem neuen Start in ein stabileres Leben verhilft.

Und natürlich erfährt der Leser auch, wie Babel zu ihrem Dämonenpapagei Xotl kommt, diesem hässlichen und unmöglichen Vieh.

Literatopia: Interessant an Babel ist, dass sie anfangs quasi von einer „Dämonen-Sucht“ loskommen muss. Damit schlittert sie nicht zufällig in widrige Umstände hinein, sondern kämpft von Kapitel 1 vor allem auch gegen sich selbst. Wie wirken sich ihre persönlichen Probleme auf den Verlauf der Geschichte aus? Und ist sie – trotz ihrer „Sucht“ – ein eher starker Charakter?

Cay Winter: Viele Leute glauben, dass Sucht etwas mit Schwäche zu tun hat, und vergessen dabei, dass es im Leben der meisten Menschen etwas gibt, gegen das sie nur schwer angehen können. Mancher hängt in einer Beziehung fest, in der er nicht sein sollte, weil er nicht allein sein kann, ein anderer lässt sich aus Angst die Arbeit zu verlieren von seinem Vorgesetzten schikanieren, der Dritte kann nicht nein sagen, wenn er um einen Gefallen gebeten wird – der Kampf mit sich selbst ist immer am schwersten, und dass Babel den Kampf überhaupt aufnimmt, macht sie zu einer starken Figur, denn wie heißt es so schön: Wer nicht kämpft, hat schon verloren.

Literatopia: Wie üben die Hexen in „Babel“ Ihre Magie aus? Und was hat es mit den verschiedenen Ebenen auf sich?

Cay Winter: Meine Magie (oder vielmehr die meiner Figuren) hat mehr mit Physik als mit „Zauberei“ zu tun. Magie wird in diesem Roman als eine weitere Energieform dargestellt, sie unterliegt Gesetzen und ist nicht willkürlich. Daher können Hexen eher umwandeln als erschaffen. Wenn sie Einfluss auf Menschen nehmen, dann geschieht das, weil ihre magischen Energien die chemischen und biologischen Prozesse im Körper des anderen verändern. Daher kann Babel zwar nicht fliegen, aber Wasser zu Wein machen.
Es gibt neben der physischen Ebene auch noch die Ebene der Dämonen (reinen Energieformen, die in unserer Welt einen Wirtskörper brauchen) und der Toten. Babel, die eine der seltenen intuitiven Hexen ist, also kaum Sprüche und Abbildungen für ihre Magie braucht, kann diese Ebenen beeinflussen, das macht sie zu etwas Besonderem, selbst unter Hexen.

Literatopia: Interessierst Du Dich persönlich für Zauberei und Esoterik? Oder musstest Du quasi von Null ausgehend recherchieren, um den Roman glaubhaft zu machen? Was hast Du beispielsweise als Quellen benutzt?

Cay Winter: Sagen wir mal so: Ich bin nicht religiös und an Tarotkarten glaube ich auch nicht, aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir noch längst nicht alles entdeckt haben. Nehmen wir zum Beispiel das Thema Empathie. Früher haben die Leute das für eine Erfindung der Science Fiction gehalten, heute weiß man, dass dafür die Spiegelneuronen im Gehirn verantwortlich sind, die man trainieren kann und muss. Inzwischen wundere ich mich also nicht mehr, wenn meine Mutter mich schon an der Tür begrüßt mit: „Warum geht’s dir denn heute schlecht, erzähl mal.“

Auf ähnliche Weise funktioniert auch die Magie im Roman, daher war ein wichtiges Buch zur Recherche sicher „Warum ich fühle, was du fühlst“ von Joachim Bauer, inzwischen so etwas wie der Klassiker zum Thema Spiegelzellen. Aber auch „Aradia – Die Lehren der Hexen“ von Charles Godfrey Leland war eine spannende Lektüre. Ebenso habe ich mir Bücher von Eliphas Levi angesehen, einfach um mir einen Überblick zu verschaffen.

