Das Echo (Minette Walters)




Wilhelm Goldmann Verlag, München 1998
412 Seiten
ISBN-10: 344244554X
ISBN-13: 978-3442445547
8,90 € (Taschenbuch)
Kriminalroman



Der unsichtbare Wurm

Zuerst fiel Mrs. Powell der Geruch auf. Leicht süßlich. Leicht unangenehm. Sie nahm ihn an einem warmen Juniabend in der Luft wahr, als sie ihren Wagen in die Garage stellte, aber sie nahm an, daß er aus der Mülltonne auf der anderen Seite der niedrigen Mauer, die die Anwesen trennte, kam, und kümmerte sich nicht weiter darum. Am nächsten Morgen, als sie die Garagentür aufzog, strömte ihr der Geruch von Verwesung entgegen, und die Neugier trieb sie, in dem Stapel Kartons hinten in der Garage nachzusehen, nachdem sie ihren Wagen in die Auffahrt hinausgefahren hatte. Keinesfalls hatte sie erwartet, eine Leiche zu finden.

Ein Obdachloser, bekannt unter dem falschen Namen Billy Blake, der sich in ihrer Garage verkrochen hat und dort verhungert ist – direkt neben der gefüllten Gefriertruhe: Seltsam, aber doch nur ein Zufall. Oder etwa nicht? Als der Journalist Michael Deacon im Rahmen eines Artikels über Obdachlosigkeit mit Mrs. Powell spricht, ist er fasziniert von ihr und der Beharrlichkeit, mit der sie etwas über den Toten herauszufinden versucht hat. Ein paar eigene Nachforschungen wecken schnell auch sein Interesse, nicht nur an Billy Blake, einer eigentümlichen Gestalt, sondern auch an dem Geheimnis, das diesen Obdachlosen mit Frau Powell zu verbinden scheint – ein Echo aus vergangenen Zeiten ...

Von Zufall und Schicksal

Im Verlauf des Buches stellt eine Figur die Frage: Ist das alles Zufall – oder Schicksal? Schicksal, lautet die Antwort, die sie erhält, und wie so oft wird spürbar, dass die Geschichte einen ganz anderen Verlauf genommen hätten, wenn manchmal nur ein Ereignis, ein Detail anders gewesen wäre. Wege kreuzen sich und verknüpfen miteinander, Muster, die erst durch einen anderen Blickwinkel sichtbar werden. Und zugleich klingt so viel unterschwellig an, ist schon lang latent vorhanden: Vergangene Bilder, Eigenschaften, Sehnsüchte, Entscheidungen, die die Handlung vorantreiben – manchmal klar ersichtlich, manchmal nur im Verborgenen. Ein innerlich von uns selbst vorgezeichnetes Schicksal? Der Leser darf sich seine Antwort selbst geben. Nur eins ist ersichtlich: Es sind die Gegenüber der Protagonisten, die sie dazu bringen, den ersten Schritt zu tun. Menschen sind es, die die Kiesel ins Rollen bringen, die Steine übereinander schieben und Ausgangspunkt kleiner und großer schicksalhaft anmutender Veränderungen zu werden.

Gesichter

Denn im Mittelpunkt von „Echo“ stehen Menschen. Gesichter, manchmal nur kurz skizziert, manchmal sorgfältiger aus- und angeleuchtet, Leben, die sich verstricken und das Gewebe des Romans bilden. Gegen Ende kann das zeitweise verwirrend werden, doch bereitet es nicht wirklich große Schwierigkeiten – jeder Charakter erhält genug Profil, um erkennbar zu bleiben. Nein, bis zum Grund taucht Walters nicht, doch sie kratzt auch keine flachen Bilder in die Oberfläche. Zwar ohne die typische Krimi-Spannung, doch mit angenehmer Ruhe und Nachdenklichkeit blättert sie Schicht um Schicht die Geschichte frei, schält vorsichtig die überduftete Rosenblüte auseinander, bis die Spuren des unsichtbaren Wurms sichtbar, lesbar werden, der sich hindurchgefressen hat.

Fazit

Ein sehr angenehmer Roman, in sorgfältiger Balance zwischen Anspruch und Leichtigkeit, Nachdenklichkeit und Humor; die Detailgenauigkeit sorgt für überzeugende Charaktere und Atmosphäre. Immer wieder durchbrochen von handlungsbezogenen Briefen, Artikeln und Buchpassagen entwickelt sich die Handlung unaufgeregt und es gelingt ihr auch ohne große Spannungselemente, dafür zu sorgen, dass sich das Buch schnell liest und keine Längen negativ auffallen. Eine nicht vordergründig sondern sehr durchdacht in Schichten aufgebaute Erzählung, die dennoch nicht überfordert, auch wenn das Ende kurzfristig für Verwirrungen sorgen kann – das letzte Enthüllungs-Sahnehäubchen ist eins zuviel.
Die positiven Punkte überwiegen aber eindeutig, und wer zwar keine nervenzerfetzende Spannung, aber eine durchweg gut zu lesende Geschichte mit nachdenklichen und unterhaltsamen Stellen sowie einer interessanten Handlung sucht, dem sei „Echo“ eindeutig empfohlen.


Pro und Contra:

+ Interessante, vielschichtige Handlung
+ Gelungene Details in Geschichte und Charaktergestaltung
+ Angenehmer Stil
+ Sorgfältig geschrieben, ohne ein Gefühl der Selbstverständlichkeit einzubüßen

o Keine klassische Kriminalroman-Spannung
o Unterbrechung der Textstruktur durch handlungsbezogene Artikel, Briefe und Buchausschnitte

- Gegen Ende aufgrund der vielen zusammenfallenden Stränge und Namen zeitweise verwirrend
- Letztes Auflösungsdetail eher unnötig

Bewertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 3,5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 5/5