Die Geschichte von Blir – Kapitel 4: Eine stürmische Nacht
Prolog Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4
Wie ein Hagelschauer schlugen die Regentropfen gegen die Fenster des gräflichen Schlafgemachs und rissen Níso aus dem Schlaf. Erschrocken blickte er sich um und atmete erleichtert auf, als er die Regentropfen als Ursache des Lärms ausgemacht hatte. Er wollte sich gerade wieder hinlegen, als es mehrmals an der Tür klopfte. Sie öffnete sich einen Spalt breit und Insuljos Stimme erklang von der anderen Seite.
„Mein Graf, Ihr müsst schnell mitkommen. Es ist wichtig!“
Der Graf rappelte sich auf und schob das weiße Laken beiseite.
„Was ist los?“, fragte er seinen Hofmeister, der nun ungefragt eintrat. In seiner Rechten hielt er eine schmiedeeiserne Laterne und sein Kopf war mit einer durchnässten Kapuze bedeckt.
„Draußen vor dem Tor … da sind Reiter aus Kalnion mein Herr!“, erwiderte Insuljo verängstigt.
Der Graf wollte etwas sagen, doch das Wort blieb ihm im Hals stecken. Er schüttelte verwirrt den Kopf und erlangte schließlich seine Fassung wieder.
„Nein, das ist unmöglich. Woher … woher sollten sie davon wissen? Niemand weiß es“, sagte Níso ratlos. Von plötzlicher Panik ergriffen stolperte der Graf aus dem Bett und schlang sich seinen Leinenwams um den Körper, doch Insuljo kramte bereits einen grauen Wollmantel hervor und hielt ihn Níso entgegen. Dankbar nahm er ihn an und streifte ihn anstelle des Wamses über. Auf dem Weg zur Tür schlüpfte er noch in seine Stiefel und fand sich wenige Augenblicke später auf dem langen Gang wieder, der zum Burghof führte.
„Wann sind sie gekommen? Die Reiter?“, fragte Níso und brach das beklemmende Schweigen.
„Eben gerade, nachdem ich geweckt wurde und mich selbst von der Ankunft der Reiter überzeugt hatte, kam ich direkt zu Euch“, antwortete Insuljo und seine Stimme klang wieder so selbstbewusst wie immer.
„Sie warten jetzt schon zwanzig oder dreißig Minuten da draußen? Verdammt, wie konntet Ihr das zulassen?“, erwiderte der Graf verärgert und Insuljos Selbstbewusstsein erlosch so schnell wie es entflammt war. Níso beschleunigte seine Schritte und glaubte schon, das Klopfen der Reiter zu hören. Wenige Meter vor dem Tor überholte Insuljo den Grafen und hielt ihm die mannshohe Tür auf, die in das Eichenportal eingelassen war. Kommentarlos trat Níso nach draußen und zog sich die Kapuze über. Mit wenigen großen Schritten überquerte er den annähernd quadratischen Burghof und erreichte das Tor, vor dem mehrere Soldaten Stellung bezogen hatten. Einige wenige hielten ihre Speere gesenkt, doch die meisten standen lässig an die Innenwände des Torhauses gelehnt.
„Öffnet das Tor, zieht das Fallgitter hoch!“, befahl Níso grimmig und seine Soldaten erwachten urplötzlich aus ihrer Untätigkeit. Die meisten machten sich daran, die schweren Holzbalken anzuheben, während der Rest die schmale Wendeltreppe erklomm, um das Eisengitter empor zu ziehen.
Soeben hatten die Soldaten den ersten Holzbalken aus seiner Verankerung befreit, als ein metallisches Krächzen erklang und das Gitter hochgezogen wurde. Genau wie die Soldaten, die es emporzogen, war das Gitter aus einem tiefen Schlummer erwacht und meldete sich nun lautstark zurück, als das Metall über den rauen Stein schabte.
Lautlos schlurfte Insuljo heran und trat neben den Grafen.
„Was werdet Ihr ihm sagen? Dem Botschafter?“, fragte er kleinlaut.
„Na was wohl? Ich werde lügen. Ihm irgendwas erzählen. Etwas, das ihm sein neugieriges Maul stopft“, antwortete Níso aufgebracht und hielt seinen Blick auf das Tor gerichtet.
„Also werdet Ihr … sie nicht töten?“, erkundigte der Hofmeister sich, bemüht, die Aufmerksamkeit seines Herrn auf sich zu ziehen. Dieser drehte sich abrupt zu seinem Hofmeister um und zog ihn energisch zu sich heran.
