Carmilla deWinter bloggt auf http://carmilladewinter.com/ über das Schreiben von Queer Fantasy, über das Schreiben allgemein und über Geschlechtervorurteile. Ihr Roman „Albenbrut: Ein bindender Eid“ erschien am 15.04.2014 und kann u.a. hier bestellt werden. Die Fortsetzung „Gebrannte Kinder“ erschien am 20.06.2014.
Im Angesicht der Causa Böhmermann lohnt es sich vielleicht, einen Blick auf die Nachrichten- und Meinungsverbreitung verschiedener Welten zu werfen. Wie machen die das, und was dürfen sie?
Wieso Presse?
Die selbstgestellte Aufgabe der Presse und anderer Medien ist, über wichtige Ereignisse zu berichten. In der freien Welt versteht sie sich zumeist als sogenannte Vierte Gewalt nach Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtssprechung. Heißt: Die Medien beobachten Politik und Wirtschaft.
Dabei erfahren Ereignisse allein dadurch, ob oder wie berichtet wird, eine Bewertung. Guter Journalismus berichtet also nicht nur, sondern hilft auch, Ereignisse einzuordnen. Da niemand die Tragweite von Ereignissen sofort erfassen kann, ist das unmöglich zu hundert Prozent umzusetzen, aber der Versuch sollte unternommen werden.
Was brauche ich eigentlich für eine Presselandschaft?
Fakten über Ereignisse müssen gesammelt werden, weshalb eine zuverlässige und halbwegs schnelle Nachrichtenübermittlung unerlässlich ist.
Die entstandenen Artikel und Berichte erfordern eine Verbreitung in lesbarer oder hörbarer Form.
Kurz: Die technische Infrastruktur muss stimmen.
Schließlich braucht es entsprechende rechtliche Voraussetzungen für diejenigen Personen, die aus losen Fakten Berichte und Bewertungen erstellen.
Auf die Politik lässt sich in den meisten Welten aber nur daduch schließen, was gedruckt wird, sofern die Presse und deren Inhalte überhaupt erwähnt werden.
Aber in Mittelerde gibt es keine Telefonleitungen …
Tatsächlich sind die meisten High Fantasy-Gebilde in irgendeinem zeitlich unbestimmten Pseudo-Mittelalter vor Erfindung der Druckerpresse angesiedelt, daher fallen für diese die Massenmedien mit all ihren Nebeneffekten flach. Was, wie ich zugeben muss, dazu führt, dass ich gerne High Fantasy-Texte lese, die nicht im Pseudomittelalter spielen. Oder wenn, dass sie einen halbwegs orignellen Dreh dazu finden.
Das Gros der Urban Fantasy zu beleuchten, ist ebenfalls wenig interessant, da die Überschneidungen mit unserer Welt recht groß sind, und Ergänzungen, beispielsweise durch magische Portale nach Faerie, an der Grundstruktur recht wenig ändern. Und damit will ich auch gleich mit der berühmtesten Ausnahme anfangen …
Beispiel 1: Harry Potter – Eulenpost, Tageszeitungen und Gegenöffentlichkeit
Harry Potter ist insofern hochinteressant, als dass das magische Britannien eine komplette Parallelgesellschaft zu unserer aufgebaut hat, deren Infrastruktur sich kaum überlappt, deren Effekte aber ähnlich der unsrigen sind.
Es gibt eine große Tageszeitung, den Daily Prophet/Tagesprophet. Anfangs scheint dieses Blatt zu drucken, was es möchte. Dabei interessiert sich offenbar wenig dafür, wie die Mitarbeiter*innen an die Informationen gelangen, und ob diese korrekt sind. So ist die beliebte Klatschreporterin Rita Skeeter/Kimmkorn beispielsweise eine nicht registrierte Animaga und verbreitet dubiose Geschichten über Harry Potter.
Ob und wie gesetzlich verbriefte Pressefreiheit herrscht, erfahren wir nicht.
Dieses rechtliche Niemandsland leistet offenbar der Korrumpierbarkeit Vorschub, denn im Verlauf der sieben Bände wird der Tagesprophet immer häufiger für Voldemort-freundliche Politik instrumentalisiert. Parallel dazu wird das Ministerium von Voldemorts Getreuen unterwandert, bis alles im siebten Band in einer Diktatur endet, die Nazi-Deutschland recht ähnlich sieht.
Glücklicherweise ist der Tagesprophet nicht das einzige Medium. Eine esoterisch angehauchte Gegenstimme wird von Xenophilius Lovegood herausgegeben: Der Quibbler/Klitterer. Anfangs ein nicht auf Profit ausgerichtetes Hobbyblatt, das Berichte über obskure Wesen und Verschwörungstheorien druckt, entwickelt er sich gerade dank seiner Abseitigkeit zum Organ des politischen Widerstandes. Unnütz zu sagen, dass Mr Lovegood dafür büßen muss.
Dies spiegelt sich auch im Rundfunkprogramm. Neben dem Wizarding Wireless Network entsteht während Voldermorts Diktatur noch ein Untergrundsender namens Potterwatch.
Nebenbei erfahren wir in den Büchern noch von der Zeitschriften Witch Weekly/Hexenwoche , Which Broomstick/Rennbesen im Test und Transfiguration Today/Verwandlung Heute.
