Ein anstrengendes Wochenende.
Als sie zu rennen begann, wusste sie, dass sie die falsche Entscheidung getroffen hatte. Genau genommen waren es sogar mehrere gewesen. Und jetzt blieb ihr lediglich das Prinzip Hoffnung, von dem sie nur zu gut wusste, dass es mehr als trügerisch war.
Wieso war sie eben in der S-Bahn so nachlässig gewesen? Ausgerechnet sie, die doch sonst immer über vorsichtig war. Er war in der Innenstadt eingestiegen, an derselben Station wie sie. Und bereits dort auf dem Bahnsteig hatte er sie angestarrt. In der Bahn hatte sie sich sehr weit nach vorne gesetzt, so dass sie den Fahrer in seiner verglasten Kabine sehen konnte. Das hatte ihr ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Kein einziges Mal hatte sie sich umgedreht, aber sie spürte auch so, dass er noch da war. Sie konnte seine Blicke spüren und seine Gier riechen.
Aber was genau hätte sie tun können in jenen Minuten der Fahrt? Mit dem Handy eine Freundin anrufen oder irgendwen, der sie abholen könnte? Sie wohnte recht weit draußen und solch ein Ansinnen nur aufgrund einer gefühlten Bedrohung erschien ihr mehr als unverschämt. Den Fahrer verständigen? Aber was hätte sie ihm sagen sollen? Hallo, da sitzt ein Typ und starrt mich permanent an? Wie hysterisch klang das denn?
Als sie zur Tür ging und den Halteknopf drückte, blieb er sitzen. Aus dem Starren war jetzt ein Lächeln geworden. Ein sehr kaltes, und es lag ein Wissen darin, dass sie frösteln ließ. Der Blick durch die Bahn offenbarte, dass niemand sonst mit ihr ausstieg. Wie so oft in diesem Stadtteil, den man als reine Schlafstadt bezeichnen konnte. An der Stelle hätte sie tatsächlich inne halten können. Warum nicht eine Station weiter fahren, an der bestimmt einige andere Leute mit ihr aussteigen würden. Aber was dann? Sie musste ja sowieso zurück. Und sie war müde und abgekämpft nach der Arbeitswoche.
Keine Hysterie, Mädchen. Und dann war sie ausgestiegen. An der Treppe nach oben hörte sie Schritte hinter sich und musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er ihr folgte. Ein Teil von ihr hatte das sowieso gewusst. Sie beschleunigte und nahm immer zwei Stufen auf einmal, was in ihren Stiefeln mit den hohen Absätzen gar nicht so einfach war. Hinter ihr seine Schritte. Er blieb auf Abstand, freilich ohne sie aus den Augen zu verlieren.
Oben ging sie über die Brücke der Gleise. Der Weg war hell erleuchtet. Licht war gut. Licht bedeutete Sicherheit. Und hinter ihr das Tapsen seiner Schuhe. Für einen Moment nur hatte sie überlegt, nach rechts abzubiegen. Hin zu dem großen Supermarkt, der doch bis vierundzwanzig Uhr geöffnet hatte. Aber was hätte es geändert? Er konnte ja draußen geduldig auf sie warten.
Also war sie nach links gegangen, dort wo die Dunkelheit wartete. Das war übertrieben, aber in dieser Straße, an dessen Ende sie wohnte, sparte die Stadt anscheinend mit Hingabe Strom. Die Straßenlaternen spendeten nur ein mattes Licht. Links die Häuser, rechts das Gebüsch und eine Brachfläche, die eigentlich schon seit Jahren bebaut werden sollte. Aber immer wieder hatte es dabei Verzögerungen gegeben – man sprach von einem verseuchten Boden und den enormen Kosten, die es erfordern würde, ihn abzutragen.
Für einen Moment hatte sie geglaubt, ihn nicht mehr zu hören. Sie blieb stehen, um sicher zu sein, aber genau in jener Sekunde erklangen seine Schritte erneut. Und sie begann, zu rennen.