Aber grundsätzlich würde ich sagen, die Magie im Roman basiert auf meiner eigenen Vorstellung davon, wie Magie funktionieren könnte und dem, was ich an Geschichten von anderen Leuten gehört habe. Wenn Menschen, die eigentlich überzeugte Atheisten und sehr bodenständig sind, plötzlich von einem Haus erzählen, in dem sie sich unwohl gefühlt haben und einer Gänsehaut, die sie überfallen hat, dann sollte man als Autor besonders gut zuhören …

Literatopia: Ab und an geht es in Deinem Roman auch ziemlich blutig zu und Babel gerät in Erklärungsnöte, wenn sie beim Metzger einen kompletten Hahn haben möchte. Wie kamst Du zu diesen Blutritualen? Stammen diese aus "Aradia – Die Lehren der Hexen"? Und hattest Du beim Schreiben Bedenken, dass die Rituale bei Deinen Lesern vielleicht nicht so gut ankommen könnten?

Cay Winter: Natürlich wird es Leser geben, die die Vorstellung nicht mögen, dass die Protagonistin zu solchen Mitteln greift und in ihrer Vergangenheit auch Tiere getötet hat, aber genau darum geht es ja. Auch Babel muss sich mit der Frage auseinandersetzen, ob sie bereit ist, Blutrituale durchzuführen, um anderen zu helfen. Wenn sich der Leser unwohl fühlt und denkt: „Nee, Mädel, das finde ich jetzt nicht so gut“, dann ist das genau der beabsichtigte Effekt, schließlich wäre es doch schlimm, wenn die Vorstellung von Ritualopfern uns keine Gänsehaut beschert.

In den Szenen, in denen die Blutrituale erwähnt werden, spritzt aber kein Blut wie in Splatter-Filmen oder so, es ging mir jedoch darum, zu zeigen, dass Magie keine einfache Sache ist. Sie kostet die Hexe Kraft und Opfer, auch emotionaler Natur. Sie ist nichts, was man mal eben so lernt, und vor allem hat sie nicht nur schöne Seiten.
Die Idee dafür findet Anlehnung an die Opferrituale alter Kulturen wie z. B. den Kelten und neueren Religionen wie dem haitianischen Vodou. Nach dem Motto: Ich gebe etwas, ich bekomme etwas. Sie fügt sich damit in das Gesamtkonzept der von mir beschriebenen Magiefunktionsweise ein – du kannst nicht aus nichts etwas erschaffen. Das ist wie beim Kochen: Am Anfang eines leckeren „Coq au vin“ steht nun mal leider ein toter Hahn.

Literatopia: Babel ist nicht die einzige Hexe in Deiner Welt. Wie verstehen sich die magisch Begabten untereinander? Und wird man im Verlauf der Geschichte auch männliche Vertreter kennenlernen?

Cay Winter: Ja, es gibt natürlich auch männliche Hexen. Meine Lektorin und ich haben lange darüber diskutiert, ob ich den Begriff „Hexe“ auch für Männer anwenden soll. Aber für mich klingt das Wort „Hexer“ immer irgendwie nach „Zauberer“ und „Hexe“ beschreibt eben wie „Katze“ eher die Art als das Geschlecht.

Da die Hexen immer Konkurrenten um die Energien eines Ortes sind, hüten sie ihre Reviere natürlich eifersüchtig. Wenn sie nicht gerade verwandt sind oder ausnahmsweise eine Liebesbeziehung eingehen, halten Hexen Abstand zueinander. Eine Hexe ist von Natur aus also eher Einzelgänger, das ist auch ein Grund, warum Babel schon mit sechzehn von zuhause auszieht genau wie ihre Schwester Judith, da sowohl die Mutter als auch beide Töchter magisch aktiv sind.

Literatopia: Im Roman tauchen so genannte Plags auf, die von Naturgeistern abstammen. Für den normalen Menschen sehen sie jedoch eher wie Punks aus, die am Stadtrand hausen. Woher stammen die Ideen für die Plags?