„Nein! Denkt Ihr überhaupt nach, bevor Ihr etwas sagt?“, erwiderte Níso und verstärkte seinen Griff auf Insuljos Schultern, „Wenn diese Männer da draußen sterben sollten, gibt es Krieg! Wahrscheinlich wissen sie eh schon alles und sind nur gekommen, um sich zu vergewissern. Jetzt, jetzt ist es an uns, dieses Unheil abzuwehren! Verstehst Ihr?“
Auf Insuljos Gesicht spiegelten sich Angst und Panik wider, genau die Gefühle, die der Graf mit seiner Schelte zu verbergen versuchte.
„Lasst den Schlafsaal herrichten. Weckt die Küchenhilfen und tragt ihnen auf, Brot und Wein aufzutischen“, wies der Graf seinen Hofmeister an und schlug einen versöhnlichen, einsichtigen Ton an. Insuljo nickte schwach und machte sich eilig davon.
Es dauerte noch einige wenige Augenblicke, bis das Tor offen und das Fallgitter hochgezogen waren und die Reiter durch den Torbogen ritten.
Die Gruppe bestand aus etwa einem dutzend Reitern, die allesamt in gelbe Wollmäntel geschlungen waren und mit klammen Fingern die Zügel ihrer Pferde hielten. Langsam trieben die Reiter ihre Pferde in den Burghof und als alle den Torbogen hinter sich gelassen hatten, löste sich einer von ihnen aus ihrer Mitte und lenkte sein Pferd vor den Grafen. Sogleich eilten zwei von Nísos Soldaten herbei und nahmen dem Reiter die Zügel ab. Dieser saß elegant vom Rücken seines Pferdes ab und schlug die Kapuze zurück. Ein für einen Soldaten ungewöhnlich ebenmäßiges Gesicht kam zum Vorschein, die Miene aber war ausdruckslos und die mattschwarzen Augen durchbohrten den Herzog mit ihren Blicken.
Dieses Gesicht war Níso trotz seiner über die Jahre stetig gesteigerten Menschenkenntnis unerklärlich, einzig die unübersehbare Ausdruckslosigkeit konnte der Graf erkennen.
„Ich grüße Euch, Graf Níso“, sagte der Reiter plötzlich und deutete eine Verbeugung an.
Er erhob sich sogleich wieder und fuhr fort: „Ich bin Honír, fünfter Hauptmann Kalnions und bringe beunruhigende Neuigkeiten.“
Níso hob die Brauen und schüttelte leicht den Kopf.
„Fahrt fort!“, antwortete er bestimmt, ließ aber gleichzeitig einen Hauch von Besorgnis mitschwingen.
„Nun, mein Herr, Marius von Kalnion und sein Gefolge werden vermisst“, berichtete Honír ohne die Miene zu verziehen.
„Vermisst?“, erwiderte der Graf Verwunderung heuchelnd und ihm wurde noch im gleichen Moment bewusst wie gespielt sein Erstaunen wirken musste. Doch der Reiter bemerkte davon nichts oder überspielte die Gewissheit über Nísos Spiel geschickt, was dem Graf zu dessen Bestürzung wahrscheinlicher erschien.
„Sie wollten schon zurückgekehrt sein und es gab auch keine Nachricht, dass sich ihre Ankunft verzögern würde“, erläuterte der Soldat regungs- und ausdruckslos.
„Kommt, berichtet mir im Trockenen davon“, schlug Níso vor und wandte sich zum Gehen. Aus den Augenwinkeln nahm er war, dass der Hauptmann gar nicht daran zu denken schien und keine Anstalten machte, dem Grafen zu folgen.
„Das tat ich bereits, mein Herr. Was sagt Ihr zu dieser Nachricht? Habt Ihr eine Ahnung, was den Herzog und sein Gefolge an ihrer Rückkehr gehindert haben könnte?“, fragte Honír fordernd und widerwillig machte der Graf auf dem Absatz kehrt. Er setzte ein gezwungenes Lächeln auf, räusperte sich unmerklich und wandte sich dann nachdrucksvoll an seinen Gegenüber: „Ich teile Eure Sorge, aber das ändert nichts daran, dass wir gerade mitten im Regen stehen und ich nicht gewillt bin, mir diese klamme Nässe weiter anzutun. Kommt, ich habe Speis und Trank anrichten lassen.“
Angesichts des dicken Wollmantels, der ihn vor dem kalten Nass schützte, musste er ein Schmunzeln unterdrücken und auch die Wollmäntel der Gesandten ließen vermuten, dass ihnen der Regen mehr oder weniger gleichgültig war, jetzt wo sie ihre Hände unter dem schützenden Mantel verbergen konnten.
