„Tyr und Wotan“
„Loki und Hel“
„Es läuft! Wir haben die Leiche und die Akten über den Fall. Den Bericht werden wir von diesem alten Doktor auch noch erhalten. Und bei Ihnen? Hat der Reichsführer endlich Hahns Versetzung unterschrieben?“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung antwortete nicht und er fragte erneut „Wie weit sind sie mit der Versetzung Hahns?“
„Haben sie diesen Ahlers gefunden? Wir nicht. In der ganzen SS scheint es niemand zu geben der Ahlers heißt und auf die Beschreibung passt.“
„Wir haben sogar bei der Abwehr nachgefragt. Sie waren dort äußerst freundlich und hilfsbereit, aber ebenso erfolglos. Verdammt!“, fluchte der Mann hinter dem aufgeräumten Schreibtisch, fuhr dann fort „Also? Wohin wird dieser Hahn versetzt?“
„Wir schicken ihn nach Paris. Zu Ihrer Gestapo.“ Erwartungsvoll schwieg die Stimme.
„Nach Paris? Warum nach Paris? Stalingrad wäre doch viel passender!“, lachte die Stimme freudlos.
„Stalingrad ist vorbei! Die dort sehen wir nie mehr wieder! Maximal noch zwei Wochen! Da fliegen kaum noch Maschinen hin!“, fauchte der Mann und hörte, wie seinem Gesprächspartner mit dem immer so fürchterlich aufgeräumten Schreibtisch zischend die Luft aus den Lungen entwich. Er grinste und dachte sich, dass es doch zu etwas gut war, wenn man im SS-Führungshauptamt in gehobener Position arbeitete. Man bekam einfach mehr davon mit, was im Krieg passierte.
Als er vermutete, dass sich sein Gegenüber von diesem Tiefschlag erholt hatte, fuhr er immer noch grinsend fort. „Er wird keine Schwierigkeiten machen, wenn er hört, dass er nach Paris muss! Wer macht schon Probleme wenn er nach Paris muss?“ Dann lachte er grob.
„Stalingrad ist vorbei?“, fragte der Mann ungläubig. Offensichtlich hatte er sich noch nicht erholt. „Aber die ganze Woche sagt der Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht nichts anderes, als dass sich die Verbände in Stalingrad heldenhaft verteidigen.“
„Genau! Sie verteidigen sich so lange, bis sie verhungert oder erfroren sind.“
„Aber Manstein haut sie doch raus! Es kann sich nur noch um Tage handeln.“
„Wissen sie, wann Manstein das letzte Mal im Wehrmachtsbericht erwähnt wurde? Manstein hat den Befreiungsschlag schon vor Weihnachten abgebrochen. Jetzt hat er genug damit zu tun, den Zusammenbruch seiner Heeresgruppe Don zu verhindern.“
„Na dann ist es umso wichtiger, dass hier wieder Ruhe einkehrt und wir unserer Tätigkeit wieder nachgehen können, ohne dass uns ein Kriminaler hinterher schnüffelt.“ Der Mann hinter dem aufgeräumten Schreibtisch setzte sich gerade hin, bevor er fortfuhr.
„Wenn Stalingrad untergeht, dann wäre es umso klüger, Hahn nach Stalingrad zu schicken. Und wenn der Reichsheini den Befehl unterschrieben hat, wird Hahn ohne Widerspruch nach Stalingrad gehen. Wo soll das Problem sein? “
„Er könnte seinen Vorgesetzten scharf machen, weil er nicht an die Ostfront will! Er könnte sich weigern und dann würde es auffallen, dass wir jemand in eine untergehende Festung schicken, der dort gerade gar nichts verloren hat!“
„Kommen sie mir nicht mit so was. Ich hab’ mich auch über diesen Hahn informiert! Er ist ein strammer Nationalsozialist und wird tun was man ihm sagt. Sein Vorgesetzter ist ein Weichling, der nirgends auffallen will! Wissen Sie denn überhaupt etwas?“
„Wir sind keine Polizisten! Sie persönlich wären der erste, der zum Reichsheini, wie sie unseren geliebten Heinrich genannt haben, rennen würde, wenn wir uns in ihre Kompetenzen mischen würden.“
„Sie haben Recht! Ich kümmere mich selbst um Hahn. Ich werde Oberg in Paris informieren. Er wird sich um Hahn kümmern.“ Die Drähte übertrugen ein hämisches Lachen.
