Zitat:Quersumme / dominant / abgelaicht / entrümpeln / Habseligkeit
Manchmal sehe ich einfach zu und staune, während die Welt sich unermüdlich weiterwindet. Das ist meist, wenn ich neben Stefan auf der Dachterrasse hocke und wir schweigend auf die Stadt hinunterstarren. Wenn sich der Tag als verschwimmender Farbenschleier über die spiegelnden Fassaden legt und irgendwo in den Köpfen der Menschen verschwindet, zur Erinnerung wird, während die Fensterquadrate aufflammen.
Wenn Stefan zuhört, obwohl ich nichts erzähle, und so viel versteht, dass ich dann doch anfange zu sprechen.
"Du Stefan", sage ich. "Was ist dahinter?"
Und Stefan, dessen zusammengeklappte Magerheit in seiner Hängematte verschwindet wie darin
abgelaicht, beugt sich zu dem Getränkekasten hinunter.
"Auch 'n Bier?", fragt er, obwohl ich nie eines nehme. Aber er fragt eigentlich nicht, sondern denkt nach. Ich beobachte ihn, wie er wiederum seine Bierflasche beobachtet, in der sich die Silberfäden des Abend verspinnen. Und wie immer denke ich, dass ich ihm das eigentlich mal sagen müsste:
Du Stefan, du kannst gut nachdenken. Die Leute, die sagen, du bist ein asozialer Penner, der nichts taugt, haben keine Ahnung. Es ist mir egal, ob du weißt, was eine Quersumme ist - du hast andere Antworten, die wichtiger sind.
"Ich habe meinen Philosophielehrer gefragt", erzähle ich und sehe zu, wie Stefan die Flasche in seinen Händen dreht. "Der hat nur gesagt, es gäbe viele Vorstellungen von dem Leben nach dem Tod und von Erkenntnis. Er hatte keine Antwort."
"Is' 'n Pauker", antwortet Stefan und blinzelt in den Abendhimmel. "Der hat nicht gecheckt, was du meinst, Kleine. Aber ich glaub', ich weiß es."
Er streckt den Arm aus, den ohne Bierflasche, und deutet hinaus. Das Hochhaus, das seinem Fingerzeig im Weg ist, hat keine Bedeutung - Stefan zeigt einfach ins Nichts.
"Dahinter", meint er, "is' 'ne ganze Menge. Glaub' ich. Muss ja. Irgendetwas, was vor all den Beamten und Leuten war, die die Stadt gebaut haben. Vor allem, weißt du?"
"Noch vor den ersten Menschen?"
"Ja klar, Kleine!" Stefan setzt die Bierflasche an die Lippen, lächelt durch das grüne Glas hindurch. "Bevor eben alle Menschen kamen und Tiere ausrotteten und die Natur zerstörten und so."
"Bevor der homo sapiens die
dominante Spezies wurde", fasse ich seine Worte stolz in aufgelesene Fremdwörter zusammen.
"Klingt gut. Haste das inner Penne gelernt?"
Ich nicke. "Und aus Büchern."
"Klingt echt verdammt intelligent. Wirklich, Kleine, du bist pfiffig, das solltest du ausnutzen."
Ich verberge mein Gesicht verlegen im flammenden Abendlicht, sehe hinunter und höre, wie Stefan wieder einen großen Schluck nimmt. Und wir schweigen. Wie immer.
"Du Stefan", breche ich erneut die Großstadtstille mit all ihrem Gehupe und Gerede. "Glaubst du wirklich, all das ist noch dahinter? Also, ist es immer noch da?"
Stefan zuckt mit den Achseln.
"Müsste man nachgucken." Er beginnt zu schaukeln, eine hagere Klappgestalt in einem aufgehängten Fetzen ehemals gelben Stoffs. Mit jedem Schwung stößt sein löchriger Schuh gegen den Bierkasten, ein leises Klacken auf dem Plastik.
"Du Stefan, lass uns nachgucken gehen", schlage ich vor. Mein Gesicht badet in dem letzten Schein vor der Dunkelheit und schlägt sich in meinen Gedanken als wunderbare Vision nieder: Auf Reisen, weg von der Stadt - statt darüber eben dahinter. Stefan und ich, wie immer. Mit einem Kasten Bier. Ich lächele.
"Klar, warum nich'?" Stefan nickt ernst. "Wir brauchen nich' viel."
Er weist mit einer ausladenden Geste auf seine
Habseligkeiten, die auf der Dachterrasse verstreut liegen. Es ist tatsächlich nicht viel, wenn man im Geist die Terrasse
entrümpelt: Das ausgeblichene Portemonnaie, in dem wie durch Zauberhand immer genug Geld für den Getränkemarkt und McDonalds ist, die Sammlung zerkratzter Buttons mit angeberischen Sprüchen, die einen Großteil von Stefans Englischkenntnissen ausmachen, der nietenreiche Ledermantel, auf dem wir mit Kreide schon so oft Tic-Tac-Toe gespielt haben, ...
"Wann gehen wir los?", frage ich.
Stefan schaukelt und nippt an dem Bier, schaukelt und sieht auf die Stadt hinunter, schaukelt und seufzt:
"Wir sind doch schon da."