Der Reiter setzte kurz zu einer Erwiderung an, ließ es dann aber doch sein und bedeutete dem Grafen mit einer kurzen Handbewegung, voranzugehen. Auf einen weiteren Wink Honírs saßen seine Kameraden ab und folgten dem Grafen in die Burg.
Nach wenigen Minuten hatten sie den fensterlosen Schlafsaal erreicht und der Graf fand Insuljo wild gestikulierend am Kopf des großen Holztisches vor, der das gesamte Zentrum des Raumes einnahm. Hektisch, beinah panisch fuhr er einen besonders schlaftrunkenen Diener an, der soeben einen halben Krug Wein verschüttet hatte, als er seinen Herrn wahrnahm. Doch anstatt der offensichtlich erwarteten Zurechtweisung schenkte dieser Insuljo ein wohlwollendes Lächeln und bedeutete den Reitern, Platz zu nehmen. Er selbst beanspruchte den Platz am Tischende für sich und bot Honír den Gegenüberliegenden an. Mit einem flüchtigen, fast schon hastigen Nicken nahm dieser das Angebot an und setzte sich. Als er sich gesetzt hatte, folgten die restlichen Reiter seinem Beispiel und nahmen an den Längsseiten Platz.
„Bevor ich´s vergesse – das Ganze nochmal schriftlich und vom Stadtrat unterschrieben“, sagte Honír unvermittelt und kramte einen Briefumschlag aus dem Inneren seines Mantels hervor. Er hielt ihn kurz mit abgespreizten Fingern in der Luft bevor er ihn an den Soldaten zu seiner Rechten gab, der den Brief wiederum weiterreichte bis er schließlich in der Hand des Grafen angelangt war. Erwartungsvoll brach Níso das Siegel des Stadtrates und öffnete den Umschlag. Ungeduldig zog er das sorgfältig gefaltete Stück Papier heraus und begann zu lesen. Nach wenigen Augenblicken legte er den Brief ernüchtert beiseite – er hatte keine neuen Informationen preisgegeben, sondern die Bekannten lediglich diplomatischer und freundlicher dargelegt. Sein Gegenüber schien die Enttäuschung erkannt zu haben und setzte ein kurzes Lächeln auf.
„Wie ich gesagt habe, das Gleiche was Ihr von mir erfahren habt, nur eben nicht von mir. Ich schätze mal, um einige unnötige und bedeutungslose Sätze gestreckt und mit Höflichkeitsfloskeln durchsetzt? Hätte der Rat sich sparen können, wenn Ihr mich fragt. Tut Ihr aber wahrscheinlich nicht“, erläuterte der Hauptmann und es überraschte Níso, wie unverhohlen Honír seine Abneigung gegenüber seinem Stadtrat zeigte und wie plötzlich er seine vorherige Ausdrucks- und Emotionslosigkeit aufgegebene hatte.
„Und wenn ich Euch fragen würde?“, erwiderte Níso in der Hoffnung, dem Hauptmann weitere Informationen entlocken zu können. Doch dieser begegnete der Frage mit einem kurzen Grinsen und warf einen amüsierten Blick in die Runde seiner Soldaten.
„Dann würde ich Euch sagen, dass der Rat überflüssig lange Briefe schreibt und sich in Zukunft mit einer kurzen Erklärung begnügen sollte, dass ihr Gesandter die Sachlage korrekt und unverfälscht dargestellt hat“, antwortete er und nahm sichtlich zufrieden einen tiefen Schluck aus seinem Weinkrug.
„Aber ich glaube wir schweifen ab“, fuhr er fort bevor der Graf auf seine Antwort eingehen konnte, „Hat der Herzog irgendeine mögliche Verlängerung seiner Rückreise erwähnt? Irgendeine längere Rast, die nicht vorher abgesprochen war?“
Niemand sollte es wagen, ihn in seiner Burg derart zu befragen, als sei er ein Gefangener, der eines Verbrechens verdächtigt wurde. Doch um diese prekäre Situation zu überstehen, musste er sich auf eben jene anklagenden und respektlosen Fragen einlassen, um im besten Falle sogar einen Vorteil aus dem Ganzen zu ziehen. Er durfte dem Hauptmann keinen Grund geben, weitere, ausführlichere Nachforschungen anzustellen und stattdessen so antworten, wie es sein Gegenüber von einem ahnungslosen Unschuldigen erwartete.