„Morgen wird Nebe den Befehl des Reichsführers erhalten und Hahn nach Paris versetzen müssen.“
„Gut! Man wird sehen, was sich in Frankreich ergibt. Es gibt dort einen sehr aktiven Widerstand und sehr gefährliche Einsätze“, lachte der Mann hinter dem aufgeräumten Schreibtisch gehässig, grüßte dann mit einem „Heil Hitler!“, und legte auf.
Hahn lag im Bett und seine Gedanken kreisten um den toten Waffen-SS-Mann. Nur schwer konnte er sich davon lösen und landete sofort bei Hanne und ihrer schändlichen Hinterhältigkeit.
Je länger Hahn über Hanne und seine Beziehung zu ihr nachdachte, desto mehr verwandelte sich sein Zorn in Unsicherheit. Ihm war klar, dass er bei Hanne nach einem Motiv suchte, so wie er bei jeder Tat den Antrieb des Täters finden wollte. Und im Affekt hatte er das naheliegendste Motiv angenommen.
Aber was wäre, wenn Hanne dieses Kind nicht geplant hatte? Was, wenn sie keinerlei schlechte Absichten hatte? Er glaubte es nicht, aber er konnte es sich bei dieser Konstellation und vor allem bei Hanne trotzdem vorstellen. Hanne war verliebt in ihn und vielleicht war das Kind einfach passiert.
Er quälte sich durch die verschiedenen Möglichkeiten und außer seinem persönlichen Verdacht, gab es nichts, das für eine geplante Aktion ihrerseits sprach. Aber er fand auch keinen Beweis dagegen.
Hahn wälzte sich von einer Seite auf die andere, stellte sich dann die Frage anders.
Was änderte das Kind an seiner Beziehung zu Hanne? Nichts. Würde es etwas ändern, wenn sie die Sache geplant hatte? Nein.
Die Situation war die gleiche. Er wusste immer noch nicht, ob er sie liebte oder nicht.
Kurz bevor er spät in der Nacht in einen unruhigen Schlaf fiel, traf er seine Entscheidung. Er musste sich von ihr trennen.
„Hahn, schlechte Nachrichten! Für mich jedenfalls! Heute Morgen kam ein Befehl der sie betrifft. Er ist aus dem Amt V des Reichssicherheitshauptamts und von Brigadeführer Nebe persönlich unterschrieben“, sagte Voecks nach der Begrüßung hinter seinem wuchtigen Schreibtisch hervor, hinter dem er wie immer präsidierte.
Voecks hatte Hahn noch vor Dienstbeginn in sein Büro rufen lassen und wieder saßen sich beide in Voecks Büro gegenüber. Hahn sah seinen Chef sich am Hinterkopf kratzen, als wisse er nicht, wie er weitermachen sollte.
„Gegen was können Sie nichts tun?“, erlöste ihn Hahn und fragte sich, was er mit Amt V zu tun habe? Und mit Nebe? Ob der Devisenfall wieder hoch kam?
„Sie werden mit sofortiger Wirkung zum Amt V des RSHA versetzt. Ins Reichskriminalpolizeiamt, Abteilung VA.“
„Reichskriminalpolizeiamt? Amt VA?“, fragte Hahn verständnislos, während seine Ideen rasten, ohne dass er eine davon fassen konnte.
„Kriminalpolitik“, sagte Voecks und schien seine Augen ergeben an die Decke zu heben.