Während sie das tat, tauchten Gedankenfetzen in ihrem Kopf auf. Sie sah ihren Vater vor sich. „Der Blitz schlägt nie zwei Mal in denselben Baum ein! Das ist ein Naturgesetz!“ Dann hatte er feierlich genickt, und sie hatte ihm geglaubt und diesen großen Mann geliebt, wie es nur kleine Mädchen tun können bis sie entdecken, dass der eigene Vater nur selten zum Vorbild und Idol taugt. Die Bäume waren ihr gerade herzlich egal. Der Typ rannte jetzt auch, und sie hatte das grauenhafte Gefühl, dass er aufholte. Warum nur hatte sie sich nicht in den Eingang des ersten Hauses geflüchtet und dort alle Klingelknöpfe gedrückt? Die meisten Menschen waren auf sich selbst konzentriert, aber irgendwer hätte doch sicher den Türöffner betätigt. Aber wäre das schnell genug gegangen, um ihm zu entkommen?
Egal. Diese Chance war vorbei, denn jetzt war sie bereits in dem Bereich der Straße, die sie für sich immer die gefährliche Zone nannte. Jetzt waren nämlich auch links keine Häuser mehr. Man hatte sie abgerissen, nachdem es vor zwei Jahren gebrannt hatte. Erst ganz da vorne stand noch eines. Dort wohnte sie. Aber dieser Rettungsanker schien sehr weit entfernt. Und er war wieder näher gekommen. Sie rannte schneller und verfluchte die hohen Absätze. Sie durfte nicht stolpern oder gar fallen. Noch gut hundert Meter bis zu ihrem Hauseingang.
Der Blitz bevorzugt unversehrte Bäume, aber wie war das mit Vergewaltigern? Sie hatte keine Erinnerungen mehr an jene Nacht vor über sechs Jahren, als sie ihm begegnet war. Eben war sie noch Tanzen gewesen, und alles war Spaß. Die blöde Tusse aus ihrer Klasse, die ausgerechnet dasselbe Top tragen musste wie sie war das Hauptproblem des Abends gewesen. Dann war er aus dem Gebüsch gekommen und hatte sie in dasselbe gezogen. Ein Messer glitzerte an ihrem Hals. Der Typ damals hatte kein Wort gesagt, und dann ein Seil hervorgezogen. Mit Schlinge. Bis heute hatte sie keine Erinnerung daran, was dann passiert war.
Hektisch kramte sie nach dem Schlüssel in ihrer Jackentasche. Fast wäre sie eben ausgerutscht auf dem nassen Boden mit dem Laub vom letzten Herbst. Ihr Körper protestierte gegen die ungewohnte Anstrengung und sie hörte ihr eigenes Keuchen. Und noch ein anderes. Er war hinter ihr. Nicht umdrehen, einfach weiter rennen und nicht den Schlüssel verlieren.
Nach fast zwei Wochen im Koma war sie danach in der Klinik aufgewacht. Sie erfuhr, dass er sie stranguliert und nur von ihr abgelassen hatte, weil er sie für tot hielt. Ihr Kehlkopf war fast zerstört worden, ebenso mehrere Rippen gebrochen, als er sie missbraucht hatte. Es hatte Monate gedauert bis sie wieder sprechen konnte und bis zum heutigen Tag war ihre Stimme nie mehr dieselbe geworden. Seltsam heiser. Und selbst im Sommer trug sie ein leichtes Seidentuch um den Hals, als wäre dort eine nach außen sichtbare Narbe. Nach einem halben Jahr verheilten die körperlichen Verletzungen. Die anderen waren schlimmer und ungleich tiefer.
Sie hatte das Haus schon fast erreicht, als es doch noch passierte. In der Hektik rutschte ihr der Schlüssel aus den Fingern und landete klirrend auf dem Asphalt, von wo er auf die Straße rollte. Dieser Anblick schockierte sie so, dass sie einfach stehen blieb. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf das Metall am Boden, gänzlich unfähig, sich endlich wieder in Bewegung zu setzen. Wie das Kaninchen vor der Schlange, dachte sie noch, und dann war er bei ihr.
Ihre Seele dachte damals gar nicht daran, zu heilen. Mit sechzehn Jahren schlief sie wieder im Zimmer ihrer Eltern, weil es ihr völlig undenkbar erschien, eine ganze lange Nacht alleine zu verbringen. Dinge wie Diskos, Jungs wirkten plötzlich nicht mehr spannend, sondern bedrohlich. Und sehr genau hatte sie registriert, wie das Umfeld langsam die Geduld mit ihr verloren hatte. Das Leben musste ja weitergehen! Und so schlimm das auch war, was da passiert ist, jetzt ist es doch mal wieder gut mit der Angst. Speziell ihr Vater dachte ähnlich, auch wenn er es nie direkt ausgesprochen hatte. Mit der Psychologin, die man ihr verordnet hatte, kam sie ebenfalls nicht klar. Und dann starben, kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag, ihre Eltern. Völlig überraschend bei einem Autounfall, nachdem ein suizidaler Geisterfahrer auf der Suche nach Frieden frontal in sie hinein geknallt war. Ein weiterer Schock, aber seltsamerweise einer, der ihr half, einen Weg zu finden, mit all dem Erlebten umzugehen und weiter zu leben.