Cay Winter: Die in der Fantasy so beliebten Alben oder auch Elfen sind in der Mythologie ja ursprünglich Naturgeister – und ich habe mich einfach gefragt, was würden diese inkarnierten Naturgeister heute machen, denn sicher würden sie nicht mit Pfeil und Bogen durch die kaum noch vorhandenen deutschen Wälder ziehen. Die Städte breiten sich aus, also bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den Schritt aus dem Wald hinein in die Stadt zu wagen. Aber wer jahrhundertelang im Freien gelebt hat, zieht vermutlich nicht plötzlich in einen Plattenbau. Warum also nicht in einen alten Zirkuswagen, der ortsunabhängig ist und vor dem man abends sitzen kann, um in den Sternenhimmel zu schauen?
Die Plags haben nicht viel mit menschlichen Hierarchien und staatlichen Autoritäten zu tun – und siehe da, ich hatte meine Entsprechung gefunden! Meine Elfen haben also keine spitzen Ohren, sondern Piercings und Tätowierungen. Willkommen in der Moderne.

Literatopia: Wie wird es mit „Babel“ weitergehen? Nächstes Frühjahr erscheint bereits der zweite Band. Wie viele Romane sind insgesamt geplant?

Cay Winter: Nun, im ersten Band standen die Dämonen im Vordergrund, im zweiten wird es mehr um die Toten gehen. Es gibt natürlich ein Wiedersehen mit dem Dämonenpapagei Xotl und wir werden Babels Schwester Judith kennenlernen, die plötzlich mit einem Vodou-Priester vor der Tür steht. Und dann ist da ja noch die verzwickte Geschichte mit den Männern in Babels Leben … also alle Hände voll zu tun – wieder einmal. Wie es mit Babel nach dem zweiten Band weitergeht, steht noch nicht fest, schauen wir mal, wie sie aus dieser Geschichte rauskommt.

Literatopia: Vor „Babel“ hast Du eher Jugendbücher geschrieben und an ihnen mitgewirkt. Wie kam es zu dieser Verwandlung? War es einfach Zeit für etwas Reiferes – Erotischeres? Fiel Dir das Schreiben anfangs eher schwerer oder vielleicht sogar leichter?

Cay Winter: Wenn man es genau nimmt, habe ich zuerst für Erwachsene geschrieben, bevor ich mich an Jugendbücher gewagt habe. Es war nur so, dass die Jugendbücher früher veröffentlicht wurden. Einige der bereits veröffentlichten Kurzgeschichten für Erwachsene beinhalteten durchaus eine erotische Komponente, daher könnte man sagen, dass ich es jetzt mit den Jugendbüchern in dieser Hinsicht sogar ruhiger angehen lasse. [lacht]

Schreiben fällt mir eigentlich nur dann schwer, wenn ich gerade keinen Einfall habe, aber das hat nichts mit der Zielgruppe zu tun, sondern eher mit der weißen Seite und der drohenden Deadline.

Literatopia: Worauf müssen Jugendbuchautoren Deiner Meinung nach besonders achten, um ein junges Publikum gut zu unterhalten? Und was gehört absolut nicht in ein Jugendbuch?

Cay Winter: Das Jugendbuch ist im Moment so stark wie nie zuvor und das nicht nur in den so genannten All-Age-Romanen. Vor allem das nicht-phantastische Jugendbuch hat in den letzten Jahren immer wieder bewiesen, dass man Jugendliche (und auch Kinder) nicht unterschätzen darf. Sie können sehr gut einordnen, was realistisch ist, und merken auch, was ihnen gut tut und was nicht. Nach der Lektüre von „Pippi Langstrumpf“ ist ja auch noch kein Kind vom Dach gesprungen, weil es dachte, es kann fliegen. Nichts ist schlimmer als Autoren, die mit erhobenem Zeigefinger für Jugendliche schreiben oder versuchen, sich bei ihnen durch allzu übertriebene Jugendsprache anzubiedern. Jugendliche haben ein sehr feines Gespür dafür, ob ein Autor sie wirklich versteht oder aus einer erwachsenen Perspektive schreibt.