„Kriminalpolitik?“, wiederholte Hahn, hatte seine Stimme dabei wenigstens so weit im Griff, dass er eine Frage modulieren konnte und sah Voecks dabei verständnislos ins Gesicht. Von Kriminalpolitik verstand er so viel wie von Verbrennungsmotoren. Nichts. „Warum?“
„Woher soll ich das wissen, Hahn?“ Voecks hob hilflos beide Hände, sah ihm ins Gesicht und Hahn hätte beinahe laut gelacht. Voecks war die Ahnungslosigkeit in Person. „Ich wüsste nicht, weswegen sie dem Brigadeführer in letzter Zeit aufgefallen sein sollten. Vielleicht hat die Devisensache doch noch ein Nachspiel. Dann kann ich nichts für sie tun, Hahn. Das konnte ich damals auch nicht und dass sie nicht an der Ostfront gelandet sind, verdanken sie Nebe!“, erklärte Voecks beinahe bedauernd und fuhr dann im gleichen Ton fort. „Sie sollen sich am Montag dem fünfundzwanzigsten Januar, also kommenden Montag, morgens um neun Uhr, bei Brigadeführer Nebe persönlich melden. Eine weitere ungewöhnliche Anordnung, Hahn. Das persönlich melden, meine ich.“
Als sei es der Erklärungen nun genug, sprach Voecks in deutlich dienstlicherem Ton weiter. „Sie haben nur heute und das Wochenende, um ihre Angelegenheiten hier zu regeln“
Hahn war immer noch verwirrt, wusste nicht, was er von diesem Befehl halten sollte, wusste nicht, ob er sich fürchten oder freuen sollte, während er spürte wie sein Reiter sich reckte und streckte und dann hellwach war.
„Nebe selbst hat den Befehl gegeben?“, fragte er dann, wollte das Offensichtliche noch einmal hören. So, als könne er sich dadurch einen Reim darauf machen.
„Er hat unterschrieben. Und in Berlin ist bestimmt mehr los als bei uns. Ich wünsche ihnen Alles Gute, Hahn und denken Sie daran: Sie gehen in die Höhle des Löwen“ Hahn sah wie Voecks ihn nachdenklich anstarrte. „Also, machen sie ihre Übergabe mit Kamenz und packen Sie Ihren Kram zusammen.“
Hahn merkte, dass für Voecks das Gespräch zu Ende war, stand auf und führte die Grußzeremonie durch.
Auch Voecks hatte sich erhoben. „Heil Hitler, Hahn!“
Hahn machte seine Übergabe mit Kamenz, der auf ihn gewartet hatte und ihn die ganze Zeit fettig angrinste. Danach fuhr er in seine Wohnung, um sein bisschen Hab und Gut zu packen. Die Möbel hinterließ er seinem Nachmieter und der Rest fand in drei Koffern Platz.
Mit gemischten Gefühlen war Hahn dann, wie jeden Freitag Abend, mit dem Zug nach Berlin gefahren und hatte sein Zimmer in der Pension bezogen. Am Montag würde er sich im Reichssicherheitshauptamt melden, ein Büro zugewiesen bekommen und vielleicht auch ein möbliertes Zimmer in einer Polizeikaserne.
Ein neues Kapitel seiner beruflichen Laufbahn begann und das war die beste Gelegenheit, mit Hanne reinen Tisch zu machen. Gestern hatte er seinen Entschluss gefasst und die Versetzung bestärkte ihn darin. Er grinste freudig, als er sich vorstellte, wie befreit er aufatmen würde, wenn diese Sache endlich durchgestanden war.
Im Geist übte Hahn, wie er es ihr sagen würde, was er ihr sagen würde und plante das Gespräch, wie er ein Verhör plante. Nicht so fordernd und gewalttätig aber genauso punktgenau und hinterlistig.
Lange stand er vor dem Spiegel auf der Schranktür und übte die Sätze, die er ihr unbedingt sagen würde.
Er stand noch vor dem Spiegel, als es an der Tür klopfte. Hanne stand vor der Tür und umarmte ihn sofort. Er umarmte sie nicht und den Kuss, den sie ihm auf die Lippen drückte, erwiderte er auch nicht.
„Darf ich reinkommen?“, fragte sie und hielt ihn an der Hand. Er nickte und sie drängte sich unbeschwert in den Raum und zog ihn hinter sich her. Hahn schaute ihr dabei verstohlen auf den Bauch, um zu überprüfen, ob schon etwas von dem Kind zu sehen war.
„Setz dich!“, sagte er rau und sie setzte sich auf das Bett, zog ihn sofort neben sich herunter und er versuchte möglichst viel Abstand zu ihr zu behaupten.