Leben! Leben! Das wollte sie jetzt auch, als der Typ sie packte und ins Gebüsch zog. Sie versuchte, zu schreien, aber das ließ ihre ramponierte Stimme nicht zu. Heraus kam nur ein Krächzen, welches den Kerl eher zu amüsieren schien. Er warf sie zu Boden und setzte sich sogleich auf sie. Schwer und bedrohlich. Sie strampelte und wollte sich wehren, als sie das lange Messer in seiner Hand sah. Keine Schlinge, dachte sie noch und versuchte erneut, ihre Stimmbänder ein einziges Mal dazu zu bringen, zu schreien.
Mit dröhnenden Kopfschmerzen erwachte sie und presste die Augen sofort wieder zusammen. Sie war klitschnass. Wie nach jedem Albtraum. The same procedure as every time. Und der Alkohol schien die Dämonen in ihrem Kopf keineswegs zu betäuben, sondern eher noch anzuregen. Es war ein Fluch mit dem Unterbewusstsein. Einmal Opfer – immer Opfer. Und dabei war es ungefähr so berechenbar wie die Bildzeitung, wenn es um soziale Gerechtigkeit ging.
Jetzt brauchte sie einen starken Kaffee. Das Einzige, was dem Schmerz in der Schläfe jetzt noch Einhalt gebieten konnte. Ächzend schälte sie sich aus dem Bett und ging in die Küche. Die Kaffeepads waren auch bald alle. Als sie das schwarze Gebräu vorsichtig ihre Lippen passieren ließ, spürte sie wie die Lebensgeister in sie zurück kehrten. Das war auch gut so, denn ein arbeitsreiches Wochenende lag vor ihr. Mit der Tasse in der Hand ging sie ins Wohnzimmer des kleinen, abgelegenen Hauses, das sie von ihren Eltern geerbt hatte. Da lag er noch immer auf dem Teppich. Groß, kräftig und wunderschön tot. Gerd? Bert? Wie hatte er noch gleich geheißen? Gestern Abend hatte er sich vorgestellt, und sie erinnerte sich noch an ihr breites Grinsen aufgrund seines Vornamens, der für sie zwischen alt und spießig pendelte. Egal.
Hübsch sah er aus. Ganz am Anfang, als sie diese etwas eigene Therapie für sich und ihr Leben entdeckt hatte, war das noch anders gewesen. Da hatte sie die Männer nach der Betäubung noch mit einem Seil erdrosselt. Das war anstrengend gewesen, und sie mochte es nicht, wenn die Herren entstellt waren. Dann aber hatte sie gelesen, dass man mit der guten alten Tante Chloroform nicht nur betäuben, sondern auch töten konnte. Und ihr Vater hatte als gelernter Chemiker einen großen Vorrat zuhause in seinem Hobbyraum gehabt. Gut gelagert war das Zeug sehr lange haltbar, und wie gut es noch immer wirkte, hatte man letzte Nacht wieder gesehen.
Niemals sprach sie einen Mann an, wenn sie mit knappem Rock und dem Blick einer Femme fatale einmal im Monat auf die Jagd ging. Sich selbst ein Opfer suchen – das machten nur Monster. Nein, sie ließ den Herren die freie Entscheidung, sie anzusprechen, genauso wie es deren freier Wille war, sich noch auf einen Absacker zu ihr zu begeben.
Es war falsch von ihr gewesen, damals alleine von der Disko nach Hause zu gehen. Aber wir alle treffen oft falsche Entscheidungen. Sie gehören zum Leben und zum Sterben.
Süß sah er aus. Sie lächelte und seufzte kurz auf, als sie in die Abstellkammer ging, um die Knochensäge und das andere Werkzeug zu holen. Es würde wieder eines dieser anstrengenden Wochenenden werden.