„Nein, nichts dergleichen. Sie reisten wie vereinbart ab und seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört oder gesehen und bin davon ausgegangen, dass es keine Zwischenfälle gab“, antwortete Níso nüchtern.
„Wisst Ihr von der geplanten Strecke?“
„Nein, aber ich bin mir sicher, dass sie die große Nord-Süd-Straße genommen haben. Sie sollten von irgendeiner Patrouille gesehen worden sein, ich lasse umgehend Boten an die jeweiligen Truppenführer schicken und hier herbeordern“, erwiderte der Graf.
Die plötzliche Stille wurde von einem dumpfen Grollen unterbrochen und nur wenige Augenblicke später wurde die Tür des Schlafsaales aufgerissen. Im Türrahmen stand ein Soldat, der sich panisch im Raum umblickte, bis er Níso ausgemacht und fixiert hatte.
„Mein Graf, ein Blitz! Ist in die Ställe eingeschlagen. Feuer, überall!“
Noch bevor Níso etwas sagen konnte, erhoben sich Honír und seine Männer von ihren Plätzen und waren im Begriff, den Raum zu verlassen.
„Die Pferde! Wir müssen die Pferde da raus holen und das Feuer löschen! Graf Níso, wir dürfen keine Zeit verlieren! Das Feuer könnte sich ausbreiten und andere Gebäude in Brand stecken. Reden können wir morgen, aber wir müssen dafür sorgen, dass es noch ein Morgen auf dieser Burg geben wird“, sagte Honír sichtlich geschockt und verließ den Raum mit großen Schritten. Seine Männer folgten ihm und rauschten an dem Soldaten vorbei, der sich seit seiner Ankunft nicht von der Stelle gerührt hatte.
„Insuljo, weckt all jene, die noch nicht wach sind und schickt sie in den Hof. Wir brauchen jede Hand, die einen Eimer Wasser halten kann.“
Der Hofmeister nickte eifrig und folgte den Männern aus Kalnion. Schließlich verließen Níso und die Küchenhilfen den Raum und machten sich zusammen mit dem geschockten Soldaten auf den Weg nach draußen.
Als sie nach draußen traten und sich nach rechts wandten, wurde ihnen das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst. Die zwei hölzernen Ställe wurden von zügelnden Flammen umspielt, die strohgedeckten Dächer brannten lichterloh und dichte Rauchfahnen stiegen gen Himmel. Aus dem Inneren erklang verängstigtes Schnauben und unruhiges Hufgetrippel. Honír und seine Männer waren bereits voraus gelaufen und hatten damit begonnen, die Wände des Gebäudes einzutreten. Nur zögerlich gaben die ersten Holzbalken den Tritten der Reiter nach. Laut fluchend schickte Honír zwei seiner Männer zum Brunnen, der auf der anderen Seite des Burghofes lag. Als der Hauptmann in die Richtung des Brunnen wies, traf sein Blick den des Grafen. Und mit einem Mal schien die Maskerade des Hauptmanns endgültig gefallen zu sein. Panik lag in seinen Zügen und das verkrampfte Gesicht ließ nicht erahnen, dass es jemals ausdruckslos gewesen war. Níso genoss diesen Augenblick, so zweischneidig er auch sein mochte. Es waren nicht nur die Pferde der fremden Reiter, sondern auch sein eigenes und die seiner Getreuen, die in den beiden Ställen untergebracht waren. Seine Pferde hatten Priorität vor triumphalen Momenten, so schön diese auch sein mochten. Der Graf trat vor die Menge und befahl dieser, eine Menschenkette von den brennenden Ställen zu dem Brunnen zu bilden. Noch bevor sein letztes Wort verklungen war machten die Männer und Frauen sich auf um der Anweisung des Grafen Folge zu leisten.
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Tada - mehr als ein halbes Jahr nach dem letzten Teil geht es hier jetzt auch mal weiter. Habe eigentlich gar nicht so lange für diesen Teil gebraucht, die lange Pause lag hauptsächlich daran, dass ich mich in letzter Zeit generell wenig mit dem Schreiben beschäftigt habe
Mit Prolog und Kapitel 1 bin ich immer noch genauso weit wie Ende letzten Jahres - also noch am Anfang
Bin aber demnächst zwei Wochen im sonnigen Italien, vlt. komme ich da beim in der Sonne liegen zum Schreiben
Schon mal vielen Dank für Eure Kommentare und eure Kritik, werde mich die Tage dann auch mal wieder ans Kommentieren machen
MfG
Jonas
Prolog Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4
Wie ein Hagelschauer schlugen die Regentropfen gegen die Fenster des gräflichen Schlafgemachs und rissen Níso aus dem Schlaf. Erschrocken blickte er sich um und atmete erleichtert auf, als er die Regentropfen als Ursache des Lärms ausgemacht hatte. Er wollte sich gerade wieder hinlegen, als es mehrmals an der Tür klopfte. Sie öffnete sich einen Spalt breit und Insuljos Stimme erklang von der anderen Seite.
