Hiobs Brüder (Rebecca Gablé)

Lübbe Ehrenwirth (Dezember 2009)
912 Seiten, 24,99 Euro
ISBN: 978-3-431-03791-3

Genre: Historik


Klappentext

Er weiß nicht, wer er ist, und so nennen sie ihn Losian. Mit einer Handvoll anderer Jungen und Männer lebt er eingesperrt in einer verfallenen Inselfestung vor der Küste Yorkshires. Als eine Laune der Natur ihnen den Weg in die Freiheit öffnet, wagen sie die Flucht zurück auf das Festland. Ein Abenteuer beginnt und eine Suche – und Losian muss fürchten, dass er den grauenvollen Krieg verschuldet hat, unter dem ganz England leidet ...


Rezension

Rebecca Gablé studierte nach mehrjähriger Berufstätigkeit Anglistik und Germanistik mit Schwerpunkt Mediävistik in Düsseldorf. Ihre Forschungsergebnisse flossen in ihre Romane ein, für deren Recherchezwecken sie noch heute immer wieder das geliebte England besucht. In ihrem aktuellen Roman Hiobs Brüder widmet sich die in Mönchengladbach lebende Autorin einmal mehr der Historik und erzählt die außergewöhnliche Geschichte einer kleinen Gruppe von Menschen, deren psychische oder physische Gebrechen oftmals im Mittelpunkt stehen.

>> „Was dachte Gott sich nur dabei, das geschehen zu lassen? War es eine Prüfung? Hatte Gott sich überlegt: Ich schlage dich mit einem Gebrechen, das dich zum Außenseiter macht, und dann schaue ich tatenlos zu, wie die Menschen Schindluder mit dir treiben, um zu sehen, wie fest dein Glaube ist? Waren sie alle, die von der Insel entkommen waren, Hiobs Brüder?“ <<

England 1147: Eingesperrt in einer verlassenen Inselfestung kämpft eine kleine, sonderbare Schar um ihr Überleben: Simon, geplagt von der Fallsucht. King Edmund, der sich für einen toten Märtyrerkönig hält. Oswald, ein unschuldiger Junge mit Down Syndrom. Wolfric und Godric, aneinander gewachsene Zwillinge. Luke, der meint, eine Schlange würde in seinem Bauch wohnen. Regy, ein brandgefährlicher Massenmörder und Losian, der sein Gedächtnis verloren hat. Sie alle wurden von Ordensbrüdern verstoßen; in den Tod geschickt, weil ihr Anblick Gott angeblich nicht erfreuen kann.

Als ein Wink des Schicksals ihnen die Möglichkeit zur Flucht eröffnet hadern sie nicht lange und ziehen im Zweifelsfall den Tod im Meer eine lebenslangen Gefangenschaft vor. Eine Reise beginnt, die sie durch verschiedene Höhen und Tiefen führt, bis ausgerechnet Losian findet was er sucht: Seine so lang ersehnten Erinnerungen an ein Leben, das er inzwischen nicht mehr führen will ...

Ein ungewöhnliches Thema, eine fähige Autorin und eine Reihe von Handlungen, die ein Werk größter Klasse versprechen. – Rebecca Gablés Erfolgsrezept ist nicht unbedingt undurchsichtig, doch ebenso wirksam und eindringlich wie ihr bewundernswertes Talent, historische Geschichten und Figuren in der Phantasie geneigter Leser keimen zu lassen. Etwas, das die Autorin auch in ihrem neusten Roman gerade zu ausgezeichnet versteht. Sie schürft tiefsinnig, zieht direkt ins Geschehen und erzählt darüber hinaus eine Geschichte, die weit mehr preiszugeben weiß, als die Suche eines Mannes nach seiner verlorengeglaubten Vergangenheit. Denn schon mit Simons Ankunft in der halb verfallenen Inselfestung, mit der gemeinsamen Flucht und späteren Ankunft auf Helmsby und mit Losians bald folgenden Kampf um Henry Plantagenets Krone wird klar, dass die Grundidee des Romans gänzlich begeistern kann. Schritt für Schritt begleitet man die Helden auf ihrer Suche nach einem Platz im Leben. Es erstaunt hierbei wie verschieden sie sind und wie gut sie dennoch (bis auf wenige Ausnahmen) harmonieren in ihren Gesprächen und Meinungen. Anders als üblich werden, besonders im ersten Drittel des Romans, keine bekannten Adeligen an den Leser gebracht, sondern Menschen im Alltag einer schweren, allem Abnormen sehr feindlich gesinnten Zeit. Historische Bücherfreunde werden sich hier besonders über die Liebe zum Detail freuen und wenn nicht darüber, dann zumindest über die gelungenen gesellschaftskritischen Ansätze, die zwischen so manchen Zeilen zum Vorschein kommen.

