„Hahn!“, rief Voecks durch das Zimmer als Effer und Wittholz die Treppen hinab gingen und Hahn gerade die Tür zu Voecks Büro schließen wollte. Hahn steckte den Kopf in den Raum. „Chef?“
„Kommen Sie bitte noch mal kurz rein.“
Voecks sah ihn an, während er die beiden Männer hinter sich die Stufen hinab gehen hörte. Er betrat den Raum erneut, schloss die Tür hinter sich.
„Komische Vögel was, Hahn?“, fragte Voecks und winkte ihn näher. Er gab sich wieder mal jovial, wie er es immer tat wenn er eine unerfreuliche Situation hinter sich hatte, aber seine Stimme war noch immer gekünstelt und unsicher.
Hahn lächelte bei Voecks offensichtlichem Versuch, wieder schön Wetter bei ihm zu machen, nachdem er den beiden Geheimen beinahe in den Hintern gekrochen war. Dann starb sein Lächeln den schnellen Tod der Erkenntnis. Hahn bemerkte, dass er selbst nicht viel besser gewesen war als Voecks. Er hatte sich auch nicht gewehrt und den Fall ohne ein Widerwort abgegeben. Mit allen Unterlagen.
„Das kommt wohl von ihrer dauernden Geheimniskrämerei. Da muss man ja so werden“, sagte Hahn, versuchte einen lahmen Witz in den Satz zu legen, was ihm gründlich misslang.
Er sah ein, dass ihnen beiden nicht zum Scherzen zumute war und legte zusammen mit seinem Chef eine kurze Denkpause ein, bevor er weitersprach, diesmal ernst und sachlich.
„Gestern hatte ich mit Sturmbannführer Ahlers zu tun. Von der Gestapo. Seine Unterabteilung hat er nicht genannt“, fasste Hahn langsam zusammen.
„Sie werden dann vom Hauptamt angerufen, was vielleicht noch zu verstehen ist, da es sich um eine Juden-Angelegenheit handeln soll. Aber dann ruft Sie das RuSHA an. Was haben die damit zu tun? Und zum Schluß kommt dieser Effer vom Judenreferat der Gestapo und sagt, daß es sich bei der Leiche um die Ergebnisse von Tests mit einer neuen Waffe handelt. Diesen Ahlers kannte der gar nicht, oder besser: Er hat ihn mit keinem Wort erwähnt. Auch wenn sie unterschiedliche Dienststellen haben, dann wären sie doch mit dem gleichen Fall betraut und wüssten voneinander.“ Hahn wurde bei den letzten Worten noch langsamer und hätte sich, am Ende angelangt, am liebsten selbst geohrfeigt.
„Ich hätte Effer nach Ahlers fragen sollen.“
„Die Rechte weiß nicht was die Linke tut. Wie immer in der SS. Der SD macht das, was die Kripo machen soll, die Gestapo macht, was sie will und alle hacken auf der Kripo herum. Dabei ist nicht einmal ein Drittel der Männer von Gestapo, Kripo oder SD Mitglied in der SS wie wir beide. Seit es die SS gibt, erledigen mindestens zwei Dienststellen alles zwei- und dreimal, weil keiner genau weiß, was in seinen Zuständigkeitsbereich fällt. Und wenn jemand weiß, was in seinen Bereich fällt, hält er sich nicht daran. Wer soll da noch durchblicken! Hier könnte der Führer mal Ordnung schaffen.“
Unvermittelt zog Voecks einen Schieber seines Schreibtisches auf und kramte darin. Für Hahn sah es aus, als sei für Voecks der Fall, also die Leiche, damit abgehakt.
„Hahn, das war es aber nicht, warum ich sie hier behalten habe. Ich habe noch einen Brief für Sie. Aus dem Rasse- und Siedlungshauptamt, den ich Ihnen persönlich geben soll. ‚Vom Vorgesetzten persönlich auszuhändigen‘ steht drauf.“
Er sah auf und reichte Hahn den Brief, starrte ihn dabei an. Hahn sah Voecks in die Augen, nahm den Brief und erkannte die gespannte Haltung seines Chefs. Also machte er keine Anstalten, das Schreiben zu öffnen, sondern steckte es einfach ein.
Hahn hörte so etwas wie Enttäuschung aus Voecks Stimme als dieser das Gespräch schloss.