Sie sah ihn frei mit ihren großen Augen an, bar jeden Argwohns und er konnte ihrem Blick nicht standhalten, senkte seine Augen auf den Dielenboden, räusperte sich und zögerte doch, zu beginnen. Dann kam Hanne ihm zuvor.
„Ich liebe Dich, Walter“, sagte sie und ihre kraftvollen Worte zwangen ihn, sie anzusehen, nahmen ihm seinen ganzen Mut, sein großes Thema anzuschneiden und ließen ihn die geübten Sätze vergessen.
Ihre Lippen glänzten, als wollten sie ihm ein ganzes Paradies zeigen, aber der Gedanke an sein Vorhaben ließ ihn wieder zu Boden blicken. Er fragte sich, wie er es schaffen sollte, ihr zu sagen, dass es vorbei war, wenn sie ihn mit diesen Augen ansah. Er hatte es schon oft probiert, hatte nie einen Weg gefunden. Und damals ging es nur darum, ihr zu sagen, dass er sie nicht liebte. Jetzt musste er ihr sagen, dass sie ihr Kind an den Lebensborn abgeben könnte, dass er sie nicht heiraten würde, dass sie ihm ein Kind anhängen wollte, um daraus Kapital zu schlagen, dass ihr Leben ruiniert war und dass er sie nicht liebte.
„Was ist mit Dir?“
Er zögerte, kam dann aber mit dem Erstbesten heraus, das ihm einfiel.
„Ich bin nach Berlin versetzt worden, Hanne!“
Ein Freudenschrei und sie hing an seinem Hals. So schnell, dass er nicht einmal an Abwehr denken konnte.
„Ich freu mich so! Du wirst bei mir sein! Wir können uns jeden Abend sehen! Ach, Walter!“, rief sie und drückte sich an ihn, küsste ihn im ganzen Gesicht und er spürte, wie sie ihn flachlegen wollte. Er stemmte sich gegen die Woge weiblicher Freude, aber als sie den Kopf hob und er unabsichtlich doch in ihre eine überirdische Freude ausstrahlenden großen schwarzen Augen sah, fiel der Widerstand in ihm zusammen und er sank rückwärts auf das aufgedeckte Bett.
Übermütig lächelnd hob sie den Kopf und sein Blick wurde von ihren Augen angezogen. In ihnen sah er die ganze Wucht ihrer Begeisterung auf sich konzentriert und konnte nicht anders, als gebannt in die strahlenden Luken ihrer lieben und liebenden Seele zu schauen.
Er konnte es ihr nicht sagen. Nichts davon.
Vielleicht sollte ich nichts tun und alles laufen lassen, dachte er gerade noch, bevor er es laufen ließ, wie Hanne es in ihrem Freudentaumel wollte.
Glossar:
Manstein, Erich von - Deutscher Generalfeldmarschall im Zweiten Weltkrieg, sollte in der Unternehmen "Wintergewitter" den Kessel von Stalingrad entsetzen, was aufgrund zu geringer deutscher Kräfte und des nicht erteilten Ausbruchsbefehls für die eingeschlossenen Soldaten kläglich misslang und zu einer Notsituation an der Ostfront führte. Ein sehr großes Gebiet konnte in der Folge von den Russen zurückerobert werden, bevor Manstein die Heeresgruppe Don wieder stabilisiert hatte.
Nebe, Artur – Reichskriminaldirektor und Leiter des Reichskriminalpolizeiamtes (Amt V des RSHA). Seine Handlungen in dieser Geschichte sind reine Fiktion, seine hochinteressante Person und Geschichte ist historisch.
