So, dank den fleißigen Kommentatoren konnten endlich die Umbau-, Renovierungs- und Anbauarbeiten an der Geschichte abgeschlossen werden. Wer wissen möchte, wie er den Rohbau fand, kann diesen noch im Archiv bewundern.
Grenzgänger
Jahr 403 der ersten Epoche
Der Vorsommer hatte in Athalem gerade erst begonnen. Die letzten Reste des Schnees waren jedoch noch nicht geschmolzen. Agormis fragte sich, ob er, ebenso wie das schon fast geschmolzene Eis, bald der Vergessenheit zum Opfer fallen würde.
Immer wieder rief er sich ins Gedächtnis, dass er zwar eine kleine, aber eine der stärksten Armeen Gandal’kans in seinem Rücken hatte.
Er war der Hauptmann der Bogenschützen, die das Heer in Richtung der nördlichen Grenzen begleiteten. Von hinten legte sich eine Hand auf Agormis Schulter. Er drehte sich zu seinem Heerführer um.
„Ich weiß, was ihr denkt Hauptmann, aber wir müssen die Männer ruhen lassen.“
„Ja, ich weiß.“
Agormis sah auf ihr Lager hinab und dachte daran, dass gleich hinter den Wäldern die Grenze in den Norden verlief. Sie müssten nur wenige Schritte gehen und sie wären in einem anderen, fremden Land. Einem Land dessen Grenzen der Fürst von Gandal’kan überschreiten wollte.
Der Saum ihres Gewandes raschelte auf dem Boden und ihre Schritte hallten von den steinernen Wänden wider. Der Gang, in den Maryn einbog, war nur mit wenigen Fackeln beleuchtet. Sie brauchte kein Licht, um sich in der Burg zurecht zu finden. Hier war sie geboren und als Kind hatte sie alle nur erdenklichen Winkel erkundet. Nach einigen Schritten sah die Tochter des Fürsten von Gandal’kan einen Lichtschein in dem Halbdunkel auftauchen. Ehrfurcht ergriff Maryn, als sie an ihrem Ziel ankam.
Einer ihrer Vorfahren hatte die Mauer Die Wand der Erinnerung genannt. Der Stein war geschmückt mit den Namen der Helden Gandal’kans. Männer, die in den vergangenen Kriegen tapfer gekämpft hatten. Als Maryn noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte ihr Vater sie auf den Arm gehoben und ihr den Namen ihres Großvaters, den sie nie kennengelernt hatte, auf der Wand gezeigt. Beeindruckt war Maryn den verschlungenen Buchstaben mit ihrem winzigen Finger gefolgt und hatte still der heldenhaften Geschichte gelauscht, die Garlond von seinem Vater erzählte.
„Vater? Warum steht dein Name nicht hier? Du bist doch ebenso tapfer, wie Großvater es war.“
„Weil man dafür tot sein muss.“
Dann verlor sich Maryns Erinnerung in den Nebeln des Vergessens. Sie erinnerte sich aber an das unheimliche Gefühl, das sie spürte, sobald sie vor der Wand stand. Heute war sie nicht mehr das kleine Mädchen auf dem Arm ihres Vaters, sondern die Tochter des Mannes, der ihren Geliebten in den Krieg geschickt hatte.
Sie wusste, weshalb er da war. Er sollte die Männer ihres Vaters in die Schlacht führen. Täglich hatte sie ihn heimlich beobachtet, wie er seine Soldaten darauf vorbereitete zu kämpfen und für Gandal’kan zu sterben. Manchmal, wenn sie sich genug Mut zugesprochen hatte, brachte sie ihm Wasser und wechselte ein paar freundliche - für ihn unbedeutende – Worte mit ihm und fühlte sich als das glücklichste Mädchen in ganz Athalem.
Viel zu schnell kam der Tag, an dem er mit seiner Armee Richtung Norden marschieren musste. Maryn hatte ihnen nachgeblickt, bis die Dunkelheit sich über Gandal’har gelegt hatte. Als dann der Mond sein silbriges Licht in den Hof der Fürstenburg warf, hatte sie den Entschluss gefasst, ihm ihre Liebe zu gestehen, sobald er zurückgekehrt war.
Maryn bangte Tag für Tag um ihren Liebsten. Solange die Sonne am Himmel stand und sie sich um ihre Aufgaben kümmern musste, konnte sie die Angst unterdrücken. Doch in der Nacht, wenn es in der Burg still wurde, trieb sie die Ungewissheit vor die Wand der Erinnerungen, als ob sein Name dort durch Magie erscheinen würde, wenn der Tod ihn zu sich gerufen hätte.
Ihr ließ der Gedanke, dass ihr Geliebter sich auf der Grenze zwischen Leben und Tod befand und am Ende nur ein weiterer Name auf der Wand sein würde, keine Ruhe.
Sie hatten ihr Lager an den Klippen aufgeschlagen, die Zelte standen für den Feind unsichtbar hinter einem kleinen Waldstück. Trotzdem mussten sie jederzeit damit rechnen, gesehen und angegriffen zu werden. Oruc wollte seine Männer ruhen lassen, bevor sie es wagen würden, die Grenze zu überqueren. Sie würden dafür alle Kraft brauchen, die sie bekommen konnten. Für Agormis Geschmack lagerten sie schon viel zu lange und zu Nahe am Norden.