Als sie zu rennen begann, wusste sie, dass sie die falsche Entscheidung getroffen hatte. Genau genommen waren es sogar mehrere gewesen. Und jetzt blieb ihr lediglich das Prinzip Hoffnung, von dem sie nur zu gut wusste, dass es mehr als trügerisch war.
Wieso war sie eben in der S-Bahn so nachlässig gewesen? Ausgerechnet sie, die doch sonst immer über vorsichtig war. Er war in der Innenstadt eingestiegen, an derselben Station wie sie. Und bereits dort auf dem Bahnsteig hatte er sie angestarrt. In der Bahn hatte sie sich sehr weit nach vorne gesetzt, so dass sie den Fahrer in seiner verglasten Kabine sehen konnte. Das hatte ihr ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Kein einziges Mal hatte sie sich umgedreht, aber sie spürte auch so, dass er noch da war. Sie konnte seine Blicke spüren und seine Gier riechen.
Aber was genau hätte sie tun können in jenen Minuten der Fahrt? Mit dem Handy eine Freundin anrufen oder irgendwen, der sie abholen könnte? Sie wohnte recht weit draußen und solch ein Ansinnen nur aufgrund einer gefühlten Bedrohung erschien ihr mehr als unverschämt. Den Fahrer verständigen? Aber was hätte sie ihm sagen sollen? Hallo, da sitzt ein Typ und starrt mich permanent an? Wie hysterisch klang das denn?
Als sie zur Tür ging und den Halteknopf drückte, blieb er sitzen. Aus dem Starren war jetzt ein Lächeln geworden. Ein sehr kaltes, und es lag ein Wissen darin, dass sie frösteln ließ. Der Blick durch die Bahn offenbarte, dass niemand sonst mit ihr ausstieg. Wie so oft in diesem Stadtteil, den man als reine Schlafstadt bezeichnen konnte. An der Stelle hätte sie tatsächlich inne halten können. Warum nicht eine Station weiter fahren, an der bestimmt einige andere Leute mit ihr aussteigen würden. Aber was dann? Sie musste ja sowieso zurück. Und sie war müde und abgekämpft nach der Arbeitswoche.
Keine Hysterie, Mädchen. Und dann war sie ausgestiegen. An der Treppe nach oben hörte sie Schritte hinter sich und musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er ihr folgte. Ein Teil von ihr hatte das sowieso gewusst. Sie beschleunigte und nahm immer zwei Stufen auf einmal, was in ihren Stiefeln mit den hohen Absätzen gar nicht so einfach war. Hinter ihr seine Schritte. Er blieb auf Abstand, freilich ohne sie aus den Augen zu verlieren.
Oben ging sie über die Brücke der Gleise. Der Weg war hell erleuchtet. Licht war gut. Licht bedeutete Sicherheit. Und hinter ihr das Tapsen seiner Schuhe. Für einen Moment nur hatte sie überlegt, nach rechts abzubiegen. Hin zu dem großen Supermarkt, der doch bis vierundzwanzig Uhr geöffnet hatte. Aber was hätte es geändert? Er konnte ja draußen geduldig auf sie warten.
Also war sie nach links gegangen, dort wo die Dunkelheit wartete. Das war übertrieben, aber in dieser Straße, an dessen Ende sie wohnte, sparte die Stadt anscheinend mit Hingabe Strom. Die Straßenlaternen spendeten nur ein mattes Licht. Links die Häuser, rechts das Gebüsch und eine Brachfläche, die eigentlich schon seit Jahren bebaut werden sollte. Aber immer wieder hatte es dabei Verzögerungen gegeben – man sprach von einem verseuchten Boden und den enormen Kosten, die es erfordern würde, ihn abzutragen.
Für einen Moment hatte sie geglaubt, ihn nicht mehr zu hören. Sie blieb stehen, um sicher zu sein, aber genau in jener Sekunde erklangen seine Schritte erneut. Und sie begann, zu rennen.