„Sie können dann wieder nach Hause. Bis ihr Dienst heute Mittag anfängt.“
Zu Hause in der ihm vor Jahren zugewiesenen Zwei-Zimmerwohnung angekommen, riss er den Brief nicht auf, sondern setzte sich auf seine abgewetzte Couch, ließ den gestrigen und den heutigen Tag nochmals Revue passieren, während ein undefinierbarer Geruch aus dem Treppenhaus die Wohnung erfüllte, aus dem nur der erdige Geruch nach ungeschält gekochten Kartoffeln hervorstach.
Lange bevor sein Dienst begann, ging er dann wieder in sein Büro, setzte sich an seinen Schreibtisch und öffnete den Brief.
Vom Rasse- und Siedlungshauptamt undsoweiter an Walter Hahn, Hauptsturmführer undsoweiter.
Weiter unten fand Hahn nach all den Titeln und Wichtigkeiten, die ein offizieller Brief zu verbreiten hatte, die entscheidenden Worte.
‚Leider kann der Heirat zwischen oben genanntem SS-Hauptsturmführer Walter Hahn, geboren am 15.07.1912 in Hannover, und Johanna Maria Berger, geboren am 29.01.1920 in Berlin, aus Gründen der Volksgesundheit und der Reinheit des deutschen Blutes nicht zugestimmt werden.
Im Stammbuch oben genannter Johanna Maria Berger ist im Jahre 1853 mütterlicherseits ein volljüdischer Ahne eingetragen. Oben besagter Johanna Maria Berger kann zur Niederkunft ihres Kindes ein Platz im Heim des Lebensborns in Posen zugewiesen werden‘
Und so weiter.
Fassungslos, zutiefst in seiner volksdeutschen Seele getroffen, starrte Hahn auf den Briefbogen.
Hahn verfiel automatisch in sein antrainiertes Verhalten, war wieder ganz der Kriminalist. Und wie bei jedem seiner Fälle ging er automatisch anhand der Fakten die Geschichte durch. So objektiv wie es ihm nur irgendwie möglich war.
Sie hatten sich vor einem Jahr getroffen, bei irgendeiner Parteiveranstaltung in Berlin, als er einen kriminaltechnischen Lehrgang in der Stadt besuchte. Er war fremd und suchte Zeitvertreib bei den Veranstaltungen der Partei, zu denen er Zutritt hatte. Es folgte das normale Kennenlernen und Ausgehen und nach sieben Abenden waren sie im Bett gelandet. Hahn war das recht gewesen. Er hatte schon lange keine Freundin mehr gehabt, und in seinem Alter sollte er eigentlich nach den Vorgaben der Partei und der SS schon verheiratet sein und Kinder haben. Also entschied er für sich, dass sie zusammen bleiben würden. So konnte Hahn auf offiziellen Veranstaltungen wenn schon keine Frau, so doch eine Freundin vorweisen. Das war gut für sein Ansehen in der Partei und der SS. Außerdem befriedigte es auch einige menschliche Bedürfnisse, die man als Mann so hat.
Seit dem Lehrgang hatte er sie mit Ausnahme seiner Zeit in Russland jedes Wochenende und an den Feiertagen in Berlin besucht. Er war jedes Mal in der gleichen Pension abgestiegen und sie klopfte immer abends um neun Uhr an seine Tür.
Aber seine Liebe war nach seinem Russland-Einsatz langsam kälter geworden und seit er das gemerkt hatte, konnte er sich kein dauerhaftes Leben mit Hanne mehr vorstellen, wollte es sich nicht wirklich vorstellen, konnte sich vor allem nicht entscheiden, sie zu heiraten. Obwohl er gespürt hatte, wie sehr sie auf seinen Antrag gewartet hatte.
Aber er hatte ihr auch nicht sagen können, dass es vorbei sei. Also hatte er es laufen lassen. Aus lauter Feigheit, vor dem einen, wie dem anderen, wie er sich seither mehrfach eingestanden hatte. Und er hatte sich auch noch eingestehen müssen, dass er sie wahrscheinlich nicht wirklich liebte. Er mochte sie. Unheimlich. Aber er liebte sie nicht wirklich. Liebte sie nicht mit dem Feuer, mit dem man eine Frau in seiner Vorstellung ein Leben lang lieben sollte. Mit dem gierigen Feuer und der brennenden Begierde, die einmal angezündet, nie wieder verlöschen würden.