Beispiel 2: „Craft Sequence“ – wozu Zeitungen kaufen, wenn’s Liebesromane gibt?
Zugegeben: Dank der saftigen E-Book-Preise kenne ich im Moment nur die ersten beiden Bände dieser Serie, die irgendwo zwischen magischer Alternativhistorie und High Fantasy ihre Welt angelegt hat. (Leider bisher nur auf Englisch erhältlich.)
Manche beschriebene Kulturen und Sprachen sind unseren recht ähnlich, es gibt tatsächlich eine Zeitrechnung über 1000, die gelegentlich zitiert wird, aber dort sind Gottheiten real. Nach weltweiten Kriegen mit den neu erstarkten Zauberkundigen, den „Craftsmen/-women“ sind die Götter zum größten Teil ziemlich tot. Die Deathless Kings und deren „concerns“ haben in weiten Teilen der Alten und Neuen Welt die Macht übernommen. „Concern“ wäre hier grob als „magische Beteiligung“, nicht als Konzern im allgemeinen Sprechgebrauch zu verstehen.
Die Serie beschäftigt sich mit den Auswirkungen dieser Neuordnung.
Interessant hierbei ist der erste Teil „Three Parts Dead“, weil da eine Konversation zwischen zwei Figuren über Zeitungen stattfindet. Im Stadtstaat Alt Coulomb herrscht noch der Gott Kos, und dort sind keine Zeitungen bekannt.
Anderswo, vor allem in Teilen der Welt, wo keine Gottheiten mehr herrschen, gibt es aber durchaus Printmedien. Die Hauptfigur Tara weiß nicht genau, wie die Informationen von A nach B kommen, und beschreibt nur grob eine Art magisches Winkersystem. Analog zu unseren Zeitungen werden Texte verfasst, von Redaktionen zusammengestellt und dann auf Papier gedruckt.
Die Zeitungen und Zeitschriften selbst sind in Besitz von „concerns“. Dass also die jeweilige Staatsmacht Einfluss auf die Berichterstattung hat, ist wahrscheinlich, auch wenn es nirgendwo steht.
Weiterhin bemerkenswert ist, dass magische Verträge und Briefe von Hand und oft mit besonderen, verzauberten Federn verfasst werden. Und dass einer der Hauptexporte des Iskarischen Imperiums aus Liebesromanen besteht – offenbar leiden diese dort weniger unter einer Moralzensur als in anderen Ländern …
Beispiel 3: Scheibenwelt – „The Truth Shall Make You Fret“ – „Die Wahrheit mache euch zittern“
Terry Pratchett widmet der ersten Zeitung der Scheibenwelt gleich ein ganzes Buch, das im Original „The Truth“ heißt, und auf Deutsch „Die volle Wahrheit“.
Die erste technische Voraussetzung hierbei sind die Klackertürme – zumeist von Kobolden betriebene Winkerstationen, die, einem Telegraphen ähnlich, Nachrichten sehr schnell weit verbreiten können.
Zweite Voraussetzung sind Druckerpressen. Ein*e Zwerg*in namens Gunilla Goodmountain/Gutenhügel bringt eine ebensolche nach Ankh-Morpork. Eine unerhörte Angelegenheit, war das Drucken doch bislang nicht gestattet, weil die Zauberer Angst hatten, dass sich das gegossene Metall an das Gedruckte erinnern könnte. Gunilla umgeht dies mit beweglichen Lettern – ein absolutes Novum.
Daraufhin erhält William De Worde vom Patrizier (für Uneingeweihte: Despoten) Lord Vetinari die Erlaubnis, eine Tageszeitung zu drucken, welche dann auf Ankh-Morpork Times hört.
Titel des Buches und meine Überschrift beziehen sich auf das Motto dieser einzigartigen Zeitung, das dank eines Schreibfehlers eben nicht verspricht, dass die Wahrheit frei (free) macht, sondern Grund zur Besorgnis gibt (fret).
Erstaunlicherweise hält sich Lord Vetinari offiziell mit der Zensur zurück. So braucht die Times keine tägliche Druckfreigabe von oben. Unter anderem durch einen geschickt terminierten Besuch in der Redaktion weiß Vetinari allerdings an sich und seine Interessen zu erinnern.
Hier wurde also tatsächlich eine beinahe freie Presse von einem Alleinherrscher eingerichtet.
Wo es Geld zu verdienen gibt, ist ein Mitbewerber nicht weit. So bekommt auch die Ankh-Morpork Times ein Konkurrenzblatt, den Ankh-Morpork-Kurier. Dieser nimmt es allerdings mit „Der Wahrheit“ nicht so genau. Somit bildet diese Zeitung das ab, was in Grobritannien als Yellow Press bezeichnet wird, und hierzulande als Boulevardpresse. Diese ist bekanntlich mehr dem Skandal als einer seriösen Berichterstattung zugeneigt.
Fazit
Jan Böhmermann hätte wohl in keiner der drei Welten eine Chance gehabt, sein Schmähgedicht auf offiziellem Wege unter die Leute zu bringen. Wobei bezweifelt werden darf, dass der Stein des Anstoßes, also die Satire auf extra3, jemals das Licht der Welt erblickt hätte, prangert sie doch eine Zensur an, mit der jede Redaktion in den Beispielen rechnen muss.