„Mein Graf, Ihr müsst schnell mitkommen. Es ist wichtig!“
Der Graf rappelte sich auf und schob das weiße Laken beiseite.
„Was ist los?“, fragte er seinen Hofmeister, der nun ungefragt eintrat. In seiner Rechten hielt er eine schmiedeeiserne Laterne und sein Kopf war mit einer durchnässten Kapuze bedeckt.
„Draußen vor dem Tor … da sind Reiter aus Kalnion mein Herr!“, erwiderte Insuljo verängstigt.
Der Graf wollte etwas sagen, doch das Wort blieb ihm im Hals stecken. Er schüttelte verwirrt den Kopf und erlangte schließlich seine Fassung wieder.
„Nein, das ist unmöglich. Woher … woher sollten sie davon wissen? Niemand weiß es“, sagte Níso ratlos. Von plötzlicher Panik ergriffen stolperte der Graf aus dem Bett und schlang sich seinen Leinenwams um den Körper, doch Insuljo kramte bereits einen grauen Wollmantel hervor und hielt ihn Níso entgegen. Dankbar nahm er ihn an und streifte ihn anstelle des Wamses über. Auf dem Weg zur Tür schlüpfte er noch in seine Stiefel und fand sich wenige Augenblicke später auf dem langen Gang wieder, der zum Burghof führte.
„Wann sind sie gekommen? Die Reiter?“, fragte Níso und brach das beklemmende Schweigen.
„Eben gerade, nachdem ich geweckt wurde und mich selbst von der Ankunft der Reiter überzeugt hatte, kam ich direkt zu Euch“, antwortete Insuljo und seine Stimme klang wieder so selbstbewusst wie immer.
„Sie warten jetzt schon zwanzig oder dreißig Minuten da draußen? Verdammt, wie konntet Ihr das zulassen?“, erwiderte der Graf verärgert und Insuljos Selbstbewusstsein erlosch so schnell wie es entflammt war. Níso beschleunigte seine Schritte und glaubte schon, das Klopfen der Reiter zu hören. Wenige Meter vor dem Tor überholte Insuljo den Grafen und hielt ihm die mannshohe Tür auf, die in das Eichenportal eingelassen war. Kommentarlos trat Níso nach draußen und zog sich die Kapuze über. Mit wenigen großen Schritten überquerte er den annähernd quadratischen Burghof und erreichte das Tor, vor dem mehrere Soldaten Stellung bezogen hatten. Einige wenige hielten ihre Speere gesenkt, doch die meisten standen lässig an die Innenwände des Torhauses gelehnt.
„Öffnet das Tor, zieht das Fallgitter hoch!“, befahl Níso grimmig und seine Soldaten erwachten urplötzlich aus ihrer Untätigkeit. Die meisten machten sich daran, die schweren Holzbalken anzuheben, während der Rest die schmale Wendeltreppe erklomm, um das Eisengitter empor zu ziehen.
Soeben hatten die Soldaten den ersten Holzbalken aus seiner Verankerung befreit, als ein metallisches Krächzen erklang und das Gitter hochgezogen wurde. Genau wie die Soldaten, die es emporzogen, war das Gitter aus einem tiefen Schlummer erwacht und meldete sich nun lautstark zurück, als das Metall über den rauen Stein schabte.
Lautlos schlurfte Insuljo heran und trat neben den Grafen.
„Was werdet Ihr ihm sagen? Dem Botschafter?“, fragte er kleinlaut.
„Na was wohl? Ich werde lügen. Ihm irgendwas erzählen. Etwas, das ihm sein neugieriges Maul stopft“, antwortete Níso aufgebracht und hielt seinen Blick auf das Tor gerichtet.
„Also werdet Ihr … sie nicht töten?“, erkundigte der Hofmeister sich, bemüht, die Aufmerksamkeit seines Herrn auf sich zu ziehen. Dieser drehte sich abrupt zu seinem Hofmeister um und zog ihn energisch zu sich heran.