Oberg, Carl - Oberg war Befehlshaber der Gestapo in Paris, bekämpfte vor allem die Resistance, war an der "Endlösung" beteiligt und erhielt von den Franzosen den Beinamen"Schlächter von Paris"
Reichsheini - Tatsächlich benutzter Spitzname für Heinrich Himmler
Reichssicherheitshauptamt (RSHA) - Die Leitungsbehörde von Sipo, Gestapo und der polizeilichen Aufgaben der SS
SS-Führungshauptamt (SS-FHA) - Dieses Amt war das Hauptquartier der SS. Ihm unterstanden die drei Gliederungen der SS: Allgemeine SS, die Waffen-SS und die Totenkopf-Wachsturmbanne und zusätzlich noch die SS-Junkerschulen
„Loki und Hel“
„Es läuft! Wir haben die Leiche und die Akten über den Fall. Den Bericht werden wir von diesem alten Doktor auch noch erhalten. Und bei Ihnen? Hat der Reichsführer endlich Hahns Versetzung unterschrieben?“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung antwortete nicht und er fragte erneut „Wie weit sind sie mit der Versetzung Hahns?“
„Haben sie diesen Ahlers gefunden? Wir nicht. In der ganzen SS scheint es niemand zu geben der Ahlers heißt und auf die Beschreibung passt.“
„Wir haben sogar bei der Abwehr nachgefragt. Sie waren dort äußerst freundlich und hilfsbereit, aber ebenso erfolglos. Verdammt!“, fluchte der Mann hinter dem aufgeräumten Schreibtisch, fuhr dann fort „Also? Wohin wird dieser Hahn versetzt?“
„Wir schicken ihn nach Paris. Zu Ihrer Gestapo.“ Erwartungsvoll schwieg die Stimme.
„Nach Paris? Warum nach Paris? Stalingrad wäre doch viel passender!“, lachte die Stimme freudlos.
„Stalingrad ist vorbei! Die dort sehen wir nie mehr wieder! Maximal noch zwei Wochen! Da fliegen kaum noch Maschinen hin!“, fauchte der Mann und hörte, wie seinem Gesprächspartner mit dem immer so fürchterlich aufgeräumten Schreibtisch zischend die Luft aus den Lungen entwich. Er grinste und dachte sich, dass es doch zu etwas gut war, wenn man im SS-Führungshauptamt in gehobener Position arbeitete. Man bekam einfach mehr davon mit, was im Krieg passierte.
Als er vermutete, dass sich sein Gegenüber von diesem Tiefschlag erholt hatte, fuhr er immer noch grinsend fort. „Er wird keine Schwierigkeiten machen, wenn er hört, dass er nach Paris muss! Wer macht schon Probleme wenn er nach Paris muss?“ Dann lachte er grob.
„Stalingrad ist vorbei?“, fragte der Mann ungläubig. Offensichtlich hatte er sich noch nicht erholt. „Aber die ganze Woche sagt der Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht nichts anderes, als dass sich die Verbände in Stalingrad heldenhaft verteidigen.“
„Genau! Sie verteidigen sich so lange, bis sie verhungert oder erfroren sind.“
„Aber Manstein haut sie doch raus! Es kann sich nur noch um Tage handeln.“
„Wissen sie, wann Manstein das letzte Mal im Wehrmachtsbericht erwähnt wurde? Manstein hat den Befreiungsschlag schon vor Weihnachten abgebrochen. Jetzt hat er genug damit zu tun, den Zusammenbruch seiner Heeresgruppe Don zu verhindern.“
„Na dann ist es umso wichtiger, dass hier wieder Ruhe einkehrt und wir unserer Tätigkeit wieder nachgehen können, ohne dass uns ein Kriminaler hinterher schnüffelt.“ Der Mann hinter dem aufgeräumten Schreibtisch setzte sich gerade hin, bevor er fortfuhr.
„Wenn Stalingrad untergeht, dann wäre es umso klüger, Hahn nach Stalingrad zu schicken. Und wenn der Reichsheini den Befehl unterschrieben hat, wird Hahn ohne Widerspruch nach Stalingrad gehen. Wo soll das Problem sein? “
„Er könnte seinen Vorgesetzten scharf machen, weil er nicht an die Ostfront will! Er könnte sich weigern und dann würde es auffallen, dass wir jemand in eine untergehende Festung schicken, der dort gerade gar nichts verloren hat!“
„Kommen sie mir nicht mit so was. Ich hab’ mich auch über diesen Hahn informiert! Er ist ein strammer Nationalsozialist und wird tun was man ihm sagt. Sein Vorgesetzter ist ein Weichling, der nirgends auffallen will! Wissen Sie denn überhaupt etwas?“
„Wir sind keine Polizisten! Sie persönlich wären der erste, der zum Reichsheini, wie sie unseren geliebten Heinrich genannt haben, rennen würde, wenn wir uns in ihre Kompetenzen mischen würden.“
„Sie haben Recht! Ich kümmere mich selbst um Hahn. Ich werde Oberg in Paris informieren. Er wird sich um Hahn kümmern.“ Die Drähte übertrugen ein hämisches Lachen.