Während sie das tat, tauchten Gedankenfetzen in ihrem Kopf auf. Sie sah ihren Vater vor sich. „Der Blitz schlägt nie zwei Mal in denselben Baum ein! Das ist ein Naturgesetz!“ Dann hatte er feierlich genickt, und sie hatte ihm geglaubt und diesen großen Mann geliebt, wie es nur kleine Mädchen tun können bis sie entdecken, dass der eigene Vater nur selten zum Vorbild und Idol taugt. Die Bäume waren ihr gerade herzlich egal. Der Typ rannte jetzt auch, und sie hatte das grauenhafte Gefühl, dass er aufholte. Warum nur hatte sie sich nicht in den Eingang des ersten Hauses geflüchtet und dort alle Klingelknöpfe gedrückt? Die meisten Menschen waren auf sich selbst konzentriert, aber irgendwer hätte doch sicher den Türöffner betätigt. Aber wäre das schnell genug gegangen, um ihm zu entkommen?
Egal. Diese Chance war vorbei, denn jetzt war sie bereits in dem Bereich der Straße, die sie für sich immer die gefährliche Zone nannte. Jetzt waren nämlich auch links keine Häuser mehr. Man hatte sie abgerissen, nachdem es vor zwei Jahren gebrannt hatte. Erst ganz da vorne stand noch eines. Dort wohnte sie. Aber dieser Rettungsanker schien sehr weit entfernt. Und er war wieder näher gekommen. Sie rannte schneller und verfluchte die hohen Absätze. Sie durfte nicht stolpern oder gar fallen. Noch gut hundert Meter bis zu ihrem Hauseingang.
Der Blitz bevorzugt unversehrte Bäume, aber wie war das mit Vergewaltigern? Sie hatte keine Erinnerungen mehr an jene Nacht vor über sechs Jahren, als sie ihm begegnet war. Eben war sie noch Tanzen gewesen, und alles war Spaß. Die blöde Tusse aus ihrer Klasse, die ausgerechnet dasselbe Top tragen musste wie sie war das Hauptproblem des Abends gewesen. Dann war er aus dem Gebüsch gekommen und hatte sie in dasselbe gezogen. Ein Messer glitzerte an ihrem Hals. Der Typ damals hatte kein Wort gesagt, und dann ein Seil hervorgezogen. Mit Schlinge. Bis heute hatte sie keine Erinnerung daran, was dann passiert war.
Hektisch kramte sie nach dem Schlüssel in ihrer Jackentasche. Fast wäre sie eben ausgerutscht auf dem nassen Boden mit dem Laub vom letzten Herbst. Ihr Körper protestierte gegen die ungewohnte Anstrengung und sie hörte ihr eigenes Keuchen. Und noch ein anderes. Er war hinter ihr. Nicht umdrehen, einfach weiter rennen und nicht den Schlüssel verlieren.
Nach fast zwei Wochen im Koma war sie danach in der Klinik aufgewacht. Sie erfuhr, dass er sie stranguliert und nur von ihr abgelassen hatte, weil er sie für tot hielt. Ihr Kehlkopf war fast zerstört worden, ebenso mehrere Rippen gebrochen, als er sie missbraucht hatte. Es hatte Monate gedauert bis sie wieder sprechen konnte und bis zum heutigen Tag war ihre Stimme nie mehr dieselbe geworden. Seltsam heiser. Und selbst im Sommer trug sie ein leichtes Seidentuch um den Hals, als wäre dort eine nach außen sichtbare Narbe. Nach einem halben Jahr verheilten die körperlichen Verletzungen. Die anderen waren schlimmer und ungleich tiefer.
Sie hatte das Haus schon fast erreicht, als es doch noch passierte. In der Hektik rutschte ihr der Schlüssel aus den Fingern und landete klirrend auf dem Asphalt, von wo er auf die Straße rollte. Dieser Anblick schockierte sie so, dass sie einfach stehen blieb. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf das Metall am Boden, gänzlich unfähig, sich endlich wieder in Bewegung zu setzen. Wie das Kaninchen vor der Schlange, dachte sie noch, und dann war er bei ihr.
Ihre Seele dachte damals gar nicht daran, zu heilen. Mit sechzehn Jahren schlief sie wieder im Zimmer ihrer Eltern, weil es ihr völlig undenkbar erschien, eine ganze lange Nacht alleine zu verbringen. Dinge wie Diskos, Jungs wirkten plötzlich nicht mehr spannend, sondern bedrohlich. Und sehr genau hatte sie registriert, wie das Umfeld langsam die Geduld mit ihr verloren hatte. Das Leben musste ja weitergehen! Und so schlimm das auch war, was da passiert ist, jetzt ist es doch mal wieder gut mit der Angst. Speziell ihr Vater dachte ähnlich, auch wenn er es nie direkt ausgesprochen hatte. Mit der Psychologin, die man ihr verordnet hatte, kam sie ebenfalls nicht klar. Und dann starben, kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag, ihre Eltern. Völlig überraschend bei einem Autounfall, nachdem ein suizidaler Geisterfahrer auf der Suche nach Frieden frontal in sie hinein geknallt war. Ein weiterer Schock, aber seltsamerweise einer, der ihr half, einen Weg zu finden, mit all dem Erlebten umzugehen und weiter zu leben.