Er spielte mit dem Brief in seinen Händen und die Gedanken an Hanne brachten Hahn trotz allem zum Grinsen. Keinem gehässigen oder schwärmerischen Grinsen, eher einem unschuldigen, lieben Grinsen, wie kleine Kinder es unbewusst, einfach so und ohne Anlass, auf ihr Gesicht zaubern können.
Hanne war eine liebe Person. Man musste sie sofort mögen. Tief im Glauben an das Volk und den Führer verwurzelt, aber immer noch standhafte Christin. Groß, in den Schultern und im Becken etwas zu breit, aber es passte alles zueinander, auch die paar Kilo zu viel. Die langen schwarzen Haare immer selbst frisiert, war sie auch mit zierlichen schwarzen Brauen und ausdruckstarken Augen gesegnet, die ihn immer wieder in ihren Bann zogen. Ob er wollte oder nicht.
Sie war keine Schönheit, aber irgendwie süß und schnuckelig. Und lieb eben. Es gab kein anderes Wort, das einfach alles an und in ihr ausdrückte. Sie war einfach lieb.
Er faltete den Brief mehrfach, steckte ihn in das Kuvert und nahm ihn wieder heraus, als er sich an die vielen Male erinnerte, wenn er ihr Freitagabends die Tür zu seinem Zimmer in der Berliner Pension öffnete.
Vor zwei Monaten war Hanne als er gerade angekommen war in sein Zimmer gekommen. Sie hatte rote, verweinte Augen gehabt, ihr Haar war wirr und ungekämmt, hing nicht zurechtgemacht an ihrem Kopf herunter und sie war unordentlich gekleidet gewesen.
Er war erschrocken, hätte viel vermutet, als er sie sah, aber nicht, dass sie sein Zimmer betreten würde und noch bevor er die Türe ganz geschlossen hatte, mit brechender Stimme einfach „Ich bin schwanger!“ sagen würde.
Er war herumgefahren und jetzt sah er immer noch ihre tiefgründigen Augen auf ihn blicken, voller Angst vor dem, was er sagen würde. Und doch war darin eine Andeutung des Glücks, das sie empfinden würde, wenn er sich in ihrem Sinne entschied.
Und das war für ihn der Abend der Entscheidung geworden. Innerhalb der wenigen Minuten, in der sie ihm auf seine Bitte hin schluchzend alles berichtete, hatte er sich entscheiden müssen.
Und er hatte sich nicht getraut, ihr zu sagen, dass ihr Leben zerstört sei.
Hahn faltete den Brief ein letztes Mal und legte ihn ordentlich vor sich auf seinen leeren Schreibtisch.
Er hatte sich für das kleinere Übel entschieden, ging den Schuldgefühlen und dem Wissen, feig und inkonsequent zu sein, aus dem Weg.
Nachdem er ihr gesagt hatte, dass sie heiraten würden, hatte sie sich jubelnd an ihn geworfen, ihn umschlungen und es war eine ganz besondere Nacht geworden.
Aber die Erinnerung an diese besondere Nacht hielt nicht lange vor. Ein paar Tage später fragte er sich, ob er das richtige getan hatte. Er fragte sich, ob er nicht doch lieber so weiterleben wollte, wie bisher, fragte sich, wie er sich wohl das Leben mit Hanne vorstellen sollte, fragte sich, ob er nicht doch noch in den sauren Apfel beißen und ihr sagen sollte, dass er sie nicht liebte, fragte sich, was sich für ihn alles ändern würde, wenn er mit einer Frau zusammenlebte, die er nicht liebte. Zum Guten wie zum Schlechten. Er konnte auf seine vielen Fragen keine Antworten finden und fragte sich weiter die gleichen Fragen. Immer wieder.
Er hob den Brief erneut von der Schreibtischplatte und begann, mit ihm auf die Knöchel der Finger seiner linken Hand zu schlagen.