Er kannte sich mit Grenzen aus, denn er war an der Schwelle zwischen Kayro’kan und Aven’kan geboren worden. Er wusste, wie schwer es war, sie zu überwinden. Sein Dorf, Caralmur, lag nicht weit von den Ufern des Caral entfernt. Zu seinem achten Geburtstag hatte er von seinem Vater einen selbstgeschnitzten Bogen geschenkt bekommen, mit dem er Tag für Tag geübt hatte. Zunächst hatte der kleine Junge die Sehne nicht fest genug ziehen können, sodass der Pfeil nicht sehr weit flog. Doch seine Begeisterung für die Waffe hatte nicht nachgelassen. Sein Vater hatte ihn nicht davon abhalten können, solange auf den aufgestellten Holzscheit zu zielen, bis seine kleinen Hände von der Sehne blutig geschnitten worden waren. Seine Mutter hatte ihm Verbände anlegen müssen, während sie seinem Vater Vorwürfe machte, nicht gut genug auf ihren Sohn aufgepasst zu haben. Als Agormis zum Mann wurde, hatte es für ihn nur ein Ziel gegeben. Die Bogenschützen Gandal’kans. Bereitwillig hatte er sich in die Armee des Fürsten aufnehmen lassen. Seitdem hatte er weder sein Dorf noch seine Eltern wiedergesehen.
Maryn konnte es nicht mehr ertragen, die Namen der Gefallenen zu sehen. Sie kehrte der Wand den Rücken zu und wollte zurück in ihr Zimmer gehen, als sie plötzlich ihre Fassung und den Halt verlor. Tränen liefen ihr die Wangen hinab, ihre Knie gaben nach, sodass sie sich anlehnen musste, um nicht zu stürzen. Genau hier war es, als sie ihren Geliebten das letzte Mal gesprochen hatte, bevor sie ihm durch das Tor nachgeblickt hatte.
Sie hatte möglichst rasch an der ‚Wand der Erinnerungen’ vorbeigehen wollen. Maryn konzentrierte sich darauf ihre Füße anzusehen, um nicht die Mauer anschauen zu müssen.
Plötzlich spürte sie, wie sie gegen etwas Warmes prallte. Rasch wollte sie sich entschuldigen und weitereilen, aber als sie den Kopf hob, blickte sie in das paar dunkler Augen, welches ihr schon lange den Schlaf raubte. Es gehörte Oruc, dem Heerführer ihres Vaters. Wie immer, wenn sie ihn sah, fiel ihr nichts ein, was sie sagen könnte.
„Es tut mir Leid“, stammelte Maryn unweigerlich und atemlos, „ich war in Eile.“
„Das habe ich gemerkt.“ Seine Stimme Klang in ihren Ohren warm, wie die Vorsommerwinde.
„Verzeiht mir meine Neugier, was treibt die Tochter Garlonds zu solcher Eile an?“
Ihr erster Gedanke war, ihm zu verschweigen, dass die Wand ihr unheimlich erschien, aber dann sah sie ihn an. Die Fackeln an den Wänden warfen tanzende Schatten auf sein Gesicht und die Flamme spiegelte sich in seinen Augen wieder. Sein dunkler Bart war gerade gekürzt worden, er erschien ihr schöner als je zuvor und sie wusste, dass sie ihn nicht belügen konnte.
„Ich fürchte mich vor der Wand“, flüsterte sie. Ohne dass sie es wollte, war ihre Stimme immer leiser geworden.
„Warum denn? Die Wand zeugt von großen Heldentaten, ruhmreichen Schlachten und sie erhält die Erinnerungen an die Helden Gandal’kans aufrecht.“ Er legte eine Hand auf den Stein.
„Weil man tot sein muss, bevor ein Name dort erscheint.“
„Ja, jedoch muss man heldenhaft gestorben sein. Heldenhaft wie ein Krieger, gefallen in einer Schlacht. Gestorben für Gandal’kan. Auch meine Vorfahren sind hier verewigt und es wäre eine Schande für mich und meine Familie, wenn nicht auch mein Name dort seinen Platz finden würde.“
Eiskalt lief es Maryn den Rücken hinab. Ihr Geliebter Oruc? Tot? Dann würde sie keinen Frieden mehr finden, diesen Gang nicht mehr betreten können, denn sein Name pränge ihr für alle Zeiten von dieser Wand entgegen.
Beinahe erlag sie dem Impuls sich ihm an die Brust zu werfen, um von seinen starken Armen gehalten zu werden. Ihm zu sagen, dass sie es nicht ertrüge, ohne ihn zu leben. Doch sie tat es nicht. Zu groß war die Angst, von ihm abgewiesen zu werden. Sie fasste sich, so wie es für eine Fürstentochter gehörte und antwortete:
„Ihr seid wahrlich ein großer Krieger.“
Maryns Ton war schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Plötzlich war Zorn in ihr entflammt. Sie war wütend auf Oruc, weil er so leichtfertig mit seinem Leben umging, ohne sich dafür zu interessieren, dass es Menschen wie sie gab, die um ihn trauern könnten.
Für die ein Leben ohne ihn sinnlos wäre.
Wütend hatte sie ihre Röcke gerafft und hatte den Heerführer alleine zurück gelassen.
Jetzt aber, wo sie ganz alleine, mitten in der Nacht, in diesem Gang saß, bereute sie ihre Wut. Bereute es, ihm nicht ihre Gefühle gesagt und sich nicht von ihm verabschiedet zu haben.
„Er ist jung und kräftig“, erwiederte sein Gegenüber und trank einen Schluck Wein aus dem schlichten Becher.
„Und er ist unerfahren.“
„Er befehligt schon seit Jahren meine Leibgarde.“ Zufrieden verschränkte Saphenus seine Finger über dem runden Bauch, er wusste, dass er diesen Disput schon gewonnen hatte. Denn sein Geld lag bereits in den Truhen des Fürsten. Nun galt es nur noch sicherzustellen, dass es seinen Zweck auch erfüllte.