Leben! Leben! Das wollte sie jetzt auch, als der Typ sie packte und ins Gebüsch zog. Sie versuchte, zu schreien, aber das ließ ihre ramponierte Stimme nicht zu. Heraus kam nur ein Krächzen, welches den Kerl eher zu amüsieren schien. Er warf sie zu Boden und setzte sich sogleich auf sie. Schwer und bedrohlich. Sie strampelte und wollte sich wehren, als sie das lange Messer in seiner Hand sah. Keine Schlinge, dachte sie noch und versuchte erneut, ihre Stimmbänder ein einziges Mal dazu zu bringen, zu schreien.
Mit dröhnenden Kopfschmerzen erwachte sie und presste die Augen sofort wieder zusammen. Sie war klitschnass. Wie nach jedem Albtraum. The same procedure as every time. Und der Alkohol schien die Dämonen in ihrem Kopf keineswegs zu betäuben, sondern eher noch anzuregen. Es war ein Fluch mit dem Unterbewusstsein. Einmal Opfer – immer Opfer. Und dabei war es ungefähr so berechenbar wie die Bildzeitung, wenn es um soziale Gerechtigkeit ging.
Jetzt brauchte sie einen starken Kaffee. Das Einzige, was dem Schmerz in der Schläfe jetzt noch Einhalt gebieten konnte. Ächzend schälte sie sich aus dem Bett und ging in die Küche. Die Kaffeepads waren auch bald alle. Als sie das schwarze Gebräu vorsichtig ihre Lippen passieren ließ, spürte sie wie die Lebensgeister in sie zurück kehrten. Das war auch gut so, denn ein arbeitsreiches Wochenende lag vor ihr. Mit der Tasse in der Hand ging sie ins Wohnzimmer des kleinen, abgelegenen Hauses, das sie von ihren Eltern geerbt hatte. Da lag er noch immer auf dem Teppich. Groß, kräftig und wunderschön tot. Gerd? Bert? Wie hatte er noch gleich geheißen? Gestern Abend hatte er sich vorgestellt, und sie erinnerte sich noch an ihr breites Grinsen aufgrund seines Vornamens, der für sie zwischen alt und spießig pendelte. Egal.
Hübsch sah er aus. Ganz am Anfang, als sie diese etwas eigene Therapie für sich und ihr Leben entdeckt hatte, war das noch anders gewesen. Da hatte sie die Männer nach der Betäubung noch mit einem Seil erdrosselt. Das war anstrengend gewesen, und sie mochte es nicht, wenn die Herren entstellt waren. Dann aber hatte sie gelesen, dass man mit der guten alten Tante Chloroform nicht nur betäuben, sondern auch töten konnte. Und ihr Vater hatte als gelernter Chemiker einen großen Vorrat zuhause in seinem Hobbyraum gehabt. Gut gelagert war das Zeug sehr lange haltbar, und wie gut es noch immer wirkte, hatte man letzte Nacht wieder gesehen.
Niemals sprach sie einen Mann an, wenn sie mit knappem Rock und dem Blick einer Femme fatale einmal im Monat auf die Jagd ging. Sich selbst ein Opfer suchen – das machten nur Monster. Nein, sie ließ den Herren die freie Entscheidung, sie anzusprechen, genauso wie es deren freier Wille war, sich noch auf einen Absacker zu ihr zu begeben.
Es war falsch von ihr gewesen, damals alleine von der Disko nach Hause zu gehen. Aber wir alle treffen oft falsche Entscheidungen. Sie gehören zum Leben und zum Sterben.
Süß sah er aus. Sie lächelte und seufzte kurz auf, als sie in die Abstellkammer ging, um die Knochensäge und das andere Werkzeug zu holen. Es würde wieder eines dieser anstrengenden Wochenenden werden.