„Morgen wird Nebe den Befehl des Reichsführers erhalten und Hahn nach Paris versetzen müssen.“
„Gut! Man wird sehen, was sich in Frankreich ergibt. Es gibt dort einen sehr aktiven Widerstand und sehr gefährliche Einsätze“, lachte der Mann hinter dem aufgeräumten Schreibtisch gehässig, grüßte dann mit einem „Heil Hitler!“, und legte auf.
Hahn lag im Bett und seine Gedanken kreisten um den toten Waffen-SS-Mann. Nur schwer konnte er sich davon lösen und landete sofort bei Hanne und ihrer schändlichen Hinterhältigkeit.
Je länger Hahn über Hanne und seine Beziehung zu ihr nachdachte, desto mehr verwandelte sich sein Zorn in Unsicherheit. Ihm war klar, dass er bei Hanne nach einem Motiv suchte, so wie er bei jeder Tat den Antrieb des Täters finden wollte. Und im Affekt hatte er das naheliegendste Motiv angenommen.
Aber was wäre, wenn Hanne dieses Kind nicht geplant hatte? Was, wenn sie keinerlei schlechte Absichten hatte? Er glaubte es nicht, aber er konnte es sich bei dieser Konstellation und vor allem bei Hanne trotzdem vorstellen. Hanne war verliebt in ihn und vielleicht war das Kind einfach passiert.
Er quälte sich durch die verschiedenen Möglichkeiten und außer seinem persönlichen Verdacht, gab es nichts, das für eine geplante Aktion ihrerseits sprach. Aber er fand auch keinen Beweis dagegen.
Hahn wälzte sich von einer Seite auf die andere, stellte sich dann die Frage anders.
Was änderte das Kind an seiner Beziehung zu Hanne? Nichts. Würde es etwas ändern, wenn sie die Sache geplant hatte? Nein.
Die Situation war die gleiche. Er wusste immer noch nicht, ob er sie liebte oder nicht.
Kurz bevor er spät in der Nacht in einen unruhigen Schlaf fiel, traf er seine Entscheidung. Er musste sich von ihr trennen.
„Hahn, schlechte Nachrichten! Für mich jedenfalls! Heute Morgen kam ein Befehl der sie betrifft. Er ist aus dem Amt V des Reichssicherheitshauptamts und von Brigadeführer Nebe persönlich unterschrieben“, sagte Voecks nach der Begrüßung hinter seinem wuchtigen Schreibtisch hervor, hinter dem er wie immer präsidierte.
Voecks hatte Hahn noch vor Dienstbeginn in sein Büro rufen lassen und wieder saßen sich beide in Voecks Büro gegenüber. Hahn sah seinen Chef sich am Hinterkopf kratzen, als wisse er nicht, wie er weitermachen sollte.
„Gegen was können Sie nichts tun?“, erlöste ihn Hahn und fragte sich, was er mit Amt V zu tun habe? Und mit Nebe? Ob der Devisenfall wieder hoch kam?
„Sie werden mit sofortiger Wirkung zum Amt V des RSHA versetzt. Ins Reichskriminalpolizeiamt, Abteilung VA.“
„Reichskriminalpolizeiamt? Amt VA?“, fragte Hahn verständnislos, während seine Ideen rasten, ohne dass er eine davon fassen konnte.
„Kriminalpolitik“, sagte Voecks und schien seine Augen ergeben an die Decke zu heben.
