Das Orangenmädchen (Jostein Gaarder)



Carl Hanser Verlag München Wien 2003
188 Seiten
ISBN 3-446-20344-3
Preis: Derzeit nur im Großdruck oder als Taschenbuchausgabe verfügbar
Philosophisches Jugendbuch



Zeitbrückenbrief

Mein Vater ist vor elf Jahren gestorben. Damals war ich erst vier. Ich hatte nie damit gerechnet, je wieder von ihm zu hören, aber jetzt schreiben wir zusammen ein Buch.
Das hier sind die allerersten Zeilen in diesem Buch, und die schreibe ich, aber mein Vater wird auch noch zum Zug kommen. Er hat schließlich das meiste zu erzählen.


Der fünfzehnjährige Georg erinnert sich kaum noch an seinen Vater. Doch eines Tages erhält er einen Brief, den der damals todkranke Jan Olav an ihn geschrieben hat – an sein älteres Ich. Um ihm eine, wie er meint, „nervenaufreibende Geschichte“ zu erzählen. Und um ihm eine wichtige Frage zu stellen.
Georg rahmt den Brief mit seinen eigenen Worten, reagiert auf die Erzählung seines Vaters und verliert sich bald mit ihm in der Suche nach dem geheimnisvollen Orangenmädchen ... Eine Reise in die Vergangenheit und zugleich in die eigene Zukunft.
„Der Vater kann ihm keine Antworten mehr geben. Aber er konnte ihm die richtigen Fragen stellen.“ (aus dem Klappentext)

Die Einmaligkeit jeder Orange

Es ist tatsächlich eine unglaubliche Geschichte, die Georgs Vater zu erzählen beginnt, beinahe ein Märchen, so voller Rätsel ist dessen Begegnung mit dem Orangenmädchen, voller wilder Spekulationen Jan Olavs über ihre Herkunft und ihre Pläne. Eine kurze Begegnung, dann verliert er sie aus den Augen – doch er gibt nicht auf, sucht mit einer geradezu unfassbaren Hartnäckigkeit nach ihr, die ihn schließlich sogar außer Landes treibt ... Leise und dennoch so unmittelbar geschrieben, dass man vermeint, die Farben selbst zu sehen, den jugendlich sehnsüchtigen Überschwang zu spüren, den festen Glauben an das Leben. Zugleich ist da aber auch der todkranke Jan Olav, der diesen Brief an seinen Sohn schreibt, sowie Georg, der ihn liest und für sich beantwortet: Drei behutsam übereinandergelegte Zeitschichten, die sich zu einem Bild formen, dessen Intensität man sich nicht entziehen kann.

Weltraumteleskope, Schallplatten und davon, ein Glückslos zu sein

Jostein Gaarder gelingt es, leichtfüßig zu bleiben, ohne jemals in einen der Thematik unangemessenen Tonfall abzugleiten; Tod und Leben, Liebe und Schmerz werden in schnörkellose Worte gefasst und dennoch tiefgründig und nachdenklich betrachtet. Mit für Gaarder typischer Bildhaftigkeit werden alltägliche Dinge zu Symbolen, die eine weitere Ebene hinter der Handlung eröffnen, ein vorsichtiger Blick auf das Universum selbst, der dennoch auf seine Weise geerdet bleibt, sich nicht in den Vordergrund drängt. Anders als in anderen Gaarder-Büchern ist hier die Philosophie nur ein leiser, manchmal gut verborgener Beiklang, eine zurückhaltende Unterstimme im Gesamtgefüge, dennoch vorhanden, dennoch spürbar und wirksam. Vielleicht ist es gerade dieses Kunststück, das den Zauber der Erzählung ausmacht.

Fazit

Ein schönes, behutsames, einfühlsames und berührendes Buch, voll komischer Momente, voll beklemmender Trauer, voll Staunen über das Leben und voller Schmerz über dessen Verlust. Aus dem Brief des Vaters spricht so viel Sehnsucht, so viel Liebe zum Dasein, dass einem die Kehle eng wird, wenn man miterlebt, wie seine verbliebene Zeit versickert; zugleich ist die Erzählung ein bejahendes, intensives Plädoyer für das bewusste Leben und wider das Vergessen.
Behutsame Denkanstöße, eingeflochten in eine schlichte und doch gefühlsstarke Geschichte – „Das Orangenmädchen“ ist mit Sicherheit unter den besten Büchern, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Empfehlenswert!


Pro und Contra:

+ Schlichte, dennoch tiefgründige Behandlung der Themen Tod und Leben, Liebe und Verlust
+ Bild- und gefühlsintensiv, dabei authentisch
+ Gelungene Charaktergestaltung
+ Gekonnte Verflechtung dreier Erzählebenen zu einer schönen Geschichte

Bewertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung der erhältlichen Ausgaben: 5/5