Unheimliche Geschichten (Edgar Allan Poe und Benjamin Lacombe)

Jacoby Stuart (Oktober 2010)
Aus dem Amerikanischen von Arno Schmidt
und Hans Wollschläger
ca.160 Seiten, geb., Halbleinen,
19,5 x 27,5 cm, durchgehend farbig
€ [D]19,95|€ [A] 20,60|SFr 35,50
ISBN 978-3-941787-03-2

Genre: düstere Kurzgeschichten


Klappentext

Eine schöne junge Frau wird lebendig begraben. Totgeglaubte erwachen plötzlich wieder zum Leben, das blassblaue Auge eines alten Mannes wird zum Auslöser für tödlichen Hass – Edgar Allan Poe ist der Meister des Makabren und Übersinnlichen, und seine Unheimlichen Geschichten jagen dem Leser bis heute kalte Schauer über den Rücken. Der französische Erfolgsillustrator Benjamin Lacombe hat die Geschichten kongenial illustriert und damit ein schauerlich-schönes Meisterwerk geschaffen.


Rezension

Edgar Allan Poe wird sicherlich vielen Lesern das ein oder andere Mal in der Schule über den Weg gelaufen sein, wo er im Zwang vielleicht nicht seine Wirkung entfalten konnte. Auch sind seine Geschichten aus heutiger Sicht vielleicht nicht unbedingt „unheimlich“, da sie nicht mit effektvollen Splatterszenen und unrealistischer Brutalität aufwarten. Ihr Horror ist recht subtil, offenbart sich in der Psyche seiner Charaktere. Das Unheimliche bricht langsam in seine Worte ein, schleicht sich geradezu an den Leser heran und bereitet zunächst nur das unheilvolle Gefühl, dass etwas nicht stimme. Schließlich erkennt man die Protagonisten als das, was sie sind – Mörder, wahnhafte und depressive Charaktere, Menschen, die am Rande eines dunklen Abgrunds stehen und so lange hineinschauen, bis er in sie blickt …

Benjamin Lacombe’s Illustrationen passen zu Poe’s Geschichten wie die Faust aufs Auge. Es ist erstaunlich, wie stimmungsvoll er die düsteren Bilder gestaltet, selbst in der Dunkelheit noch viele Details schafft. Wie Poe’s Charaktere wirken seine Gestalten stets etwas verloren, mal ist ihr Blick vom Wahn getrübt oder von einer bedrückenden Traurigkeit durchspielt. Neben vielen herrlichen, oftmals auch zweiseitigen, Farbbildern ist das Buch von diversen Skizzen durchzogen. Zu jeder Geschichte finden sich mehrere Illustrationen, die die Szenen atmosphärisch perfekt einfangen. Wie auch Poe’s Geschichten sind die Bilder nicht offensichtlich erschreckend, sondern spiegeln das tief verankerte, psychologisch Bedenkliche wieder.

In „Berenice“ begegnet dem Leser gleich der erste schwierige Charakter. Der Protagonist ist in sich gekehrt, ein hoffnungsloser Tagträumer, der sich gewisse perverse Phantasien eingesteht. Die Außenwelt erlebt er wie Halluzinationen. Berenice, seine Kusine, ist das Gegenteil von ihm, lebendig, extrovertiert. Bis sie ein seltsames Leiden befällt … Auch der Protagonist in „Das Eiland und die Fee“ wirkt sehr verträumt. Diese Geschichte ist die anspruchsvollste im Buch – ihre surrealen Züge erschweren das Verständnis. Man muss sich auf die Worte einlassen, aus den philosophischen Grundton und die folgenden Geschehnisse. Auch finden sich hier die poetischsten Beschreibungen des ganzen Buches:

„Betrachte ich doch, offengestanden, gern die dunklen Talgründe, und die grauen Felsen, das schweigende Gelächel der Wasserscheiben, und die Wälder, unruhig seufzend in Dämmerträumen, auch die wachsam stolzen Berge, die auf all das herabschauen …“ (Seite 53)