Jetzt kam dieser Brief, der seine Entscheidung nichtig machte, der die quälenden Gedanken in jeder Nacht der letzten Wochen gegenstandslos machte. Selbst wenn er wirklich wollte, wenn er nichts auf der Welt mehr wollte, als sie zu heiraten, war es ihm doch verboten. Und wenn er sie nicht heiraten wollte, wenn er sein Leben so weiterführen wollte, wie es vor Hanne gewesen war, wäre dies nun die Entschuldigung. Er brauchte keine Schuld auf sich zu laden, Hanne getäuscht zu haben. Dieser Brief machte es endgültig.
Er hatte verboten bekommen, Hanne zu heiraten.
Und dann sah er es, erkannte den Punkt, der ihn störte. Er merkte, wie er zornig auf Hanne wurde, wie er seine Erregung kaum bändigen konnte. Er musste sich beherrschen, den Brief nicht zu zerknüllen, sondern dieses offizielle Dokument sorgfältig einzustecken.
Es war die Berechnung, mit der Hanne ihm ein Kind angehängt hatte, die ihn so traf und die jetzt seinen Zorn entfachte. Sie musste gewusst haben, dass sie einen jüdischen Ahnen hatte und hatte sich ihn wahrscheinlich in der Hoffnung ausgesucht, trotz dieses jüdischen Ahnen, mit und durch ihn in eine gesellschaftlich angenehmere Position zu kommen. Sie musste gehofft haben, dass die Ahnenreihe von SS-Mitgliedern nicht so streng durchforscht würden wie bei normalen Volksgenossen.
Sie hatte sich ihn mit Berechnung ausgesucht. Sie hatte es gewusst. So ein Luder.
Aber dann entspannte er sich, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück dachte daran, dass erst recht die Ahnenreihen von SS-Mitgliedern und ihren zukünftigen Ehefrauen besonders sorgfältig und besonders lange zurückverfolgt wurden, während sein Gesicht sich zu einer grimmig grinsenden Maske des Zorns verzog.
Glossar:
Lebensborn: Ein von Himmler gegründeter Verein der SS, der versuchte, die Geburtenrate rassisch 'gesunder' Kinder (mindestens ein Elternteil ist deutsch) durch die Verhinderung von Abtreibungen zu erhöhen. Die Kinder konnten in eigens eingerichteten Heimen geboren werden und wurden dann, wenn möglich, zur Adoption vermittelt. Unter anderem kam es aber auch zzu Kindesentziehungen und anderen Verbrechen.
„Kommen Sie bitte noch mal kurz rein.“
Voecks sah ihn an, während er die beiden Männer hinter sich die Stufen hinab gehen hörte. Er betrat den Raum erneut, schloss die Tür hinter sich.
„Komische Vögel was, Hahn?“, fragte Voecks und winkte ihn näher. Er gab sich wieder mal jovial, wie er es immer tat wenn er eine unerfreuliche Situation hinter sich hatte, aber seine Stimme war noch immer gekünstelt und unsicher.
Hahn lächelte bei Voecks offensichtlichem Versuch, wieder schön Wetter bei ihm zu machen, nachdem er den beiden Geheimen beinahe in den Hintern gekrochen war. Dann starb sein Lächeln den schnellen Tod der Erkenntnis. Hahn bemerkte, dass er selbst nicht viel besser gewesen war als Voecks. Er hatte sich auch nicht gewehrt und den Fall ohne ein Widerwort abgegeben. Mit allen Unterlagen.
„Das kommt wohl von ihrer dauernden Geheimniskrämerei. Da muss man ja so werden“, sagte Hahn, versuchte einen lahmen Witz in den Satz zu legen, was ihm gründlich misslang.
Er sah ein, dass ihnen beiden nicht zum Scherzen zumute war und legte zusammen mit seinem Chef eine kurze Denkpause ein, bevor er weitersprach, diesmal ernst und sachlich.
„Gestern hatte ich mit Sturmbannführer Ahlers zu tun. Von der Gestapo. Seine Unterabteilung hat er nicht genannt“, fasste Hahn langsam zusammen.
„Sie werden dann vom Hauptamt angerufen, was vielleicht noch zu verstehen ist, da es sich um eine Juden-Angelegenheit handeln soll. Aber dann ruft Sie das RuSHA an. Was haben die damit zu tun? Und zum Schluß kommt dieser Effer vom Judenreferat der Gestapo und sagt, daß es sich bei der Leiche um die Ergebnisse von Tests mit einer neuen Waffe handelt. Diesen Ahlers kannte der gar nicht, oder besser: Er hat ihn mit keinem Wort erwähnt. Auch wenn sie unterschiedliche Dienststellen haben, dann wären sie doch mit dem gleichen Fall betraut und wüssten voneinander.“ Hahn wurde bei den letzten Worten noch langsamer und hätte sich, am Ende angelangt, am liebsten selbst geohrfeigt.