Saphenus sah den Herrscher an. Er ist alt geworden, dachte er, als ihm die grauen Strähnen im Haar Garlonds auffielen. Alt, vergesslich und vorallem beeinflussbar.
Garlond nahm ebenfalls einen tiefen Zug aus seinem Becher.
„Eine Leibgarde ist mit meiner Armee gar nicht zu vergleichen.“
„Dann stell’ ihm nur einen kleinen Teil deiner Armee zur Verfügung. Ein paar Dutzend fallen auch weniger auf, wenn sie die Grenze überqueren.“
Der Fürst trank den nächsten Schluck. Er wusste, dass ein großer Teil seiner Armee vom Geld Saphenus’, seinem ersten Ratgeber, bezahlt wurde. Er wollte einen weiteren Zug trinken, stellte aber fest, dass der Becher leer war.
„Wann bekomme ich endlich etwas zu trinken? Meine Kehle ist schon ganz trocken“, herrschte Garlond seinen Mundschenk an, der für die Wünsche seines Herrschers bereit stand und seine Launen kannte.
Er ist wirklich alt geworden, dachte Saphenus zufrieden und als Garlond einen vollen Becher vor sich stehen hatte, sagte er:
„Schön, dass wir uns einig geworden sind. Oruc wird Heerführer.“
„Ja, natürlich. Er ist immerhin dein Sohn“, stimmte Garlond in einem Ton zu, als hätte er Saphenus dazu überreden müssen.
„Und er wird mit einem Teil deiner Armee Richtung Norden marschieren“, stellte Saphenus fest und in Gedanken ergänzte er, und er wird Gandal’kan beweisen, dass du kein Herrscher mehr bist.
Sehr zufrieden mit sich verließ Saphenus das Kaminzimmer, um Oruc das Gelingen seiner Pläne mitzuteilen.
„Du bist der neue Heerführer, mein Sohn.“
„Wirklich?“ Oruc versuchte sich seinen Missmut nicht anmerken zu lassen. Er wusste, dass sein Vater alle Hoffnungen in ihn setzte, den Namen eines weiteren Familienmitglieds auf der Wand der Erinnerungen platzieren zu können und nicht nur das, er wollte Garlonds Platz einnehmen. Und er wusste, dass sein Vater bereit war, dafür alles zu opfern, sogar ihn, wenn es sein musste.
„Und du wirst ein sehr ruhmreicher Heerführer, der erste, der die Grenze nach Norden überqueren wird.“
„Vater, du weißt, dass man dafür eine größere Armee braucht.“
„Du sollst den Norden nicht erobern, sondern nur betreten, Sohn. Das soll kein Krieg sein, sondern nur eine Schlacht, die dir noch zu Lebzeiten schon einen Platz auf der Wand reservieren wird.“ Aufmunternd hatte er seinem Sohn auf die Schulter geklopft und zusammen waren sie den Gang hinab geschritten und nicht hörbar hatte er geflüstert: „Und mir den Fürstentitel.“
„Agormis, ich möchte Euch mit unserem neuen Heerführer bekannt machen.“ Der Fremde hatte sich von seinem Stuhl erhoben, hatte sich förmlich verneigt und sich selbst als Oruc vorgestellt. Agormis erkannte, dass er noch sehr jung war, vielleicht noch jünger als er selbst. Einen Moment lang war er darüber so überrascht, dass er fast vergaß, aufzustehen und sich zu verneigen. Er hoffte, dass seine Verblüffung nicht weiter aufgefallen war.
Der Fürst ergriff wieder das Wort: „Orucs Vorfahren haben Gandal’kan bereits einen großen Dienst erwiesen und haben sich alle auf der ‚Wand der Erinnerung’ verewigen können. Es ist zu erwarten, dass auch er heldenhaft für die Interessen Gandal’kans einstehen wird.“
Der Heerführer verneigte sich nun auch vor Garlond und brachte seine Dankbarkeit zum Ausdruck. In diesem Moment entflammte die Wut in Agormis. Nur, weil dieser Jüngling eine Familie hatte, die sich schon seit Ewigkeiten umbringen ließ, bekam er nun die Verantwortung für die gesamte Armee des Fürsten. Und bis zu einem bestimmten Grad auch über die Bogenschützen und somit auch über Agormis. Dieser aber hatte sich seine Position erkämpfen müssen. Er hatte die Bögen der Schützen spannen, ihre Pfeile neu befiedern, ja, ihnen sogar ihre Köcher hinterher tragen müssen, bevor er ihnen zeigen durfte, wie gut er mit dem Bogen umgehen konnte.
Agormis bemühte sich, seine Gefühle gegenüber Oruc nicht erkennbar werden zu lassen und konzentrierte sich auf die Ausführungen des Fürsten.
„Ihr werdet für mich die Grenzen Gandal’kans überschreiten. Die Nördlichen …“
„Sie werden das nicht so einfach zulassen“, gab Oruc zu bedenken. Agormis gefiel es nicht, wie der Jüngling es wagte den Fürsten zu unterbrechen. Noch weniger gefiel ihm, dass Garlond ihn gewähren ließ.
„Deshalb werdet Ihr sie überraschen. Mit einem kleinen Heer könnt ihr unauffällig die Grenze überwinden. Sie werden die Gefahr nicht kommen sehen. Ihr werdet meine Männer so gut ausbilden, dass Ihr auch mit wenigen einiges ausrichten könnt.“
Der Hauptmann zweifelte daran, ob die Pläne des Fürsten so einfach durchzuführen waren, wie dieser es darstellte. Aber die Grenzen der Höflichkeit verboten es, ihm und Oruc zu widersprechen. Den beiden Männern war nichts anderes übrig geblieben, als ergeben zu nicken und sich in ihr Schicksal zu fügen.