Das aktuell viel diskutierte Buch „Nichts“ von Janne Teller ist ein gutes Beispiel. Mancher Erwachsener tut sich schwer damit, weil es angeblich so eine negative Weltsicht hat, aber genau das trifft eben den Nerv der Zielgruppe, deren Gefühle in der Pubertät Achterbahn fahren und die sich von Erwachsenen oft im Stich gelassen fühlen.
Viele Eltern haben Angst, dass ihre Kinder mit Gewalt- oder Sexszenen in Jugendbüchern konfrontiert werden, die ihnen irgendwie schaden könnten, aber solche Einwände gab es schon vor Jahrzehnten bei Salingers „Fänger im Roggen“ und das ist immer noch eines der wichtigsten Bücher für Heranwachsende, die ihren Platz im Leben suchen. Der Aufruf an Autoren und Eltern muss also ganz klar sein: Traut euch – und traut euren Kindern etwas zu.

Literatopia: Gehörst Du zu jenen Autoren, die schon seit Kindertagen Geschichten erfinden und auch aufschreiben? Oder hast Du diese Leidenschaft vergleichsweise spät entdeckt?

Cay Winter: Seit ich schreiben kann, schreibe ich auch Geschichten, aber das ist eigentlich nichts Außergewöhnliches, schließlich erfinden viele Kinder gern Geschichten und nicht aus jedem wird ein Schriftsteller. Ich habe nur nie damit aufgehört und das ist vielleicht der entscheidende Punkt.

Literatopia: Liest Du eigentlich so viel und gerne wie Du schreibst? Welche Genres tummeln sich in Deinem Bücherregal? Und hast Du Lieblingsbücher, die Du mehrere Male gelesen hast?

Cay Winter: Im Gegensatz zu den meisten Lesern bin ich eher Autoren- statt Genre-Leser. Das heißt, wenn ich einmal einen Autor für mich entdeckt habe, bleibe ich ihm meistens durch die verschiedenen Genre treu. Daher sind meine Lieblingsbücher aus unterschiedlichen Genren. Eine kurze Auswahlliste der von mir hoch geschätzten Autoren: Robert Charles Wilson (Science Fiction), S. P. Somtow und Anne Rice (Phantastik), Christopher Rice (Krimi), Michael Nava (Krimi), Anne Golon (historischer Roman).

Platz 1 teilen sich im Moment Siri Hustvedt mit „Was ich liebte“ (zeitgenössischer Roman) und Jürgen Lodemann für „Der Mord – das wahre Volksbuch von den Deutschen“ (keine einfache Lektüre, aber der beste historische Roman, den ich je gelesen habe! Das Ausrufezeichen kann gar nicht groß genug sein).

Und Comics nicht zu vergessen, als Jugendliche war ich begeisterte „X-Men“-Leserin, später entdeckte ich dann Terry Moores „Strangers in Paradise“-Serie, der so wundervoll und witzig bewiesen hat, dass Männer Frauen durchaus verstehen können.

Literatopia: Wie wird es nach „Babel“ weitergehen? Planst Du weitere Urban Fantasy Romane? Oder wirst Du Dich wieder dem eher jüngeren Publikum zuwenden?

Cay Winter: Nach dem zweiten Teil für „Babel“ geht’s erst mal zurück ins Jugendbuch, zu einem Mystery-Roman, und wie’s danach weitergeht, wird sich zeigen, allerdings werde ich mich sicher nicht ausschließlich für das eine oder andere entscheiden, das wird wohl weiter parallel laufen.

Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!

Cay Winter: Ich danke.


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Dieses Interview wurde von Judith Gor für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.