Leopard (Jo Nesbø)

Verlag: Ullstein HC (29. Januar 2010)
Gebundene Ausgabe, 698 Seiten, 21,95 EUR
ISBN-13: 978-3550087745
Originaltitel: Panserhjerte

Genre: Krimi/Thriller   


Inhalt

In Oslo wird eine Frau auf besonders qualvolle Weise ermordet, die nicht das einzige Opfer bleibt. Ein Fall für Harry Hole, doch der steht nicht zur Verfügung: An Leib und Seele traumatisiert von seinem letzten Fall mit dem ‚Schneemann’ hat er sich nach Hongkong geflüchtet. Nur weil sein krebskranker Vater im Sterben liegt, folgt er der jungen Kommissarin Kaja Solness, die ihn dort aufspürt, zurück nach Norwegen.

Eher unwillig übernimmt Harry die Ermittlungen, bei denen ihm und seinem Team nicht nur durch behördeninterne Intrigen weitere Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden. Auch scheint es zunächst weder über den Täter noch über dessen Motiv den geringsten Anhaltspunkt zu geben. Wer denkt sich ein so ausgefallenes und grausames Mordwerkzeug aus? Welche Verbindung besteht zwischen den Opfern?  Der Fall wirkt beinahe aussichtslos, doch Harrys Ehrgeiz ist geweckt. Geduldig nimmt er die Fährte des Killers auf, die ihn quer durch Norwegen bis nach Afrika führt.


Rezension

Mit ‚Leopard’ ist Jo Nesbø ein unheimlich beklemmender Thriller gelungen, in dem er vor allem tiefe Einblicke in die menschlichen Psyche gewährt. Altbekannte Triebkräfte wie Macht, Geld und Einfluss spielen dabei genauso eine Rolle wie prägende Erlebnisse aus der Jugend.

Der Roman wird fast durchgängig aus der Sicht von Harry Hole erzählt, der hier dank seiner zerrütteten Verfassung das Image des eigenwilligen Anti-Helden innehat. Sein flapsiger Umgangston kommt dabei genauso häufig zum Einsatz wie sein scharfer Verstand. Dadurch, dass gut nachvollziehbar auch auf seine persönliche Problematik eingegangen wird, entwickelt er sich für den Leser rasch zum Sympathieträger.

Stimmig und mit viel psychologischem Gespür sind auch die übrigen Charaktere erstellt. Keine der Figuren ist dabei statisch in ihren Verhaltensmustern verhaftet, vielmehr leben sie sie und entwickeln sich weiter. Für den Leser entsteht auf diese Weise eine persönlichen Beziehung zu den Protagonisten, wenn sich beispielsweise Kaja über die wahre Natur ihrer Beziehung im Klaren wird, oder auch Harry vorsichtig anfängt, sich aus seinem emotionalen Schneckenhaus hinauszuwagen. Alle handeln gemäß ihrer jeweiligen Mentalität, was besonders in den abwechslungsreichen Dialogen zum Ausdruck kommt.

Der gesamte Schreibstil liest sich ansprechend und lebendig und wartet mit Beschreibungen auf, die sehr eingängig Stimmungen vermitteln. Schilderungen wie ‚An den Wänden blätterte der Putz, und die Feuchtigkeit quoll wie Mundgeruch aus den Mauern’  lassen den Leser einzelne Szenen beinahe plastisch miterleben. Über allem liegt die melancholische und leicht triste Atmosphäre, die man in skandinavischen Thrillern so häufig findet. Sie passt hier ausgezeichnet, denn genau im Einklang dazu geht die Handlung voran: Neue Ereignisse tröpfeln zäh und als zunächst unverdauliche Brocken herein, die erst einmal aufbereitet werden müssen. Jedes Steinchen wird gedreht und gewendet, bis man, sehr zögerlich, die ersten Schlüsse zieht, wohin das neue Puzzlestück passen könnte.

Ähnlich mühselig verhält es sich mit der Tätersuche, mögliche Verdächtige sind weder schnell noch einfach aufzufinden. Für den Leser ist der Frust des Ermittlerteams jedes Mal nahezu greifbar, wenn unerwartete Wendungen einen vielversprechenden Kandidaten aus dem Rennen werfen. Sehr positiv fällt dabei auf, dass nichts davon unlogisch oder an den Haaren herbeigezogen erscheint.

Die Handlung baut folgerichtig aufeinander auf und bildet allmählich ein überaus komplexes Geflecht, in das immer mehr Menschen und Schauplätze hinein verwoben werden. Dabei steigt die Spannung zwar langsam, dafür aber kontinuierlich an und wird bis zum furiosen Finale gehalten. Die oft weit gespannten Erzählstränge und geografische Bögen sind durch kurze Kapitel übersichtlich strukturiert, dass man ohne Probleme den Überblick behält. Auch die gelegentlich vorkommenden Wechsel in der Erzählperspektive zwischen Harry Hole und seinem Gegenspieler im Kommissariat fügen sich gut in den Erzählfluss ein. Neben der Tätersuche gibt es einige Nebengeschichten, die mit der eigentlichen Handlung mehr oder weniger nur am Rande zu tun haben, die Story insgesamt aber passend abrunden. 


Fazit

Ein Actionfeuerwerk ist ‚Leopard’ keines, da bleibt Nesbø der Linie seiner skandinavischen Kollegen treu. Doch er zeigt sehr anschaulich, dass man Spannung durchaus auch anders erzeugen kann. Nesbø handhabt alle großen und kleinen Einzelheiten so gekonnt, dass am Ende ein rundherum stimmiges Ganzes herauskommt.
Ein wenig irritierend und nicht immer völlig glaubwürdig wirkt, wie gut Harry trotz seiner mehr als desolaten Verfassung alle Schwierigkeiten und Gefahren meistert. Aber das sind Kleinigkeiten, die keinesfalls den Lesegenuß verderben. Für Liebhaber komplexer Krimis in skandinavischem Stil ist ‚Leopard’ ein echtes Highlight.


Pro & Kontra

+ komplexer und intelligenter Aufbau
+ sehr spannend
+ lebendige Charaktere
+ abwechslungsreiche Dialoge
+ stimmungsvolle und atmosphärisch dichte Beschreibungen

o Mordfälle sehr blutig und grausam

- Protagonist an einigen Stellen etwas unglaubwürdig

Wertung:  

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5