Agormis schreckte aus seinen Gedanken hoch, als er spürte, dass jemand neben ihm saß. Er fragte sich, wie lange Oruc wohl schon dort war, es war ihm jedoch eigentlich nicht wichtig.
„Machst du dir auch Sorgen, wegen dem, was bevorsteht?“, fragte der Heerführer unvermittelt.
„Ja“, antwortete Agormis knapp, er verschwieg, dass dies nicht der Grund seiner Schlaflosigkeit war.
„Um ehrlich zu sein, mache ich mir schon lange Sorgen. Seit dem Tag, als ich zum Heerführer ernannt wurde.“
„Wirklich?“ Plötzlich spürte Agormis seine Müdigkeit, stärker als jemals zuvor in dieser Nacht. Er fühlte sich nicht wach genug, für solch ein Gespräch. Er wollte nicht unhöflich sein, sondern einfach abwarten, was Oruc zu erzählen hatte.
„Natürlich. Denn eigentlich wollte ich diesen Posten gar nicht. Aber meine Familie verewigt sich schon seit Generationen auf dieser Wand und erwartet dasselbe von mir.“Er seufzte. „Ich darf meinen Vater nicht enttäuschen.“
„Nun, ich bin nur zur Armee gegangen, weil ich ein recht guter Bogenschütze bin und eigentlich nichts anderes kann. Als der Hauptmann starb, musste ich seinen Platz einnehmen. Plötzlich schien die Welt zu groß für mich zu sein.“ Agormis starrte in die Flammen und versuchte die Gefühle aus der Vergangenheit möglichst dort zu lassen.
„Jetzt versuche ich einfach lange genug zu leben, um irgendwann meine Heimat und meine Familie wiederzusehen.“ Plötzlich war seine Müdigkeit verflogen.
Sie saßen wortlos nebeneinander, bis sich die Sonne blutrot am Horizont zeigte. Oruc erhob sich als Erster, legte eine Hand auf Agormis Schulter und sagte: „Das ist nicht der Krieg, nur eine Schlacht.“
„Auch in einer Schlacht kann man sein Leben verlieren“, entgegnete Agormis, dann erhob er sich ebenfalls.
Fassungslos stand Maryn vor der Wand der Erinnerungen. Wie betäubt sah sie dem Steinmetz zu, der Meißel und Hammer erhob, um auf den Steinen einen weiteren Namen unvergesslich werden zu lassen. Tränen flossen an ihren Wangen hinab. Sie wusste, dass sie als Fürstentochter nicht weinen durfte, aber sie konnte es nicht verhindern. Zu viele Nächte waren vergangen, in denen sie schlaflos durch die Burg gewandelt war, unentwegt hoffend, dass ihr Geliebter zu ihr zurückkehren würde.
Tränenverschleiert sah Maryn, wie sich der Meißel senkte, den ersten Buchstaben des Namens formte und hinter der kräftigen Hand des Steinmetzes ein A für aller Augen sichtbar wurde.
Maryn wusste nicht einmal, weshalb sie weinte. Sie war erleichtert, dass Oruc heimgekehrt war, aber er hatte einen hohen Preis dafür zahlen müssen. Schon als er den Burghof betreten hatte, wusste sie, dass seine Gedanken noch immer an den Grenzen weilten, nicht nur an denen des Landes, sondern an den Grenzen seines Verstandes. Sie hatte ihm ihre Liebe gestehen wollen, doch seine Augen sahen sie nicht. Oruc war zwar wieder bei ihr, aber nun war sie weiter von ihm entfernt, als je zuvor. Sein Blick erschien ebenso gebrochen zu sein, wie die Augen der Gefallenen.
Ihr Vater stützte sich schwer und realitätsvergessend auf ihren Arm, auch sein Blick wanderte immerwieder in weit entfernte Ewigkeiten. Sein Verstand und sein Körper zerfallen, dachte Maryn während sie versuchte ihre Tränen zu trocknen. Ihr Blick ging weiter zu Saphenus, Orucs Vater. Seine Miene war verschlossen und Maryn konnte sie nicht deuten. Er kann zufrieden sein. Sein Sohn ist zurück und sein Einfluss auf Vater wird von Tag zu Tag stärker und ich kann nichts dagegen tun.
Hilflosigkeit breitete sich in ihr aus und sie wusste, sie weinte aus Hoffnungslosigkeit.
Sie ließ die Männer hinter sich und blieb erst stehen, als ein kühler Luftzug ihr tränennasses Gesicht streifte. Maryn sah zum Fenster hinaus in den Burghof. Es begann zu schneien.
Der letzte Schnee des Winters fiel auf die blutgetränkte Erde Athalems, auf die Gefallenen Gandal’kans und des Nordens. Für ihn gab es keine Grenzen und keinen Sieger dieser Schlacht. Er bedeckte die Toten beider Seiten.
Grenzgänger
Jahr 403 der ersten Epoche
Der Vorsommer hatte in Athalem gerade erst begonnen. Die letzten Reste des Schnees waren jedoch noch nicht geschmolzen. Agormis fragte sich, ob er, ebenso wie das schon fast geschmolzene Eis, bald der Vergessenheit zum Opfer fallen würde.
Immer wieder rief er sich ins Gedächtnis, dass er zwar eine kleine, aber eine der stärksten Armeen Gandal’kans in seinem Rücken hatte.