„Ich hätte Effer nach Ahlers fragen sollen.“
„Die Rechte weiß nicht was die Linke tut. Wie immer in der SS. Der SD macht das, was die Kripo machen soll, die Gestapo macht, was sie will und alle hacken auf der Kripo herum. Dabei ist nicht einmal ein Drittel der Männer von Gestapo, Kripo oder SD Mitglied in der SS wie wir beide. Seit es die SS gibt, erledigen mindestens zwei Dienststellen alles zwei- und dreimal, weil keiner genau weiß, was in seinen Zuständigkeitsbereich fällt. Und wenn jemand weiß, was in seinen Bereich fällt, hält er sich nicht daran. Wer soll da noch durchblicken! Hier könnte der Führer mal Ordnung schaffen.“
Unvermittelt zog Voecks einen Schieber seines Schreibtisches auf und kramte darin. Für Hahn sah es aus, als sei für Voecks der Fall, also die Leiche, damit abgehakt.
„Hahn, das war es aber nicht, warum ich sie hier behalten habe. Ich habe noch einen Brief für Sie. Aus dem Rasse- und Siedlungshauptamt, den ich Ihnen persönlich geben soll. ‚Vom Vorgesetzten persönlich auszuhändigen‘ steht drauf.“
Er sah auf und reichte Hahn den Brief, starrte ihn dabei an. Hahn sah Voecks in die Augen, nahm den Brief und erkannte die gespannte Haltung seines Chefs. Also machte er keine Anstalten, das Schreiben zu öffnen, sondern steckte es einfach ein.
Hahn hörte so etwas wie Enttäuschung aus Voecks Stimme als dieser das Gespräch schloss.
„Sie können dann wieder nach Hause. Bis ihr Dienst heute Mittag anfängt.“
Zu Hause in der ihm vor Jahren zugewiesenen Zwei-Zimmerwohnung angekommen, riss er den Brief nicht auf, sondern setzte sich auf seine abgewetzte Couch, ließ den gestrigen und den heutigen Tag nochmals Revue passieren, während ein undefinierbarer Geruch aus dem Treppenhaus die Wohnung erfüllte, aus dem nur der erdige Geruch nach ungeschält gekochten Kartoffeln hervorstach.
Lange bevor sein Dienst begann, ging er dann wieder in sein Büro, setzte sich an seinen Schreibtisch und öffnete den Brief.
Vom Rasse- und Siedlungshauptamt undsoweiter an Walter Hahn, Hauptsturmführer undsoweiter.
Weiter unten fand Hahn nach all den Titeln und Wichtigkeiten, die ein offizieller Brief zu verbreiten hatte, die entscheidenden Worte.
‚Leider kann der Heirat zwischen oben genanntem SS-Hauptsturmführer Walter Hahn, geboren am 15.07.1912 in Hannover, und Johanna Maria Berger, geboren am 29.01.1920 in Berlin, aus Gründen der Volksgesundheit und der Reinheit des deutschen Blutes nicht zugestimmt werden.
Im Stammbuch oben genannter Johanna Maria Berger ist im Jahre 1853 mütterlicherseits ein volljüdischer Ahne eingetragen. Oben besagter Johanna Maria Berger kann zur Niederkunft ihres Kindes ein Platz im Heim des Lebensborns in Posen zugewiesen werden‘
Und so weiter.
Fassungslos, zutiefst in seiner volksdeutschen Seele getroffen, starrte Hahn auf den Briefbogen.
Hahn verfiel automatisch in sein antrainiertes Verhalten, war wieder ganz der Kriminalist. Und wie bei jedem seiner Fälle ging er automatisch anhand der Fakten die Geschichte durch. So objektiv wie es ihm nur irgendwie möglich war.