„Nein! Denkt Ihr überhaupt nach, bevor Ihr etwas sagt?“, erwiderte Níso und verstärkte seinen Griff auf Insuljos Schultern, „Wenn diese Männer da draußen sterben sollten, gibt es Krieg! Wahrscheinlich wissen sie eh schon alles und sind nur gekommen, um sich zu vergewissern. Jetzt, jetzt ist es an uns, dieses Unheil abzuwehren! Verstehst Ihr?“
Auf Insuljos Gesicht spiegelten sich Angst und Panik wider, genau die Gefühle, die der Graf mit seiner Schelte zu verbergen versuchte.
„Lasst den Schlafsaal herrichten. Weckt die Küchenhilfen und tragt ihnen auf, Brot und Wein aufzutischen“, wies der Graf seinen Hofmeister an und schlug einen versöhnlichen, einsichtigen Ton an. Insuljo nickte schwach und machte sich eilig davon.
Es dauerte noch einige wenige Augenblicke, bis das Tor offen und das Fallgitter hochgezogen waren und die Reiter durch den Torbogen ritten.
Die Gruppe bestand aus etwa einem dutzend Reitern, die allesamt in gelbe Wollmäntel geschlungen waren und mit klammen Fingern die Zügel ihrer Pferde hielten. Langsam trieben die Reiter ihre Pferde in den Burghof und als alle den Torbogen hinter sich gelassen hatten, löste sich einer von ihnen aus ihrer Mitte und lenkte sein Pferd vor den Grafen. Sogleich eilten zwei von Nísos Soldaten herbei und nahmen dem Reiter die Zügel ab. Dieser saß elegant vom Rücken seines Pferdes ab und schlug die Kapuze zurück. Ein für einen Soldaten ungewöhnlich ebenmäßiges Gesicht kam zum Vorschein, die Miene aber war ausdruckslos und die mattschwarzen Augen durchbohrten den Herzog mit ihren Blicken.
Dieses Gesicht war Níso trotz seiner über die Jahre stetig gesteigerten Menschenkenntnis unerklärlich, einzig die unübersehbare Ausdruckslosigkeit konnte der Graf erkennen.
„Ich grüße Euch, Graf Níso“, sagte der Reiter plötzlich und deutete eine Verbeugung an.
Er erhob sich sogleich wieder und fuhr fort: „Ich bin Honír, fünfter Hauptmann Kalnions und bringe beunruhigende Neuigkeiten.“
Níso hob die Brauen und schüttelte leicht den Kopf.
„Fahrt fort!“, antwortete er bestimmt, ließ aber gleichzeitig einen Hauch von Besorgnis mitschwingen.
„Nun, mein Herr, Marius von Kalnion und sein Gefolge werden vermisst“, berichtete Honír ohne die Miene zu verziehen.
„Vermisst?“, erwiderte der Graf Verwunderung heuchelnd und ihm wurde noch im gleichen Moment bewusst wie gespielt sein Erstaunen wirken musste. Doch der Reiter bemerkte davon nichts oder überspielte die Gewissheit über Nísos Spiel geschickt, was dem Graf zu dessen Bestürzung wahrscheinlicher erschien.
„Sie wollten schon zurückgekehrt sein und es gab auch keine Nachricht, dass sich ihre Ankunft verzögern würde“, erläuterte der Soldat regungs- und ausdruckslos.
„Kommt, berichtet mir im Trockenen davon“, schlug Níso vor und wandte sich zum Gehen. Aus den Augenwinkeln nahm er war, dass der Hauptmann gar nicht daran zu denken schien und keine Anstalten machte, dem Grafen zu folgen.
„Das tat ich bereits, mein Herr. Was sagt Ihr zu dieser Nachricht? Habt Ihr eine Ahnung, was den Herzog und sein Gefolge an ihrer Rückkehr gehindert haben könnte?“, fragte Honír fordernd und widerwillig machte der Graf auf dem Absatz kehrt. Er setzte ein gezwungenes Lächeln auf, räusperte sich unmerklich und wandte sich dann nachdrucksvoll an seinen Gegenüber: „Ich teile Eure Sorge, aber das ändert nichts daran, dass wir gerade mitten im Regen stehen und ich nicht gewillt bin, mir diese klamme Nässe weiter anzutun. Kommt, ich habe Speis und Trank anrichten lassen.“
Angesichts des dicken Wollmantels, der ihn vor dem kalten Nass schützte, musste er ein Schmunzeln unterdrücken und auch die Wollmäntel der Gesandten ließen vermuten, dass ihnen der Regen mehr oder weniger gleichgültig war, jetzt wo sie ihre Hände unter dem schützenden Mantel verbergen konnten.