Er war der Hauptmann der Bogenschützen, die das Heer in Richtung der nördlichen Grenzen begleiteten. Von hinten legte sich eine Hand auf Agormis Schulter. Er drehte sich zu seinem Heerführer um.
„Ich weiß, was ihr denkt Hauptmann, aber wir müssen die Männer ruhen lassen.“
„Ja, ich weiß.“
Agormis sah auf ihr Lager hinab und dachte daran, dass gleich hinter den Wäldern die Grenze in den Norden verlief. Sie müssten nur wenige Schritte gehen und sie wären in einem anderen, fremden Land. Einem Land dessen Grenzen der Fürst von Gandal’kan überschreiten wollte.
Der Saum ihres Gewandes raschelte auf dem Boden und ihre Schritte hallten von den steinernen Wänden wider. Der Gang, in den Maryn einbog, war nur mit wenigen Fackeln beleuchtet. Sie brauchte kein Licht, um sich in der Burg zurecht zu finden. Hier war sie geboren und als Kind hatte sie alle nur erdenklichen Winkel erkundet. Nach einigen Schritten sah die Tochter des Fürsten von Gandal’kan einen Lichtschein in dem Halbdunkel auftauchen. Ehrfurcht ergriff Maryn, als sie an ihrem Ziel ankam.
Einer ihrer Vorfahren hatte die Mauer Die Wand der Erinnerung genannt. Der Stein war geschmückt mit den Namen der Helden Gandal’kans. Männer, die in den vergangenen Kriegen tapfer gekämpft hatten. Als Maryn noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte ihr Vater sie auf den Arm gehoben und ihr den Namen ihres Großvaters, den sie nie kennengelernt hatte, auf der Wand gezeigt. Beeindruckt war Maryn den verschlungenen Buchstaben mit ihrem winzigen Finger gefolgt und hatte still der heldenhaften Geschichte gelauscht, die Garlond von seinem Vater erzählte.
„Vater? Warum steht dein Name nicht hier? Du bist doch ebenso tapfer, wie Großvater es war.“
„Weil man dafür tot sein muss.“
Dann verlor sich Maryns Erinnerung in den Nebeln des Vergessens. Sie erinnerte sich aber an das unheimliche Gefühl, das sie spürte, sobald sie vor der Wand stand. Heute war sie nicht mehr das kleine Mädchen auf dem Arm ihres Vaters, sondern die Tochter des Mannes, der ihren Geliebten in den Krieg geschickt hatte.
Sie wusste, weshalb er da war. Er sollte die Männer ihres Vaters in die Schlacht führen. Täglich hatte sie ihn heimlich beobachtet, wie er seine Soldaten darauf vorbereitete zu kämpfen und für Gandal’kan zu sterben. Manchmal, wenn sie sich genug Mut zugesprochen hatte, brachte sie ihm Wasser und wechselte ein paar freundliche - für ihn unbedeutende – Worte mit ihm und fühlte sich als das glücklichste Mädchen in ganz Athalem.
Viel zu schnell kam der Tag, an dem er mit seiner Armee Richtung Norden marschieren musste. Maryn hatte ihnen nachgeblickt, bis die Dunkelheit sich über Gandal’har gelegt hatte. Als dann der Mond sein silbriges Licht in den Hof der Fürstenburg warf, hatte sie den Entschluss gefasst, ihm ihre Liebe zu gestehen, sobald er zurückgekehrt war.
Maryn bangte Tag für Tag um ihren Liebsten. Solange die Sonne am Himmel stand und sie sich um ihre Aufgaben kümmern musste, konnte sie die Angst unterdrücken. Doch in der Nacht, wenn es in der Burg still wurde, trieb sie die Ungewissheit vor die Wand der Erinnerungen, als ob sein Name dort durch Magie erscheinen würde, wenn der Tod ihn zu sich gerufen hätte.
Ihr ließ der Gedanke, dass ihr Geliebter sich auf der Grenze zwischen Leben und Tod befand und am Ende nur ein weiterer Name auf der Wand sein würde, keine Ruhe.
Sie hatten ihr Lager an den Klippen aufgeschlagen, die Zelte standen für den Feind unsichtbar hinter einem kleinen Waldstück. Trotzdem mussten sie jederzeit damit rechnen, gesehen und angegriffen zu werden. Oruc wollte seine Männer ruhen lassen, bevor sie es wagen würden, die Grenze zu überqueren. Sie würden dafür alle Kraft brauchen, die sie bekommen konnten. Für Agormis Geschmack lagerten sie schon viel zu lange und zu Nahe am Norden.
Er kannte sich mit Grenzen aus, denn er war an der Schwelle zwischen Kayro’kan und Aven’kan geboren worden. Er wusste, wie schwer es war, sie zu überwinden. Sein Dorf, Caralmur, lag nicht weit von den Ufern des Caral entfernt. Zu seinem achten Geburtstag hatte er von seinem Vater einen selbstgeschnitzten Bogen geschenkt bekommen, mit dem er Tag für Tag geübt hatte. Zunächst hatte der kleine Junge die Sehne nicht fest genug ziehen können, sodass der Pfeil nicht sehr weit flog. Doch seine Begeisterung für die Waffe hatte nicht nachgelassen. Sein Vater hatte ihn nicht davon abhalten können, solange auf den aufgestellten Holzscheit zu zielen, bis seine kleinen Hände von der Sehne blutig geschnitten worden waren. Seine Mutter hatte ihm Verbände anlegen müssen, während sie seinem Vater Vorwürfe machte, nicht gut genug auf ihren Sohn aufgepasst zu haben. Als Agormis zum Mann wurde, hatte es für ihn nur ein Ziel gegeben. Die Bogenschützen Gandal’kans. Bereitwillig hatte er sich in die Armee des Fürsten aufnehmen lassen. Seitdem hatte er weder sein Dorf noch seine Eltern wiedergesehen.