Sie hatten sich vor einem Jahr getroffen, bei irgendeiner Parteiveranstaltung in Berlin, als er einen kriminaltechnischen Lehrgang in der Stadt besuchte. Er war fremd und suchte Zeitvertreib bei den Veranstaltungen der Partei, zu denen er Zutritt hatte. Es folgte das normale Kennenlernen und Ausgehen und nach sieben Abenden waren sie im Bett gelandet. Hahn war das recht gewesen. Er hatte schon lange keine Freundin mehr gehabt, und in seinem Alter sollte er eigentlich nach den Vorgaben der Partei und der SS schon verheiratet sein und Kinder haben. Also entschied er für sich, dass sie zusammen bleiben würden. So konnte Hahn auf offiziellen Veranstaltungen wenn schon keine Frau, so doch eine Freundin vorweisen. Das war gut für sein Ansehen in der Partei und der SS. Außerdem befriedigte es auch einige menschliche Bedürfnisse, die man als Mann so hat.
Seit dem Lehrgang hatte er sie mit Ausnahme seiner Zeit in Russland jedes Wochenende und an den Feiertagen in Berlin besucht. Er war jedes Mal in der gleichen Pension abgestiegen und sie klopfte immer abends um neun Uhr an seine Tür.
Aber seine Liebe war nach seinem Russland-Einsatz langsam kälter geworden und seit er das gemerkt hatte, konnte er sich kein dauerhaftes Leben mit Hanne mehr vorstellen, wollte es sich nicht wirklich vorstellen, konnte sich vor allem nicht entscheiden, sie zu heiraten. Obwohl er gespürt hatte, wie sehr sie auf seinen Antrag gewartet hatte.
Aber er hatte ihr auch nicht sagen können, dass es vorbei sei. Also hatte er es laufen lassen. Aus lauter Feigheit, vor dem einen, wie dem anderen, wie er sich seither mehrfach eingestanden hatte. Und er hatte sich auch noch eingestehen müssen, dass er sie wahrscheinlich nicht wirklich liebte. Er mochte sie. Unheimlich. Aber er liebte sie nicht wirklich. Liebte sie nicht mit dem Feuer, mit dem man eine Frau in seiner Vorstellung ein Leben lang lieben sollte. Mit dem gierigen Feuer und der brennenden Begierde, die einmal angezündet, nie wieder verlöschen würden.
Er spielte mit dem Brief in seinen Händen und die Gedanken an Hanne brachten Hahn trotz allem zum Grinsen. Keinem gehässigen oder schwärmerischen Grinsen, eher einem unschuldigen, lieben Grinsen, wie kleine Kinder es unbewusst, einfach so und ohne Anlass, auf ihr Gesicht zaubern können.
Hanne war eine liebe Person. Man musste sie sofort mögen. Tief im Glauben an das Volk und den Führer verwurzelt, aber immer noch standhafte Christin. Groß, in den Schultern und im Becken etwas zu breit, aber es passte alles zueinander, auch die paar Kilo zu viel. Die langen schwarzen Haare immer selbst frisiert, war sie auch mit zierlichen schwarzen Brauen und ausdruckstarken Augen gesegnet, die ihn immer wieder in ihren Bann zogen. Ob er wollte oder nicht.
Sie war keine Schönheit, aber irgendwie süß und schnuckelig. Und lieb eben. Es gab kein anderes Wort, das einfach alles an und in ihr ausdrückte. Sie war einfach lieb.
Er faltete den Brief mehrfach, steckte ihn in das Kuvert und nahm ihn wieder heraus, als er sich an die vielen Male erinnerte, wenn er ihr Freitagabends die Tür zu seinem Zimmer in der Berliner Pension öffnete.
Vor zwei Monaten war Hanne als er gerade angekommen war in sein Zimmer gekommen. Sie hatte rote, verweinte Augen gehabt, ihr Haar war wirr und ungekämmt, hing nicht zurechtgemacht an ihrem Kopf herunter und sie war unordentlich gekleidet gewesen.
Er war erschrocken, hätte viel vermutet, als er sie sah, aber nicht, dass sie sein Zimmer betreten würde und noch bevor er die Türe ganz geschlossen hatte, mit brechender Stimme einfach „Ich bin schwanger!“ sagen würde.
Er war herumgefahren und jetzt sah er immer noch ihre tiefgründigen Augen auf ihn blicken, voller Angst vor dem, was er sagen würde. Und doch war darin eine Andeutung des Glücks, das sie empfinden würde, wenn er sich in ihrem Sinne entschied.