„Kriminalpolitik?“, wiederholte Hahn, hatte seine Stimme dabei wenigstens so weit im Griff, dass er eine Frage modulieren konnte und sah Voecks dabei verständnislos ins Gesicht. Von Kriminalpolitik verstand er so viel wie von Verbrennungsmotoren. Nichts. „Warum?“
„Woher soll ich das wissen, Hahn?“ Voecks hob hilflos beide Hände, sah ihm ins Gesicht und Hahn hätte beinahe laut gelacht. Voecks war die Ahnungslosigkeit in Person. „Ich wüsste nicht, weswegen sie dem Brigadeführer in letzter Zeit aufgefallen sein sollten. Vielleicht hat die Devisensache doch noch ein Nachspiel. Dann kann ich nichts für sie tun, Hahn. Das konnte ich damals auch nicht und dass sie nicht an der Ostfront gelandet sind, verdanken sie Nebe!“, erklärte Voecks beinahe bedauernd und fuhr dann im gleichen Ton fort. „Sie sollen sich am Montag dem fünfundzwanzigsten Januar, also kommenden Montag, morgens um neun Uhr, bei Brigadeführer Nebe persönlich melden. Eine weitere ungewöhnliche Anordnung, Hahn. Das persönlich melden, meine ich.“
Als sei es der Erklärungen nun genug, sprach Voecks in deutlich dienstlicherem Ton weiter. „Sie haben nur heute und das Wochenende, um ihre Angelegenheiten hier zu regeln“
Hahn war immer noch verwirrt, wusste nicht, was er von diesem Befehl halten sollte, wusste nicht, ob er sich fürchten oder freuen sollte, während er spürte wie sein Reiter sich reckte und streckte und dann hellwach war.
„Nebe selbst hat den Befehl gegeben?“, fragte er dann, wollte das Offensichtliche noch einmal hören. So, als könne er sich dadurch einen Reim darauf machen.
„Er hat unterschrieben. Und in Berlin ist bestimmt mehr los als bei uns. Ich wünsche ihnen Alles Gute, Hahn und denken Sie daran: Sie gehen in die Höhle des Löwen“ Hahn sah wie Voecks ihn nachdenklich anstarrte. „Also, machen sie ihre Übergabe mit Kamenz und packen Sie Ihren Kram zusammen.“
Hahn merkte, dass für Voecks das Gespräch zu Ende war, stand auf und führte die Grußzeremonie durch.
Auch Voecks hatte sich erhoben. „Heil Hitler, Hahn!“
Hahn machte seine Übergabe mit Kamenz, der auf ihn gewartet hatte und ihn die ganze Zeit fettig angrinste. Danach fuhr er in seine Wohnung, um sein bisschen Hab und Gut zu packen. Die Möbel hinterließ er seinem Nachmieter und der Rest fand in drei Koffern Platz.
Mit gemischten Gefühlen war Hahn dann, wie jeden Freitag Abend, mit dem Zug nach Berlin gefahren und hatte sein Zimmer in der Pension bezogen. Am Montag würde er sich im Reichssicherheitshauptamt melden, ein Büro zugewiesen bekommen und vielleicht auch ein möbliertes Zimmer in einer Polizeikaserne.
Ein neues Kapitel seiner beruflichen Laufbahn begann und das war die beste Gelegenheit, mit Hanne reinen Tisch zu machen. Gestern hatte er seinen Entschluss gefasst und die Versetzung bestärkte ihn darin. Er grinste freudig, als er sich vorstellte, wie befreit er aufatmen würde, wenn diese Sache endlich durchgestanden war.
Im Geist übte Hahn, wie er es ihr sagen würde, was er ihr sagen würde und plante das Gespräch, wie er ein Verhör plante. Nicht so fordernd und gewalttätig aber genauso punktgenau und hinterlistig.
Lange stand er vor dem Spiegel auf der Schranktür und übte die Sätze, die er ihr unbedingt sagen würde.
Er stand noch vor dem Spiegel, als es an der Tür klopfte. Hanne stand vor der Tür und umarmte ihn sofort. Er umarmte sie nicht und den Kuss, den sie ihm auf die Lippen drückte, erwiderte er auch nicht.
„Darf ich reinkommen?“, fragte sie und hielt ihn an der Hand. Er nickte und sie drängte sich unbeschwert in den Raum und zog ihn hinter sich her. Hahn schaute ihr dabei verstohlen auf den Bauch, um zu überprüfen, ob schon etwas von dem Kind zu sehen war.
„Setz dich!“, sagte er rau und sie setzte sich auf das Bett, zog ihn sofort neben sich herunter und er versuchte möglichst viel Abstand zu ihr zu behaupten.
Sie sah ihn frei mit ihren großen Augen an, bar jeden Argwohns und er konnte ihrem Blick nicht standhalten, senkte seine Augen auf den Dielenboden, räusperte sich und zögerte doch, zu beginnen. Dann kam Hanne ihm zuvor.