Der Reiter setzte kurz zu einer Erwiderung an, ließ es dann aber doch sein und bedeutete dem Grafen mit einer kurzen Handbewegung, voranzugehen. Auf einen weiteren Wink Honírs saßen seine Kameraden ab und folgten dem Grafen in die Burg.
Nach wenigen Minuten hatten sie den fensterlosen Schlafsaal erreicht und der Graf fand Insuljo wild gestikulierend am Kopf des großen Holztisches vor, der das gesamte Zentrum des Raumes einnahm. Hektisch, beinah panisch fuhr er einen besonders schlaftrunkenen Diener an, der soeben einen halben Krug Wein verschüttet hatte, als er seinen Herrn wahrnahm. Doch anstatt der offensichtlich erwarteten Zurechtweisung schenkte dieser Insuljo ein wohlwollendes Lächeln und bedeutete den Reitern, Platz zu nehmen. Er selbst beanspruchte den Platz am Tischende für sich und bot Honír den Gegenüberliegenden an. Mit einem flüchtigen, fast schon hastigen Nicken nahm dieser das Angebot an und setzte sich. Als er sich gesetzt hatte, folgten die restlichen Reiter seinem Beispiel und nahmen an den Längsseiten Platz.
„Bevor ich´s vergesse – das Ganze nochmal schriftlich und vom Stadtrat unterschrieben“, sagte Honír unvermittelt und kramte einen Briefumschlag aus dem Inneren seines Mantels hervor. Er hielt ihn kurz mit abgespreizten Fingern in der Luft bevor er ihn an den Soldaten zu seiner Rechten gab, der den Brief wiederum weiterreichte bis er schließlich in der Hand des Grafen angelangt war. Erwartungsvoll brach Níso das Siegel des Stadtrates und öffnete den Umschlag. Ungeduldig zog er das sorgfältig gefaltete Stück Papier heraus und begann zu lesen. Nach wenigen Augenblicken legte er den Brief ernüchtert beiseite – er hatte keine neuen Informationen preisgegeben, sondern die Bekannten lediglich diplomatischer und freundlicher dargelegt. Sein Gegenüber schien die Enttäuschung erkannt zu haben und setzte ein kurzes Lächeln auf.
„Wie ich gesagt habe, das Gleiche was Ihr von mir erfahren habt, nur eben nicht von mir. Ich schätze mal, um einige unnötige und bedeutungslose Sätze gestreckt und mit Höflichkeitsfloskeln durchsetzt? Hätte der Rat sich sparen können, wenn Ihr mich fragt. Tut Ihr aber wahrscheinlich nicht“, erläuterte der Hauptmann und es überraschte Níso, wie unverhohlen Honír seine Abneigung gegenüber seinem Stadtrat zeigte und wie plötzlich er seine vorherige Ausdrucks- und Emotionslosigkeit aufgegebene hatte.
„Und wenn ich Euch fragen würde?“, erwiderte Níso in der Hoffnung, dem Hauptmann weitere Informationen entlocken zu können. Doch dieser begegnete der Frage mit einem kurzen Grinsen und warf einen amüsierten Blick in die Runde seiner Soldaten.
„Dann würde ich Euch sagen, dass der Rat überflüssig lange Briefe schreibt und sich in Zukunft mit einer kurzen Erklärung begnügen sollte, dass ihr Gesandter die Sachlage korrekt und unverfälscht dargestellt hat“, antwortete er und nahm sichtlich zufrieden einen tiefen Schluck aus seinem Weinkrug.
„Aber ich glaube wir schweifen ab“, fuhr er fort bevor der Graf auf seine Antwort eingehen konnte, „Hat der Herzog irgendeine mögliche Verlängerung seiner Rückreise erwähnt? Irgendeine längere Rast, die nicht vorher abgesprochen war?“
Niemand sollte es wagen, ihn in seiner Burg derart zu befragen, als sei er ein Gefangener, der eines Verbrechens verdächtigt wurde. Doch um diese prekäre Situation zu überstehen, musste er sich auf eben jene anklagenden und respektlosen Fragen einlassen, um im besten Falle sogar einen Vorteil aus dem Ganzen zu ziehen. Er durfte dem Hauptmann keinen Grund geben, weitere, ausführlichere Nachforschungen anzustellen und stattdessen so antworten, wie es sein Gegenüber von einem ahnungslosen Unschuldigen erwartete.