Und das war für ihn der Abend der Entscheidung geworden. Innerhalb der wenigen Minuten, in der sie ihm auf seine Bitte hin schluchzend alles berichtete, hatte er sich entscheiden müssen.
Und er hatte sich nicht getraut, ihr zu sagen, dass ihr Leben zerstört sei.
Hahn faltete den Brief ein letztes Mal und legte ihn ordentlich vor sich auf seinen leeren Schreibtisch.
Er hatte sich für das kleinere Übel entschieden, ging den Schuldgefühlen und dem Wissen, feig und inkonsequent zu sein, aus dem Weg.
Nachdem er ihr gesagt hatte, dass sie heiraten würden, hatte sie sich jubelnd an ihn geworfen, ihn umschlungen und es war eine ganz besondere Nacht geworden.
Aber die Erinnerung an diese besondere Nacht hielt nicht lange vor. Ein paar Tage später fragte er sich, ob er das richtige getan hatte. Er fragte sich, ob er nicht doch lieber so weiterleben wollte, wie bisher, fragte sich, wie er sich wohl das Leben mit Hanne vorstellen sollte, fragte sich, ob er nicht doch noch in den sauren Apfel beißen und ihr sagen sollte, dass er sie nicht liebte, fragte sich, was sich für ihn alles ändern würde, wenn er mit einer Frau zusammenlebte, die er nicht liebte. Zum Guten wie zum Schlechten. Er konnte auf seine vielen Fragen keine Antworten finden und fragte sich weiter die gleichen Fragen. Immer wieder.
Er hob den Brief erneut von der Schreibtischplatte und begann, mit ihm auf die Knöchel der Finger seiner linken Hand zu schlagen.
Jetzt kam dieser Brief, der seine Entscheidung nichtig machte, der die quälenden Gedanken in jeder Nacht der letzten Wochen gegenstandslos machte. Selbst wenn er wirklich wollte, wenn er nichts auf der Welt mehr wollte, als sie zu heiraten, war es ihm doch verboten. Und wenn er sie nicht heiraten wollte, wenn er sein Leben so weiterführen wollte, wie es vor Hanne gewesen war, wäre dies nun die Entschuldigung. Er brauchte keine Schuld auf sich zu laden, Hanne getäuscht zu haben. Dieser Brief machte es endgültig.
Er hatte verboten bekommen, Hanne zu heiraten.
Und dann sah er es, erkannte den Punkt, der ihn störte. Er merkte, wie er zornig auf Hanne wurde, wie er seine Erregung kaum bändigen konnte. Er musste sich beherrschen, den Brief nicht zu zerknüllen, sondern dieses offizielle Dokument sorgfältig einzustecken.
Es war die Berechnung, mit der Hanne ihm ein Kind angehängt hatte, die ihn so traf und die jetzt seinen Zorn entfachte. Sie musste gewusst haben, dass sie einen jüdischen Ahnen hatte und hatte sich ihn wahrscheinlich in der Hoffnung ausgesucht, trotz dieses jüdischen Ahnen, mit und durch ihn in eine gesellschaftlich angenehmere Position zu kommen. Sie musste gehofft haben, dass die Ahnenreihe von SS-Mitgliedern nicht so streng durchforscht würden wie bei normalen Volksgenossen.
Sie hatte sich ihn mit Berechnung ausgesucht. Sie hatte es gewusst. So ein Luder.
Aber dann entspannte er sich, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück dachte daran, dass erst recht die Ahnenreihen von SS-Mitgliedern und ihren zukünftigen Ehefrauen besonders sorgfältig und besonders lange zurückverfolgt wurden, während sein Gesicht sich zu einer grimmig grinsenden Maske des Zorns verzog.
Glossar:
Lebensborn: Ein von Himmler gegründeter Verein der SS, der versuchte, die Geburtenrate rassisch 'gesunder' Kinder (mindestens ein Elternteil ist deutsch) durch die Verhinderung von Abtreibungen zu erhöhen. Die Kinder konnten in eigens eingerichteten Heimen geboren werden und wurden dann, wenn möglich, zur Adoption vermittelt. Unter anderem kam es aber auch zzu Kindesentziehungen und anderen Verbrechen.