Zitat:Sniffu: Mmm, verzeih mir meine Häresie, aber ist eine Szene mit 7 Perspektiven noch nachvollziehbar und lesbar? Ich weiß nicht genau wie du das machst, kann's mir aber gerade beim besten Willen nicht vorstellen...
Absolut verständliche Frage.


Am besten kannst du das Konzept, das ich anwende, visualisieren, wenn du dir einen komplexen Manga wie Angel Sanctuary hernimmst und dir anschaust, in wie vielen Köpfen die Leser*innen in den einzelnen Panels stecken. Da kann es leicht vorkommen, dass 5 aufeinanderfolgende Bilder 5 verschiedene Figuren inklusive Gedankenblase (vgl. Sprechblase, die ja für alle wahrnehmbar ist und damit nichts über die Perspektive aussagt) darstellen. Das wären dann 5 Perspektiven.
Ich habe in besagter Szene (Anm.: ich definiere eine Szene über einen vorherrschenden Konflikt, der überwiegend von demselben Personal an demselben Ort ausgestanden wird) 13 sprechende Figuren und davon sind 7 Perspektiventräger*innen, was heißt, dass ihre direkte Rede und/oder Handlung in einen Kontext gestellt wird, der nur aus ihrer Perspektive formuliert werden kann, weil von außen die Beweggründe so nicht erkennbar sind.
Diese 7 Perspektiven stehen für 7 Minisubplots bzw. Erzählstränge, die durch diese eine Szene die Leser*innen tragen. Hier erfahren die Menschen erstmals von der "Fantasy" in ihrer Welt. Darauf reagieren die Protagonist*innen (ja, ich bin der Meinung, meine Serie hat mehr als eine*n Protagonist*in, was der Komplexität und Multiperspektivität geschuldet ist) naturgemäß auf unterschliedliche Weise. Ich habe diese Reaktionen auf 7 vorherrschende zusammengefasst, die mindestens von einer Figur aka Perspektive getragen werden, in der wahlweise andere Figuren involviert sind (nämlich die 6 anderen, die keine eigenständige Perspektive in der Szene haben). Im konkreten Fall wären die Reaktionen (bzw. Motive) Ignoranz, Skepsis, Gutgläubigkeit, der Wille, zu glauben, Verunsicherung, Überforderung und Beschützerinstinkt. Diese Reaktionen kommen auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck und involvieren auf unterschiedliche Art die restlichen Personen. Sie bilden damit feine Erzählstränge, die die Szene gemeinsam zu einem soliden Strick machen, wenn man so will.
Um gleich einer Folgefrage vorzubeugen: Ich halte es nicht für sinnvoll, diese Szene als Ausschnitt zu präsentieren, wenn man sonst noch nichts von dem Manuskript kennt.
Wieso?
Weil diese Szene ab Seite 100 eintritt, was heißt, ich habe 100 Seiten darauf hingearbeitet, meine Figuren so zu entwerfen, dass sie in einer einzigen Szene zu 7 Perspektiventräger*innen werden können, ohne dass es zu Verwirrung kommt. Die oben beschriebenen Reaktionen sind bereits in der Disposition der Charaktere integriert und werden durch das auslösende Moment der Szene "reaktiviert". An diesem Punkt im Manuskript sollte es nur logisch sein, dass sie so reagieren, wie sie reagieren. Ich gehe sogar einen Schritt weiter und behaupte, der Großteil des Dialoges und der Handlung sollte, ohne dass ich explizit Namen nenne, automatisch den einzelnen Figuren zugewiesen werden können. Wenn das gelingt, sind die Erzählfiguren verlässlich und damit ihre Perspektive stabil genug, um auf engem Raum gegenüber anderen standzuhalten.
In der Version vor dieser hatte die Szene nicht mehr als 3 Perspektiven. Das Feedback einer Leserin lautete, dass die aktuelle Version, also die mit 7 Perspektiven, verständlicher und witziger ist, mit meinen Worten: gelungener. Witziger, weil mehr Figuren Platz bekommen zu haben, auf die neuen Verhältnisse zu reagieren und ihre eigenen Gedanken zu formulieren, die sich auf vollkommen anderen Pfaden bewegen, als die vorherrschende Protagonistin beschreitet, weil sie ganz andere Voraussetzungen hat. Die Szene ist so kompliziert, dass es nur Sinn ergibt, dass sie bei 13 sprechenden Personen, von entsprechend vielen Perspektiven erlebt/erzählt wird.
Ich beginne mein Manuskript fairerweise mit 2 Perspektiven, sodass eine Szene wie oben beschrieben nicht aus dem Nichts erscheint, sondern die Leser*innen langsam darauf vorbereitet werden, dass die Perspektiven sich abwechseln und auch mehrere zusammentreffen.
Mein erstes Kapitel hat 30 Seiten, die ersten Absätze gehören meinem Protagonisten, der dann an die vorherrschende Protagonistin abgibt. Ca. 90 % dieser 30 Seiten bestehen aus ihrer Perspektive, 8 % aus seiner und der Rest splittet sich auf ein paar andere Perspektiven von wichtigen (Neben-)Figuren auf, die für einen Absatz das Ruder übernehmen, weil sie in späterer Folge an Bedeutung gewinnen.
Zusammenfassend und aus meinen Erfahrungen kann ich sagen: Je komplexer die Handlung ist, je ausgefeilter die Figuren sind, sodass sie sich als verlässliche, sprich, unverwechselbare Erzählfiguren eignen, desto eher bietet sich Multiperspektive auf engem Raum, wie ich sie anwende, an. Es ist harte Stückarbeit, keine Frage, aber sie ermöglicht so viel mehr, als eine einzelne Perspektive es in diesem Rahmen je könnte. Strukturell bedingt ist es zu 12 "Protagonist*innen" gekommen, was zur Folge hat, dass ich ihnen die Möglichkeiten zugestehen muss, ihre eigene Geschichte innerhalb der Geschichte erleben und erzählen zu lassen, ansonsten würde ich nur Namedropping betreiben und habe ein überflüssiges Arsenal an Statist*innen.
Hast du konkrete Schreibziele, die du gerne und realistisch umsetzen kannst?

Eine kleine Sniffu-Dröhnung