„Nein, nichts dergleichen. Sie reisten wie vereinbart ab und seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört oder gesehen und bin davon ausgegangen, dass es keine Zwischenfälle gab“, antwortete Níso nüchtern.
„Wisst Ihr von der geplanten Strecke?“
„Nein, aber ich bin mir sicher, dass sie die große Nord-Süd-Straße genommen haben. Sie sollten von irgendeiner Patrouille gesehen worden sein, ich lasse umgehend Boten an die jeweiligen Truppenführer schicken und hier herbeordern“, erwiderte der Graf.
Die plötzliche Stille wurde von einem dumpfen Grollen unterbrochen und nur wenige Augenblicke später wurde die Tür des Schlafsaales aufgerissen. Im Türrahmen stand ein Soldat, der sich panisch im Raum umblickte, bis er Níso ausgemacht und fixiert hatte.
„Mein Graf, ein Blitz! Ist in die Ställe eingeschlagen. Feuer, überall!“
Noch bevor Níso etwas sagen konnte, erhoben sich Honír und seine Männer von ihren Plätzen und waren im Begriff, den Raum zu verlassen.
„Die Pferde! Wir müssen die Pferde da raus holen und das Feuer löschen! Graf Níso, wir dürfen keine Zeit verlieren! Das Feuer könnte sich ausbreiten und andere Gebäude in Brand stecken. Reden können wir morgen, aber wir müssen dafür sorgen, dass es noch ein Morgen auf dieser Burg geben wird“, sagte Honír sichtlich geschockt und verließ den Raum mit großen Schritten. Seine Männer folgten ihm und rauschten an dem Soldaten vorbei, der sich seit seiner Ankunft nicht von der Stelle gerührt hatte.
„Insuljo, weckt all jene, die noch nicht wach sind und schickt sie in den Hof. Wir brauchen jede Hand, die einen Eimer Wasser halten kann.“
Der Hofmeister nickte eifrig und folgte den Männern aus Kalnion. Schließlich verließen Níso und die Küchenhilfen den Raum und machten sich zusammen mit dem geschockten Soldaten auf den Weg nach draußen.
Als sie nach draußen traten und sich nach rechts wandten, wurde ihnen das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst. Die zwei hölzernen Ställe wurden von zügelnden Flammen umspielt, die strohgedeckten Dächer brannten lichterloh und dichte Rauchfahnen stiegen gen Himmel. Aus dem Inneren erklang verängstigtes Schnauben und unruhiges Hufgetrippel. Honír und seine Männer waren bereits voraus gelaufen und hatten damit begonnen, die Wände des Gebäudes einzutreten. Nur zögerlich gaben die ersten Holzbalken den Tritten der Reiter nach. Laut fluchend schickte Honír zwei seiner Männer zum Brunnen, der auf der anderen Seite des Burghofes lag. Als der Hauptmann in die Richtung des Brunnen wies, traf sein Blick den des Grafen. Und mit einem Mal schien die Maskerade des Hauptmanns endgültig gefallen zu sein. Panik lag in seinen Zügen und das verkrampfte Gesicht ließ nicht erahnen, dass es jemals ausdruckslos gewesen war. Níso genoss diesen Augenblick, so zweischneidig er auch sein mochte. Es waren nicht nur die Pferde der fremden Reiter, sondern auch sein eigenes und die seiner Getreuen, die in den beiden Ställen untergebracht waren. Seine Pferde hatten Priorität vor triumphalen Momenten, so schön diese auch sein mochten. Der Graf trat vor die Menge und befahl dieser, eine Menschenkette von den brennenden Ställen zu dem Brunnen zu bilden. Noch bevor sein letztes Wort verklungen war machten die Männer und Frauen sich auf um der Anweisung des Grafen Folge zu leisten.
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Tada - mehr als ein halbes Jahr nach dem letzten Teil geht es hier jetzt auch mal weiter. Habe eigentlich gar nicht so lange für diesen Teil gebraucht, die lange Pause lag hauptsächlich daran, dass ich mich in letzter Zeit generell wenig mit dem Schreiben beschäftigt habe

Mit Prolog und Kapitel 1 bin ich immer noch genauso weit wie Ende letzten Jahres - also noch am Anfang

Bin aber demnächst zwei Wochen im sonnigen Italien, vlt. komme ich da beim in der Sonne liegen zum Schreiben

Schon mal vielen Dank für Eure Kommentare und eure Kritik, werde mich die Tage dann auch mal wieder ans Kommentieren machen

MfG
Jonas