„Ich liebe Dich, Walter“, sagte sie und ihre kraftvollen Worte zwangen ihn, sie anzusehen, nahmen ihm seinen ganzen Mut, sein großes Thema anzuschneiden und ließen ihn die geübten Sätze vergessen.
Ihre Lippen glänzten, als wollten sie ihm ein ganzes Paradies zeigen, aber der Gedanke an sein Vorhaben ließ ihn wieder zu Boden blicken. Er fragte sich, wie er es schaffen sollte, ihr zu sagen, dass es vorbei war, wenn sie ihn mit diesen Augen ansah. Er hatte es schon oft probiert, hatte nie einen Weg gefunden. Und damals ging es nur darum, ihr zu sagen, dass er sie nicht liebte. Jetzt musste er ihr sagen, dass sie ihr Kind an den Lebensborn abgeben könnte, dass er sie nicht heiraten würde, dass sie ihm ein Kind anhängen wollte, um daraus Kapital zu schlagen, dass ihr Leben ruiniert war und dass er sie nicht liebte.
„Was ist mit Dir?“
Er zögerte, kam dann aber mit dem Erstbesten heraus, das ihm einfiel.
„Ich bin nach Berlin versetzt worden, Hanne!“
Ein Freudenschrei und sie hing an seinem Hals. So schnell, dass er nicht einmal an Abwehr denken konnte.
„Ich freu mich so! Du wirst bei mir sein! Wir können uns jeden Abend sehen! Ach, Walter!“, rief sie und drückte sich an ihn, küsste ihn im ganzen Gesicht und er spürte, wie sie ihn flachlegen wollte. Er stemmte sich gegen die Woge weiblicher Freude, aber als sie den Kopf hob und er unabsichtlich doch in ihre eine überirdische Freude ausstrahlenden großen schwarzen Augen sah, fiel der Widerstand in ihm zusammen und er sank rückwärts auf das aufgedeckte Bett.
Übermütig lächelnd hob sie den Kopf und sein Blick wurde von ihren Augen angezogen. In ihnen sah er die ganze Wucht ihrer Begeisterung auf sich konzentriert und konnte nicht anders, als gebannt in die strahlenden Luken ihrer lieben und liebenden Seele zu schauen.
Er konnte es ihr nicht sagen. Nichts davon.
Vielleicht sollte ich nichts tun und alles laufen lassen, dachte er gerade noch, bevor er es laufen ließ, wie Hanne es in ihrem Freudentaumel wollte.
Glossar:
Manstein, Erich von - Deutscher Generalfeldmarschall im Zweiten Weltkrieg, sollte in der Unternehmen "Wintergewitter" den Kessel von Stalingrad entsetzen, was aufgrund zu geringer deutscher Kräfte und des nicht erteilten Ausbruchsbefehls für die eingeschlossenen Soldaten kläglich misslang und zu einer Notsituation an der Ostfront führte. Ein sehr großes Gebiet konnte in der Folge von den Russen zurückerobert werden, bevor Manstein die Heeresgruppe Don wieder stabilisiert hatte.
Nebe, Artur – Reichskriminaldirektor und Leiter des Reichskriminalpolizeiamtes (Amt V des RSHA). Seine Handlungen in dieser Geschichte sind reine Fiktion, seine hochinteressante Person und Geschichte ist historisch.
Oberg, Carl - Oberg war Befehlshaber der Gestapo in Paris, bekämpfte vor allem die Resistance, war an der "Endlösung" beteiligt und erhielt von den Franzosen den Beinamen"Schlächter von Paris"
Reichsheini - Tatsächlich benutzter Spitzname für Heinrich Himmler
Reichssicherheitshauptamt (RSHA) - Die Leitungsbehörde von Sipo, Gestapo und der polizeilichen Aufgaben der SS
SS-Führungshauptamt (SS-FHA) - Dieses Amt war das Hauptquartier der SS. Ihm unterstanden die drei Gliederungen der SS: Allgemeine SS, die Waffen-SS und die Totenkopf-Wachsturmbanne und zusätzlich noch die SS-Junkerschulen