Maryn konnte es nicht mehr ertragen, die Namen der Gefallenen zu sehen. Sie kehrte der Wand den Rücken zu und wollte zurück in ihr Zimmer gehen, als sie plötzlich ihre Fassung und den Halt verlor. Tränen liefen ihr die Wangen hinab, ihre Knie gaben nach, sodass sie sich anlehnen musste, um nicht zu stürzen. Genau hier war es, als sie ihren Geliebten das letzte Mal gesprochen hatte, bevor sie ihm durch das Tor nachgeblickt hatte.
Sie hatte möglichst rasch an der ‚Wand der Erinnerungen’ vorbeigehen wollen. Maryn konzentrierte sich darauf ihre Füße anzusehen, um nicht die Mauer anschauen zu müssen.
Plötzlich spürte sie, wie sie gegen etwas Warmes prallte. Rasch wollte sie sich entschuldigen und weitereilen, aber als sie den Kopf hob, blickte sie in das paar dunkler Augen, welches ihr schon lange den Schlaf raubte. Es gehörte Oruc, dem Heerführer ihres Vaters. Wie immer, wenn sie ihn sah, fiel ihr nichts ein, was sie sagen könnte.
„Es tut mir Leid“, stammelte Maryn unweigerlich und atemlos, „ich war in Eile.“
„Das habe ich gemerkt.“ Seine Stimme Klang in ihren Ohren warm, wie die Vorsommerwinde.
„Verzeiht mir meine Neugier, was treibt die Tochter Garlonds zu solcher Eile an?“
Ihr erster Gedanke war, ihm zu verschweigen, dass die Wand ihr unheimlich erschien, aber dann sah sie ihn an. Die Fackeln an den Wänden warfen tanzende Schatten auf sein Gesicht und die Flamme spiegelte sich in seinen Augen wieder. Sein dunkler Bart war gerade gekürzt worden, er erschien ihr schöner als je zuvor und sie wusste, dass sie ihn nicht belügen konnte.
„Ich fürchte mich vor der Wand“, flüsterte sie. Ohne dass sie es wollte, war ihre Stimme immer leiser geworden.
„Warum denn? Die Wand zeugt von großen Heldentaten, ruhmreichen Schlachten und sie erhält die Erinnerungen an die Helden Gandal’kans aufrecht.“ Er legte eine Hand auf den Stein.
„Weil man tot sein muss, bevor ein Name dort erscheint.“
„Ja, jedoch muss man heldenhaft gestorben sein. Heldenhaft wie ein Krieger, gefallen in einer Schlacht. Gestorben für Gandal’kan. Auch meine Vorfahren sind hier verewigt und es wäre eine Schande für mich und meine Familie, wenn nicht auch mein Name dort seinen Platz finden würde.“
Eiskalt lief es Maryn den Rücken hinab. Ihr Geliebter Oruc? Tot? Dann würde sie keinen Frieden mehr finden, diesen Gang nicht mehr betreten können, denn sein Name pränge ihr für alle Zeiten von dieser Wand entgegen.
Beinahe erlag sie dem Impuls sich ihm an die Brust zu werfen, um von seinen starken Armen gehalten zu werden. Ihm zu sagen, dass sie es nicht ertrüge, ohne ihn zu leben. Doch sie tat es nicht. Zu groß war die Angst, von ihm abgewiesen zu werden. Sie fasste sich, so wie es für eine Fürstentochter gehörte und antwortete:
„Ihr seid wahrlich ein großer Krieger.“
Maryns Ton war schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Plötzlich war Zorn in ihr entflammt. Sie war wütend auf Oruc, weil er so leichtfertig mit seinem Leben umging, ohne sich dafür zu interessieren, dass es Menschen wie sie gab, die um ihn trauern könnten.
Für die ein Leben ohne ihn sinnlos wäre.
Wütend hatte sie ihre Röcke gerafft und hatte den Heerführer alleine zurück gelassen.
Jetzt aber, wo sie ganz alleine, mitten in der Nacht, in diesem Gang saß, bereute sie ihre Wut. Bereute es, ihm nicht ihre Gefühle gesagt und sich nicht von ihm verabschiedet zu haben.
***
„Er ist zu jung!“ Fürst Garlond hatte mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Sie saßen im Kaminzimmer, dem Raum, in dem Garlond es bevorzugte, seine Gäste zu empfangen. Die Teppiche an den Wänden repräsentierten angemessen seinen Titel.„Er ist jung und kräftig“, erwiederte sein Gegenüber und trank einen Schluck Wein aus dem schlichten Becher.
„Und er ist unerfahren.“
„Er befehligt schon seit Jahren meine Leibgarde.“ Zufrieden verschränkte Saphenus seine Finger über dem runden Bauch, er wusste, dass er diesen Disput schon gewonnen hatte. Denn sein Geld lag bereits in den Truhen des Fürsten. Nun galt es nur noch sicherzustellen, dass es seinen Zweck auch erfüllte.
Saphenus sah den Herrscher an. Er ist alt geworden, dachte er, als ihm die grauen Strähnen im Haar Garlonds auffielen. Alt, vergesslich und vorallem beeinflussbar.
Garlond nahm ebenfalls einen tiefen Zug aus seinem Becher.