Gelungen sind auch die einzelnen Charaktere. Sie haben ihre Schwächen, Stärken und wirken überwiegend vielschichtig. Losian (später auch Alan genannt), Simon und die Zwillingen stehen abwechselnd im Mittelpunkt, wobei sich die erste Hälfte des Romans vorwiegend mit Losian befasst. Ausgerechnet dieser Charakter ist am faszinierensten, da er sein Gedächtnis wieder erlangt und sich leider eingestehen muss, ein (zu) wichtiger Mann gewesen zu sein. Ein Mann, der sich seiner Taten schämen muss. Gerade dieses Detail besticht ungemein. Alans Zweifel an sich selbst und der Sache für die er gestritten hat sind bewegend. Sein darauf folgender, innerer Wandel ist schlüssig, wenn auch zum Ende hin zu konsequent. In diesem Punkt hätte sich der Leser vielleicht doch etwas mehr innere Makel gewünscht, die bis zum Ende bestehen bleiben. Dennoch aber ist Alan gerade wegen dieser vorwiegend heldenhaften Eigenschaften sympathisch, ebenso wie Simon, der sich trotz seiner verhassten Fallsucht zu mausern lernt. Bald wird klar, dass beide Charaktere Schlüsselfiguren sind und ihr Handlungen den Krieg in jeder Form beeinflussen werden, der im Hintergrund zwischen Henry Plantagenet und Stephen, König von England, entbrennt. Doch auch eigene Probleme (z.B. die Zurückeroberung Simons Burg od. Alans jüdische Sympathien) gibt es massenhaft zu lösen ...

Gesellschaftlich und kulturell bewegt sich Hiobs Brüder am Höhepunkt der vergangenen Jahre. Die kleinen Männer stehen in Hiobs Brüder, auch wenn zum Ende hin die übliche Mär „verloren geglaubter Protagonist ist doch adelig und reitet schlussendlich an der Seite mächtiger Männer“ obsiegt, im Vordergrund. Es ist interessant und schmerzend zugleich lesen zu müssen wie und welche Gesellschaftsgruppen für das Wohl ihrer Herrn besonders leiden mussten. Hierbei kommt bei Rebecca Gablé auch die jüdische Bevölkerungsgruppe nicht zu kurz. Ihre Zwietracht mit der christlichen Kirche drängt sich mehr als einmal in die weiterfolgenden Gedankengänge des Lesers, der an Alans Beispiel zu sehen bekommt, wie man es mit religiösen Mischehen zu dieser Zeit gehalten hat und welche Konsequenzen und Opfer man bereit war akzeptieren zu müssen.

Einzig der leise anzumerkende Kritikpunkt – das Bedauern, selbst nach über neunhundert Seiten Potenzial verschenkt zu sehen – bleibt der Autorin anzulasten. Die wirklich großen, historischen Charaktere sind zwar genauso authentisch wie man es von einer Rebecca Gablé erwarten kann, hätten jedoch mehr Platz und Ausführungen verdient. Ebenso gewisse Schilderungen. Die Jahreslücken zum Ende hin sind zwar stilisch korrekt und durchaus akzeptabel, treffen den Leser jedoch unvorbereitet, wenn man den ausführlicheren Beginn und Aufbau dieses wundervollen Romans bedenkt.

„Du wirst doch nicht rührselig, Losian?“, fragte Godric argwöhnisch.
„Unsinn.“ Alan musste sich räuspern. „Ich dachte nur gerade was
für ein langer Weg es war von der Isle of Whitholm bis hierher.“

(Seite 863)


Fazit

Rebecca Gablé hat mit Hiobs Brüder einen wundervollen Roman geschrieben, der nur schwerlich enttäuschen kann. Sieht man von fast schon unwichtig erscheinenden Kleinigkeiten ab, so ist und bleibt dieses Buch eines der besten im Jahre 2009. Erstklassig, fesselnd, atemraubend und jeden Cent wert! – Eine wahrlich herausragende Historiklektüre!


Pro und Kontra:

+ herausragend in (beinah) jeder Form
+ authentische Darstellung von Kultur und Gesellschaft
+ nette Liebesgeschichte(n)
+ kurzweilig und spannend
+ wunderbare Protagonisten
+ hochwertiges & edles Hardcover
+ psychologisch tiefgründig
+ unvorhersehbare Wendungen
+ anspruchsvoll

- verschenktes Potenzial
- zu schwarz gezeichnete Antagonisten

Extras:

o Lesebändchen
o Illustrationen von Jürgen Speh

Wertung:

Handlung: 5 / 5
Charaktere: 4,5 / 5
Lesespaß: 5 / 5
Preis/Leistung: 4,5 / 5