Der schwarze Kater“ und „Das verräterische Herz“, eine von Poe’s bekanntesten Kurzgeschichten, warten mit kriminalistischen Hintergründen auf, konzentrieren sich jedoch beide vornehmlich auf den Wahn der Protagonisten. Zum einen wäre da ein Kater, der aufgrund seiner selbstlosen Liebe gehasst wird, und zum anderen ein blassblaues Auge, das die Protagonisten jeweils dazu bringt, einen Mord zu begehen. „Das ovale Porträt“ und „Morella“ steigen ebenfalls in die Tiefen der menschlichen Psyche hinab, allerdings auf eine weniger verbrecherische Art. Erstere Geschichte handelt von einem geradezu wahnhaften Künstler, zweitere erzählt von den Seelenqualen eines Mannes, der seine Frau nicht richtig lieben kann. Wie alle Geschichten weisen auch diese phantastische Elemente auf – wobei man bei Poe nie richtig weiß, ob es nun phantastisch ist oder es sich um die surrealen Verwirrungen des Geistes handelt.

Der Fall des Hauses Ascher“ ist die längste und zugleich eindringlichste Geschichte dieser Sammlung. Der Protagonist besucht seinen melancholischen, ja, geradezu depressiven Schulfreund Ascher. Er erkennt ihn kaum wieder, so bleich und eingefallen wirkt seine Gestalt. Als die geliebte Schwester seines Freundes stirbt, steht er ihm in der schweren Zeit bei. Edgar Allan Poe schildert den psychischen und körperlichen Zerfall auf eine so beklemmende und zutiefst glaubwürdige Weise, dass einem beim Lesen ganz anders wird. Die scheinbare Normalität des Trauerprozesses wird allmählich von Grausen durchzogen. Eine sehr leise Geschichte, die das Spektrum des Zerfalls wunderbar poetisch und bedrückend umschreibt.

Die einzelnen Texte sind jeweils abwechselnd auf weißen und auf schwarzen Hintergrund gedruckt, wobei darauf geachtet wurde, die längeren Texte schwarz auf weiß zu drucken. Der dunkle Hintergrund sieht zwar phantastisch aus, doch die weiße Schrift ist bei längeren Texten einfach anstrengend zu lesen. Was man auf dem Cover hier leider nicht erkennen kann, ist der herrliche Reliefdruck, der das Bild der jungen Dame umrahmt. Im Anhang findet sich ein ausführlicher Glossar mit Übersetzungen fremdsprachiger Textzeilen, Informationen zu in den Geschichten erwähnten, realen Personen sowie Angaben zur Erstveröffentlichung und Übersetzung der Texte. Dazu gibt es biographische Daten zu Edgar Allan Poe und Benjamin Lacombe. Insbesondere bei ersterem lassen sich Parallelen zwischen seiner Lebensgeschichten und den Charakteren seiner Kurzgeschichten ziehen. Der Preis erscheint auf dem ersten Blick relativ hoch, ist doch insgesamt durch den breiten Rand nicht gerade viel Text vorhanden. Doch allein die Qualität des Hardcovers und der hochwertige Druck der Illustrationen rechtfertigen den Preis. Dieses Buch ist sicherlich ein Sammlerstück und für all jene ein Muss, die Poe und wunderschöne Bücher schätzen.


Fazit

Nach wie vor beeindruckt Edgar Allan Poe mit seinem feinfühligen Stil, dem Unheilvollem und Wahnhaftem, das sich ins Leben seiner Charaktere schleicht und sie von innen heraus bricht. Die wundervollen Illustrationen von Benjamin Lacombe fangen die düstere, seltsame Stimmung der Geschichten perfekt ein und verleihen diesem Buch eine traumhafte Optik. So schön sind die „Unheimlichen Geschichten“ noch nie gewesen!


Pro & Contra

+ tiefes Eintauchen in die Psyche der Charaktere
+ wundervolle Illustrationen
+ düstere, traumhafte Atmosphäre
+ poetischer, einfühlsamer Stil
+ überraschende Auslösungen
+ historisch-literarischer Wert

o relativ anspruchsvoll

Wertung:

Geschichten: 5/5
Illustrationen: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Kurzgeschichten, Artbook