„Eine Leibgarde ist mit meiner Armee gar nicht zu vergleichen.“
„Dann stell’ ihm nur einen kleinen Teil deiner Armee zur Verfügung. Ein paar Dutzend fallen auch weniger auf, wenn sie die Grenze überqueren.“
Der Fürst trank den nächsten Schluck. Er wusste, dass ein großer Teil seiner Armee vom Geld Saphenus’, seinem ersten Ratgeber, bezahlt wurde. Er wollte einen weiteren Zug trinken, stellte aber fest, dass der Becher leer war.
„Wann bekomme ich endlich etwas zu trinken? Meine Kehle ist schon ganz trocken“, herrschte Garlond seinen Mundschenk an, der für die Wünsche seines Herrschers bereit stand und seine Launen kannte.
Er ist wirklich alt geworden, dachte Saphenus zufrieden und als Garlond einen vollen Becher vor sich stehen hatte, sagte er:
„Schön, dass wir uns einig geworden sind. Oruc wird Heerführer.“
„Ja, natürlich. Er ist immerhin dein Sohn“, stimmte Garlond in einem Ton zu, als hätte er Saphenus dazu überreden müssen.
„Und er wird mit einem Teil deiner Armee Richtung Norden marschieren“, stellte Saphenus fest und in Gedanken ergänzte er, und er wird Gandal’kan beweisen, dass du kein Herrscher mehr bist.
Sehr zufrieden mit sich verließ Saphenus das Kaminzimmer, um Oruc das Gelingen seiner Pläne mitzuteilen.
„Du bist der neue Heerführer, mein Sohn.“
„Wirklich?“ Oruc versuchte sich seinen Missmut nicht anmerken zu lassen. Er wusste, dass sein Vater alle Hoffnungen in ihn setzte, den Namen eines weiteren Familienmitglieds auf der Wand der Erinnerungen platzieren zu können und nicht nur das, er wollte Garlonds Platz einnehmen. Und er wusste, dass sein Vater bereit war, dafür alles zu opfern, sogar ihn, wenn es sein musste.
„Und du wirst ein sehr ruhmreicher Heerführer, der erste, der die Grenze nach Norden überqueren wird.“
„Vater, du weißt, dass man dafür eine größere Armee braucht.“
„Du sollst den Norden nicht erobern, sondern nur betreten, Sohn. Das soll kein Krieg sein, sondern nur eine Schlacht, die dir noch zu Lebzeiten schon einen Platz auf der Wand reservieren wird.“ Aufmunternd hatte er seinem Sohn auf die Schulter geklopft und zusammen waren sie den Gang hinab geschritten und nicht hörbar hatte er geflüstert: „Und mir den Fürstentitel.“
***
Es war üblich, dass die Anführer nicht nur gemeinsam entschieden, sondern auch gemeinsam ruhten. Agormis konnte nicht schlafen, was aber nicht an der bevorstehenden Schlacht lag, sondern daran, das Oruc sich im Schlaf unentwegt hin und her wälzte. Sie hatten ihre Betttücher mit frischem Stroh gefüllt, welches nun ständig unter dem Gewicht des Heerführers raschelte. Agormis seufzte und erhob sich. Er trat vor das Zelt, um sich von der kühlen Nachtluft von seiner Schlaflosigkeit ablenken zu lassen. Er hörte das Knistern des Feuers, lautes Schnarchen aus den Zelten in der Nähe und von Zeit zu Zeit flüsternde Stimmen von ebenso schlaflosen Männern. Der Hauptmann setzte sich ans Feuer und versenkte seine Gedanken in den lodernden Flammen. Er dachte daran, wie sie einander am Hofe des Fürsten vorgestellt worden waren, bevor sie ihre Anweisungen von ihm erhielten.„Agormis, ich möchte Euch mit unserem neuen Heerführer bekannt machen.“ Der Fremde hatte sich von seinem Stuhl erhoben, hatte sich förmlich verneigt und sich selbst als Oruc vorgestellt. Agormis erkannte, dass er noch sehr jung war, vielleicht noch jünger als er selbst. Einen Moment lang war er darüber so überrascht, dass er fast vergaß, aufzustehen und sich zu verneigen. Er hoffte, dass seine Verblüffung nicht weiter aufgefallen war.
Der Fürst ergriff wieder das Wort: „Orucs Vorfahren haben Gandal’kan bereits einen großen Dienst erwiesen und haben sich alle auf der ‚Wand der Erinnerung’ verewigen können. Es ist zu erwarten, dass auch er heldenhaft für die Interessen Gandal’kans einstehen wird.“
Der Heerführer verneigte sich nun auch vor Garlond und brachte seine Dankbarkeit zum Ausdruck. In diesem Moment entflammte die Wut in Agormis. Nur, weil dieser Jüngling eine Familie hatte, die sich schon seit Ewigkeiten umbringen ließ, bekam er nun die Verantwortung für die gesamte Armee des Fürsten. Und bis zu einem bestimmten Grad auch über die Bogenschützen und somit auch über Agormis. Dieser aber hatte sich seine Position erkämpfen müssen. Er hatte die Bögen der Schützen spannen, ihre Pfeile neu befiedern, ja, ihnen sogar ihre Köcher hinterher tragen müssen, bevor er ihnen zeigen durfte, wie gut er mit dem Bogen umgehen konnte.
Agormis bemühte sich, seine Gefühle gegenüber Oruc nicht erkennbar werden zu lassen und konzentrierte sich auf die Ausführungen des Fürsten.
„Ihr werdet für mich die Grenzen Gandal’kans überschreiten. Die Nördlichen …“
„Sie werden das nicht so einfach zulassen“, gab Oruc zu bedenken. Agormis gefiel es nicht, wie der Jüngling es wagte den Fürsten zu unterbrechen. Noch weniger gefiel ihm, dass Garlond ihn gewähren ließ.
