Grimm (Christoph Marzi)

Heyne (November 2010)
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 560 Seiten,
€ 17,99 [D] | € 18,50 [A] | CHF 27,90
ISBN: 978-3-453-26661-2

Genre: Fantasy


Klappentext

Weich nie vom Wege ab …

So lautet die Mahnung in „Rotkäppchen“, jenem Märchen der Gebrüder Grimm, das Vesper Gold vor vielen Jahren von ihrem Vater erzählt wurde. Doch was diese Worte wirklich bedeuten, erfährt Vesper erst, als an einem stürmischen Herbsttag Wölfe durch die Straßen der Stadt streifen und alle Kinder in einen rätselhaften Schlaf fallen.


Rezension

Vesper Gold hat es nicht leicht an ihrer neuen Schule, denn nicht nur gewisse Mitschülerinnen kommen mit der düster gekleideten Neuen nicht klar – auch die Direktorin hat offensichtlich ein Problem mit ihr. Und so muss sich Vespers Mutter, die weltberühmte Pianistin Margo Gold, trotz vollem Terminkalender in die Schule bemühen. Vespers Vater dagegen verweilt in Berlin und lässt seit der Trennung selten von sich hören. Als sie von dessen Tod erfährt, bricht trotz der eher flüchtig vorhandenen Verbindung eine Welt für Vesper zusammen. Sie ahnt noch nicht, dass sein Tod unglaubliche Konsequenzen nach sich zieht und nicht der letzte sein wird. Zu allem Übel hat sich ein unscharfer Schatten an ihre Fersen geheftet und der Wolf aus ihren kindlichen Alpträumen eröffnet die Jagd auf sie …

In seinem neusten Werk erweckt Christoph Marzi diverse Märchengestalten zum Leben und selbst die eigentlich Guten unter diesen „Mythen“ sind der Menschheit nicht gerade wohlgesonnen. Die Geschichten, die die Gebrüder Grimm erzählten, entsprechen höchstens in groben Zügen der Wahrheit – das Meiste an ihnen ist erlogen und sollte dazu dienen, die Menschen glauben zu lassen, dass die Mythen nicht existieren. Währenddessen wurden die Märchenwesen von einer geheimen Verbindung gejagt und nahezu vollständig aus der modernen Welt verbannt. Doch nun haben sie einen Weg gefunden, zurückzukehren und sich an den Menschen zu rächen. Wer in dieser Geschichte „gut“ oder „böse“ ist, lässt sich nur schwer sagen, wobei zumindest manche Menschen deutlich schlechter wegkommen als die Mythen. Doch auch diese sind gefährlich und zu Grausamkeiten fähig. Letztlich verhält es sich mit allen gleich: Hass führt niemals zu etwas Gutem.

Vesper vermag die Leserherzen mit ihrer aufrichtigen Art schnell für sich zu gewinnen. Es gelingt ihr, über ihren Schmerz hinaus die Ereignisse zu betrachten und offen zu sein für die phantastischen, wahren Geschichten. Auf ihrem Weg trifft sie Leander Nachtsheim, ein etwas seltsamer junger Mann, der sie stets zum Lachen bringt. Auch er trägt einen tiefen Schmerz mit sich herum – und beider Schicksal ist mit dem der Mythen eng verknüpft. Als Dritter im Bunde gesellt sich ein gewisser Jonathan Andersen hinzu, der in der Storyführung allerdings konstruiert wirkt. Lange Zeit ist dem Leser nicht klar, warum diese Person helfend eingreift und am Ende ist man trotz Erklärung nicht ganz zufrieden mit ihm. Die Mythen sind sehr interessant und größtenteils auch gruselig gestaltet. Wenn die Helden ihnen begegnen, kann man sich auf schaurige Szenen freuen, von denen es allerdings zu wenige in der Geschichte gibt. Sie sind schlichtweg so gelungen, dass man sich ein ganzes Buch in der Welt der Mythen wünscht.

„Grimm“ liest sich insgesamt etwas anders als andere Werke von Christoph Marzi, obwohl auch hier meist eine verträumte Atmosphäre entsteht. Doch sie ist dunkler, teilweise auch verstörend und dadurch unheimlich reizvoll. Daneben erscheint die Story jedoch oftmals konstruiert und gegen Ende recht vorhersehbar. Der Autor streut einfach zu viele Andeutungen, die man als Leser schließlich zu früh zu einem Ganzen zusammensetzt. Zwar bieten sich auch am Ende noch kleine Überraschungen und die Story enthält viele Wendungen, aber gerade was die Personenkonstellation betrifft, kommt man der Geschichte zu früh auf die Schliche. Sehr gelungen hingegen sind die Verflechtungen und Veränderungen verschiedener Märchen – so folgt der Leser einer Spur aus Rosenstaub und erfährt die Wahrheit über Schneewittchens blasse Haut. „Grimm“ punktet außerdem mit seiner schönen Gestaltung und das Hardcover gibt es zu einem guten Preis.


Fazit

In „Grimm“ erwachen die Märchen aus Kindertagen zum Leben, zeigen jedoch ein ganz anderes, dunkleres Gesicht. Untermalt wird die Geschichte der Mythen von einer verträumten, schaurigen Atmosphäre, die auch über die ein oder andere vorhersehbare Szene hinwegtröstet. Christoph Marzi ist einfach ein wunderbarer Erzähler!


Pro & Contra

+ Märchen in völlig neuem Gewand
+ verträumte, schaurige Atmosphäre
+ keine Schwarz/Weiß-Malerei
+ Vesper und Leander
+ viele Wendungen
+ schaurige Mythen

- teilweise vorhersehbar
- Andersen wirkt konstruiert

Wertung:

Handlung: 3,5/5
Charaktere: 3,5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


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