„Deshalb werdet Ihr sie überraschen. Mit einem kleinen Heer könnt ihr unauffällig die Grenze überwinden. Sie werden die Gefahr nicht kommen sehen. Ihr werdet meine Männer so gut ausbilden, dass Ihr auch mit wenigen einiges ausrichten könnt.“
Der Hauptmann zweifelte daran, ob die Pläne des Fürsten so einfach durchzuführen waren, wie dieser es darstellte. Aber die Grenzen der Höflichkeit verboten es, ihm und Oruc zu widersprechen. Den beiden Männern war nichts anderes übrig geblieben, als ergeben zu nicken und sich in ihr Schicksal zu fügen.
Agormis schreckte aus seinen Gedanken hoch, als er spürte, dass jemand neben ihm saß. Er fragte sich, wie lange Oruc wohl schon dort war, es war ihm jedoch eigentlich nicht wichtig.
„Machst du dir auch Sorgen, wegen dem, was bevorsteht?“, fragte der Heerführer unvermittelt.
„Ja“, antwortete Agormis knapp, er verschwieg, dass dies nicht der Grund seiner Schlaflosigkeit war.
„Um ehrlich zu sein, mache ich mir schon lange Sorgen. Seit dem Tag, als ich zum Heerführer ernannt wurde.“
„Wirklich?“ Plötzlich spürte Agormis seine Müdigkeit, stärker als jemals zuvor in dieser Nacht. Er fühlte sich nicht wach genug, für solch ein Gespräch. Er wollte nicht unhöflich sein, sondern einfach abwarten, was Oruc zu erzählen hatte.
„Natürlich. Denn eigentlich wollte ich diesen Posten gar nicht. Aber meine Familie verewigt sich schon seit Generationen auf dieser Wand und erwartet dasselbe von mir.“Er seufzte. „Ich darf meinen Vater nicht enttäuschen.“
„Nun, ich bin nur zur Armee gegangen, weil ich ein recht guter Bogenschütze bin und eigentlich nichts anderes kann. Als der Hauptmann starb, musste ich seinen Platz einnehmen. Plötzlich schien die Welt zu groß für mich zu sein.“ Agormis starrte in die Flammen und versuchte die Gefühle aus der Vergangenheit möglichst dort zu lassen.
„Jetzt versuche ich einfach lange genug zu leben, um irgendwann meine Heimat und meine Familie wiederzusehen.“ Plötzlich war seine Müdigkeit verflogen.
Sie saßen wortlos nebeneinander, bis sich die Sonne blutrot am Horizont zeigte. Oruc erhob sich als Erster, legte eine Hand auf Agormis Schulter und sagte: „Das ist nicht der Krieg, nur eine Schlacht.“
„Auch in einer Schlacht kann man sein Leben verlieren“, entgegnete Agormis, dann erhob er sich ebenfalls.
Fassungslos stand Maryn vor der Wand der Erinnerungen. Wie betäubt sah sie dem Steinmetz zu, der Meißel und Hammer erhob, um auf den Steinen einen weiteren Namen unvergesslich werden zu lassen. Tränen flossen an ihren Wangen hinab. Sie wusste, dass sie als Fürstentochter nicht weinen durfte, aber sie konnte es nicht verhindern. Zu viele Nächte waren vergangen, in denen sie schlaflos durch die Burg gewandelt war, unentwegt hoffend, dass ihr Geliebter zu ihr zurückkehren würde.
Tränenverschleiert sah Maryn, wie sich der Meißel senkte, den ersten Buchstaben des Namens formte und hinter der kräftigen Hand des Steinmetzes ein A für aller Augen sichtbar wurde.
Maryn wusste nicht einmal, weshalb sie weinte. Sie war erleichtert, dass Oruc heimgekehrt war, aber er hatte einen hohen Preis dafür zahlen müssen. Schon als er den Burghof betreten hatte, wusste sie, dass seine Gedanken noch immer an den Grenzen weilten, nicht nur an denen des Landes, sondern an den Grenzen seines Verstandes. Sie hatte ihm ihre Liebe gestehen wollen, doch seine Augen sahen sie nicht. Oruc war zwar wieder bei ihr, aber nun war sie weiter von ihm entfernt, als je zuvor. Sein Blick erschien ebenso gebrochen zu sein, wie die Augen der Gefallenen.
Ihr Vater stützte sich schwer und realitätsvergessend auf ihren Arm, auch sein Blick wanderte immerwieder in weit entfernte Ewigkeiten. Sein Verstand und sein Körper zerfallen, dachte Maryn während sie versuchte ihre Tränen zu trocknen. Ihr Blick ging weiter zu Saphenus, Orucs Vater. Seine Miene war verschlossen und Maryn konnte sie nicht deuten. Er kann zufrieden sein. Sein Sohn ist zurück und sein Einfluss auf Vater wird von Tag zu Tag stärker und ich kann nichts dagegen tun.
Hilflosigkeit breitete sich in ihr aus und sie wusste, sie weinte aus Hoffnungslosigkeit.
Sie ließ die Männer hinter sich und blieb erst stehen, als ein kühler Luftzug ihr tränennasses Gesicht streifte. Maryn sah zum Fenster hinaus in den Burghof. Es begann zu schneien.
Der letzte Schnee des Winters fiel auf die blutgetränkte Erde Athalems, auf die Gefallenen Gandal’kans und des Nordens. Für ihn gab es keine Grenzen und keinen Sieger dieser Schlacht. Er bedeckte die Toten beider Seiten.
Wer nicht kann, was er will, muss das wollen, was er kann. Denn das zu wollen, was er nicht kann, wäre töricht. -Leonardo da Vinci-
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